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Krankentagegeldversicherung – Abgrenzung Arbeitsunfähigkeit von Berufsunfähigkeit

Arbeitsunfähigkeit durch Mobbing: Kein Grund für Kündigung der Krankentagegeldversicherung, urteilt OLG Schleswig-Holstein

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hat in einem bemerkenswerten Fall entschieden, dass Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen, die durch Mobbing am Arbeitsplatz verursacht wurden, nicht automatisch zur Beendigung einer Krankentagegeldversicherung führt. Der Kläger, der seit 1989 in der Verwaltung tätig war und zuletzt als Leiter der Finanzabteilung fungierte, wurde aufgrund von Mobbing und Konflikten am Arbeitsplatz arbeitsunfähig. Die Versicherung wollte daraufhin die Krankentagegeldversicherung beenden, da sie die Arbeitsunfähigkeit als Berufsunfähigkeit interpretierte. Das Gericht sah dies jedoch anders.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 16 U 112/22  >>>

Die Bedeutung des Versicherungsfalls

Krankentagegeldversicherung - Abgrenzung Arbeitsunfähigkeit von Berufsunfähigkeit
Arbeitsunfähigkeit durch Mobbing: Unterschied zwischen Berufs- und Arbeitsunfähigkeit klargestellt. Ein Sieg für Gerechtigkeit und Versicherungsnehmer. (Symbolfoto: Jacob Lund /Shutterstock.com)

Das Gericht stellte klar, dass die Arbeitsunfähigkeit des Klägers nicht gleichzusetzen ist mit Berufsunfähigkeit, die zur Beendigung der Krankentagegeldversicherung führen würde. Die Versicherung hatte argumentiert, dass der Kläger aufgrund des Entlassungsberichts aus einer Rehabilitationsklinik berufsunfähig sei. Das Gericht wies jedoch darauf hin, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in seiner letzten beruflichen Tätigkeit voll leistungsfähig sei. Daher könne nicht von einer Berufsunfähigkeit gesprochen werden.

Die Rolle der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB)

Die AVB des Versicherungsvertrags definierten Arbeitsunfähigkeit als Zustand, in dem die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann. Berufsunfähigkeit liegt laut den AVB vor, wenn die versicherte Person mehr als 50% erwerbsunfähig ist. Das Gericht fand, dass der Kläger nicht die Kriterien für Berufsunfähigkeit erfüllte, da er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt voll leistungsfähig war.

Die finanziellen Aspekte des Urteils

Das Gericht verurteilte die Versicherung, dem Kläger 4.598,89 € nebst Zinsen zu zahlen. Dieser Betrag repräsentiert das Krankentagegeld, das dem Kläger zusteht. Darüber hinaus wurde die Versicherung verurteilt, die Kosten für die außergerichtliche Rechtsverfolgung in Höhe von 1.437,70 € zu übernehmen.

Die Auswirkungen auf zukünftige Fälle

Dieses Urteil könnte weitreichende Auswirkungen auf ähnliche Fälle haben, in denen Versicherungsnehmer aufgrund von Mobbing oder anderen psychischen Belastungen am Arbeitsplatz arbeitsunfähig werden. Es stellt klar, dass Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit zwei verschiedene Dinge sind und dass Versicherungen nicht einfach die Krankentagegeldversicherung beenden können, wenn jemand aufgrund von Mobbing arbeitsunfähig wird.

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Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hat kürzlich entschieden, dass Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen wie Mobbing nicht automatisch zu einer Berufsunfähigkeit führt, die Ihre Krankentagegeldversicherung beenden könnte. Die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Berufsunfähigkeit ist entscheidend für Ihren Anspruch auf Krankentagegeld und kann komplizierte rechtliche Fragen aufwerfen. Als Fachanwalt für Versicherungsrecht biete ich Ihnen eine fundierte Ersteinschätzung Ihrer Situation an. Gemeinsam können wir dann die nächsten Schritte planen, um sicherzustellen, dass Ihre Rechte gewahrt bleiben. Zögern Sie nicht, Kontakt aufzunehmen.

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Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 16 U 112/22 – Urteil vom 20.03.2023

Leitsatz

1. Eine bestehende Arbeitsunfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung aufgrund besonderer Umstände am Arbeitsplatz (Mobbing) begründet keine zur Beendigung der Krankentagegeldversicherung führende Berufsunfähigkeit, wenn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie für die letzte Arbeitstätigkeit die volle Leistungsfähigkeit gegeben ist.

2. Das zugrunde zu legende Verständnis des Versicherungsfalls in der Krankentagegeldversicherung bedeutet trotz der Maßgeblichkeit der konkreten Ausprägung der beruflichen Tätigkeit keine (ungerechtfertigte) Gleichsetzung dieses Begriffs mit dem des Arbeitsplatzes.

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Flensburg vom 25. Mai 2022 unter Zurückweisung der Berufung im übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass das Versicherungsverhältnis (Versicherungsnr. KV …) zwischen den Parteien über das Krankentagegeld im Tarif … nicht zum 28. August 2020 endete, sondern zu unveränderten Konditionen fortbesteht.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.598,89 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27. Oktober 2020 zu zahlen.

Die Beklagte wird verurteilt, zu Händen der Prozessbevollmächtigten des Klägers 1.437,70 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13. August 2020 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz werden gegeneinander aufgehoben. Die Kosten der Berufung trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten Leistungen aus einer Krankentagegeldversicherung und daneben die Feststellung, dass der Versicherungsvertrag unverändert fortbesteht.

Der 1960 geborene Kläger unterhält bei der Beklagten eine private Krankenversicherung, verbunden mit einer Krankentagegeldversicherung (Tarif …) mit einem versicherten Krankentagegeld von 165,- € ab dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit. In den Vertrag wurden die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB), die den Musterbedingungen MB/KT 2009 des Verbandes der privaten Krankenversicherung entsprechen, einbezogen.

§ 1 AVB (Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes lautet auszugsweise:

„1. Der Versicherer bietet Versicherungsschutz gegen Verdienstausfall als Folge von Krankheiten oder Unfällen, soweit dadurch Arbeitsunfähigkeit verursacht wird. Er zahlt im Versicherungsfall für die Dauer einer Arbeitsunfähigkeit ein Krankentagegeld in vertraglichem Umfang.

2. Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen, in deren Verlauf Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird. (…)

3. Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen liegt vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht.“

§ 15 Nr. 1 lit. b AVB bestimmt, dass das Versicherungsverhältnis unter anderem im folgenden Fall endet:

„mit Eintritt der Berufsunfähigkeit. Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person nach medizinischem Befund im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit mehr als 50% erwerbsunfähig ist. Besteht jedoch zu diesem Zeitpunkt in einem bereits eingetretenen Versicherungsfall Arbeitsunfähigkeit, so endet das Versicherungsverhältnis nicht vor dem Zeitpunkt, bis zu dem der Versicherer seine im Tarif aufgeführten Leistungen für diese Arbeitsunfähigkeit zu erbringen hat, spätestens aber drei Monate nach Eintritt der Berufsunfähigkeit; (…)“.

Der Kläger ist seit 1989 in der Verwaltung des X bzw. des Rechtsvorgängers beschäftigt. Ab dem Jahr 2009 war er Leiter der Finanzabteilung; die von ihm dabei ausgeübten Tätigkeiten hat er in einem Fragebogen der Beklagten, auf dessen Inhalt (Bl. 99-102 GA) in Bezug genommen wird, näher beschrieben. Der Kläger war zuständig für die Finanzen der Y und des X, die Erstellung des Haushaltsplanes und dessen Vorstellung in den … Gremien sowie die Ausführung und Überwachung des Haushaltsplanes, des Weiteren für die Erstellung des Jahresabschlusses und der mittelfristigen Finanzplanung, für die Beratung der Gremien und …, Y und Einrichtungen.

Infolge einer personellen Erweiterung seiner Abteilung kam es zu einer Überlastungssituation für den Kläger, weshalb er im Jahr 2015 seine Überlastung anzeigte. Hiernach kam es zu Konflikten am Arbeitsplatz. Der Kläger bemühte sich um eine Umsetzung, wobei er insbesondere darum bat, nicht seiner Nachfolgerin als Abteilungsleiterin unterstellt zu werden. Dies geschah jedoch, als der Kläger zum 1. Juli 2017 eine neue Funktion übernahm und Leiter der strategischen Finanzplanung wurde. Das Arbeitsklima gestaltete sich weiterhin schwierig. Der Kläger fühlte sich gemobbt. Vor diesem Hintergrund war er ab dem 27. Mai 2019 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Nach Ablauf der Karenztage nahm die Beklagte die Zahlung von Krankengeld auf.

In der Zeit vom 12. März bis zum 16. April 2020 war der Kläger zur Rehabilitation in der Schön-Klinik in Bad Bramstedt, wo unter anderem eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert wurde. Im Entlassungsbericht vom 22. April 2020 (Anlage 2 zur Klageschrift, Bl. 10-20 GA), auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, wurde zum Leistungsvermögen des Klägers angegeben, dass dieser leistungsunfähig für den letzten Arbeitsplatz sei und die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nur noch in einem Umfang von weniger als drei Stunden ausüben könne. Ausschlaggebend hierfür seien unlösbare Vorgesetztenkonflikte. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie für die letzte Arbeitstätigkeit bestehe volle Leistungsfähigkeit.

Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 29. Mai 2020 (Anlage 3 zur Klageschrift, Bl. 21/22 GA) mit, dass die Krankentagegeldversicherung am 28. August 2020 ende, da er ausweislich des Entlassungsberichts berufsunfähig sei. Bisher erworbene Rechte der Krankentagegeldversicherung könnten durch die Beantragung einer Anwartschaftsversicherung für die Zukunft erhalten werden.

Mit E-Mail vom 8. Juni 2020 (Anlage 5 zur Klageschrift, Bl. 27 GA) widersprach der Kläger dem Schreiben vom 29. Mai 2020 und der bekannt gegebenen Vertragsänderung. Seine daraufhin beauftragte Prozessbevollmächtigte begründete am 23. Juni 2020 den Widerspruch und forderte die Beklagte auf, die unveränderte Fortsetzung des Krankentagegeldversicherungsvertrags zu bestätigen. Die Beklagte hielt an ihrer Rechtsauffassung fest und stellte ab dem 29. August 2020 die Zahlung von Krankentagegeld ein. Versicherungsprämien wurden von ihr bis zum 28. August 2020 berechnet und vom Konto des Klägers eingezogen.

Der Kläger war noch bis einschließlich 30. September 2020 arbeitsunfähig krankgeschrieben (Bl. 66 GA). Zum 1. Oktober 2020 nahm er innerhalb des X eine neue Aufgabe in der Funktion eines Regionalmanagers für die Region VII / die … auf.

Für die außergerichtliche Rechtsverfolgung stellte die Klägervertreterin 1.437,70 € (1,3 Geschäftsgebühr bei einem Gegenstandswert von 30.112,50 € zzgl. Post- und Telekommunikationspauschale von 20,- € und 19 % Mehrwertsteuer) in Rechnung.

Mit der am 12. August 2020 (Bl. 36R GA) zugestellten Klage hat der Kläger zunächst neben der Feststellung, dass das Versicherungsverhältnis über das Krankentagegeld nicht zum 28. August 2020 enden werde, sondern zu unveränderten Konditionen fortbestehe (Antrag zu 1), die Feststellung begehrt, dass die Beklagte nicht mit Ablauf des 28. August 2020 leistungsfrei werde, sondern verurteilt werde, dem Kläger über diesen Zeitpunkt hinaus Krankentagegeld in Höhe von 165,- € kalendertäglich für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit zu zahlen (Antrag zu 2). Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2020 (Bl. 62 GA, dem Beklagtenvertreter zugestellt am 26. Oktober 2020, Bl. 80 GA) hat der Kläger seinen ursprünglichen Antrag zu 2 teilweise für erledigt erklärt und stattdessen beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 5.445,- € (= 165,- € x 33 Tage) nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit zu verurteilen. Daneben hat er die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten begehrt. Er hat behauptet, er sei, entsprechend der ärztlichen Bescheinigung, in der Zeit vom 29. August bis einschließlich 30. September 2020 noch arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Er hat die Auffassung vertreten, der Versicherungsvertrag bestehe weiterhin fort, weil er – entgegen der Bewertung der Beklagten – nicht berufsunfähig sei. Aufgrund der Probleme mit seinen Kollegen habe er die Tätigkeit an dem ihm bis zum 30. September 2020 zugewiesenen Arbeitsplatz nicht ausüben können, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in seinem Beruf als Verwaltungsangestellter sei er jedoch voll leistungsfähig gewesen. Damit liege keine Berufsunfähigkeit, sondern nur eine Arbeitsunfähigkeit vor. Die Beklagte sei daher verpflichtet, ihm auch für die Zeit vom 29. August bis einschließlich 30. September 2020 Krankentagegeld zu zahlen.

Die Beklagte hat der teilweisen Erledigungserklärung widersprochen und Klageabweisung beantragt. Der ursprüngliche Antrag auf künftige Zahlung des Krankentagegeldes sei bereits unzulässig gewesen, weil die Voraussetzungen der §§ 257 bis 259 ZPO nicht vorgelegen hätten. Jedenfalls aber seien die Anträge allesamt unbegründet, weil – so hat die Beklagte behauptet – beim Kläger am 22. April 2020 Berufsunfähigkeit eingetreten sei. Für die Frage der Berufsunfähigkeit sei ausschließlich auf die zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit abzustellen, Möglichkeiten der Umorganisation seien unerheblich. Für den Fall, dass der Kläger in der Zeit vom 29. August 2020 bis zum 30. September 2020 entgegen ihrer Beurteilung arbeitsunfähig gewesen sein sollte und sie deshalb in diesem Zeitraum noch Krankengeld an den Kläger zahlen müsste, sei zu berücksichtigen, dass der Kläger dann noch Versicherungsbeiträge bis April 2021 in Höhe von insgesamt 846,11 € (323,61 € bis zum 30. November 2020 und weitere 522,50 € für die Monate Dezember 2020 bis April 2021) an die Beklagte nachzahlen müsste. Mit diesem Betrag hat sie daher hilfsweise die Aufrechnung erklärt.

Das Landgericht hat gemäß Beweisbeschluss vom 9. April 2021 (Bl. 123-125 GA) Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. H1 über die Behauptung der Beklagten, der Kläger sei ab dem 29. August 2020 berufsunfähig gewesen, und über die Behauptung des Klägers, er sei in dieser Zeit arbeitsunfähig gewesen. Auf das schriftliche Gutachten vom 17. Oktober 2021 und die Erläuterungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2022 (Sitzungsprotokoll, Bl. 224 GA) wird Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen von § 15 Nr. 1 lit. b AVB – der im Übrigen wegen der Möglichkeit einer Anwartschaftsversicherung keine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers darstelle, mithin mit Blick auf § 307 BGB wirksam sei – lägen vor. Hinsichtlich der Berufsunfähigkeit komme es auf die zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit an. Maßstab für die Erwerbsunfähigkeit des Klägers sei dessen konkreter Arbeitsplatz, so wie er ihn vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit wahrgenommen habe. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass der Kläger ohne die Umsetzung zum 1. Oktober 2020 und die dadurch bedingte Änderung der Mitarbeiter seine berufliche Tätigkeit am alten Arbeitsplatz nicht wieder habe aufnehmen können und daher im Sinne der Bedingungen der Krankentagegeldversicherung ab dem 20. April 2020 berufsunfähig gewesen sei. Das Versicherungsverhältnis habe nach § 15 Nr. 1b) AVB geendet. Die Beklagte habe sogar über den geschuldeten Zeitraum von drei Monaten hinaus noch bis zum 28. August 2020 Krankentagegeld entrichtet.

Gegen das Urteil wendet sich der Kläger mit der Berufung. Zu Unrecht habe das Landgericht eine Berufsunfähigkeit des Klägers festgestellt. In Bezug auf die Berufsunfähigkeit sei nicht auf den Arbeitsplatz, sondern auf die Tätigkeit abzustellen. In unzulässiger Weise habe das Gericht Arbeitsunfähigkeit mit Berufsunfähigkeit gleichgesetzt. Die Beklagte sei letztlich beweisfällig geblieben.

Der Kläger beantragt, – unter Abänderung des angefochtenen Urteils –

1. festzustellen, dass das Versicherungsverhältnis (Versicherungsnr. KV …) der Parteien über das Krankentagegeld im Tarif … nicht zum 28. August 2020 endete, sondern zu unveränderten Konditionen fortbesteht.

2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 5.445,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

3. die Beklagte zu verurteilen, zu Händen seiner Prozessbevollmächtigten 1.437,70 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil als sachlich und rechtlich richtig. Es sei zutreffend, hinsichtlich der Frage der Berufsunfähigkeit nicht auf die abstrakten Inhalte der Tätigkeit, sondern als Maßstab auf die zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit – am konkreten Arbeitsplatz – abzustellen. Letztere habe der Kläger nicht nur vorübergehend nicht ausüben können.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache ganz überwiegend Erfolg, § 513 Abs. 1 ZPO.

Die Krankentagegeldversicherung des Klägers endete nicht wegen Eintritts von Berufsunfähigkeit. Der Kläger war bis einschließlich zum 30. September 2020 arbeitsunfähig und hat dementsprechend einen Anspruch auf weitere Krankentagesgeldzahlungen abzüglich der hilfsweise zur Aufrechnung gestellten Beitragsforderungen der Beklagten.

A.

Die Krankentagegeldversicherung endete nicht zum 20. April 2020. Die Beklagte hat die Berufsunfähigkeit des Klägers im Sinne der Versicherungsbedingungen zu diesem Zeitpunkt nicht bewiesen.

1. Gemäß § 15 Nr. 1 lit. b AVB liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person nach medizinischem Befund im bisher ausgeübten Beruf auf nicht absehbare Zeit mehr als 50 % erwerbsunfähig ist. Für die Prognose kommt es ggf. rückschauend, aber aus der ex ante-Perspektive auf den Zeitpunkt an, für den der Versicherer das Ende seiner Leistungspflicht behauptet (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2010 – IV ZR 163/09, juris, Rn. 31; Neuhaus, r + s 2012, 162, 163), wobei unerheblich ist, ob die Prognose zutreffend war oder der Versicherungsnehmer später doch wieder arbeiten kann (Neuhaus a. a. O.).

Bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit in § 15 Nr. 1 lit. b MB/KT ist nach dem maßgebenden Verständnis des durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Versicherungsnehmers die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit der versicherten Person in ihrer konkreten Ausprägung maßgeblich. Denn der durchschnittliche Versicherungsnehmer versteht unter dem „bisher ausgeübten Beruf“ im Sinne von § 15 Nr. 1 lit. b AVB dasselbe wie unter dem Begriff der „beruflichen Tätigkeit“, die die versicherte Person nach § 1 Abs. 3 MB/KT vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, um arbeitsunfähig zu sein (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – IV ZR 422/15, juris, Rn. 12). Maßstab im letztgenannten Sinne ist der bisherige Beruf in seiner konkreten Ausprägung, so dass auch eine durch besondere Umstände an dem Arbeitsplatz wie eine tatsächliche oder als solche empfundene Mobbingsituation bedingte psychische und/oder physische Erkrankung zu einer Arbeitsunfähigkeit führen kann (BGH, Urteil vom 9. März 2011 – IV ZR 52/08, juris, Rn. 14). Dies hat zur Folge, dass im Rahmen der Beurteilung einer Berufsunfähigkeit des Versicherungsnehmers nach § 15 Nr. 1 lit. b AVB nur die Tätigkeiten zur Berufsausübung gehören, die dem Berufsbild entsprechen, das sich aus der bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit konkret ausgeübten Tätigkeit der versicherten Person ergibt. Die berufliche Tätigkeit des Versicherungsnehmers als solche bestimmt sich mithin nicht nach dem allgemeinen Berufsbild (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – IV ZR 422/15, juris, Rn. 13 m. w. N.).

Das zugrundezulegende Verständnis des Versicherungsfalls in der Krankentagegeldversicherung bedeutet trotz der Maßgeblichkeit der konkreten Ausprägung der beruflichen Tätigkeit aber keine (ungerechtfertigte) Gleichsetzung des Begriffs der beruflichen Tätigkeit mit dem des Arbeitsplatzes (BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2016 – IV ZR 422/15, juris, Rn. 14). Die Unfähigkeit, der konkreten Tätigkeit am Arbeitsplatz nachzugehen, bedingt daher nicht zwangsläufig eine Berufsunfähigkeit im Sinne von § 15 Nr. 1 lit. b MK/KK, wie aber die Beklagte zu meinen scheint.

2. Der sich negativ auf die geistige und körperliche Gesundheit des Klägers auswirkende Arbeitsplatzkonflikt, der nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. H1 zu seiner Arbeitsunfähigkeit führte, hinderte den Kläger nicht generell, seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Tatsächlich konnte er die entsprechende berufliche Tätigkeit nach den gutachterlichen Feststellungen zu jeder Zeit ausüben.

Der Kläger befand sich zwar unstreitig wegen Depressionen in medizinischer Heilbehandlung und war seit Mai 2019 deswegen arbeitsunfähig krankgeschrieben. Der Sachverständigen Dr. H1 hat festgestellt, dass es sich bei der Erkrankung des Klägers um eine mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom gehandelt hat, die durch einen Arbeitsplatzkonflikt ausgelöst wurde. Entgegen der in der Schön-Klinik (Entlassungsbericht vom 16. April 2020, Anlage 2 zur Klagschrift Bl. 9 ff GA) angenommenen Diagnose (wiederkehrende depressive Störung, ICD-10, F33), habe lediglich eine mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10, F32.11) vorgelegen (schriftliches Gutachten, S. 23/24). Nach den Ausführungen des Sachverständigen hat der Kläger alle Tätigkeiten, die er als Leiter der strategischen Finanzplanung habe ausführen müssen, grundsätzlich uneingeschränkt leisten können. Aus medizinischen Gründen habe er seinen Aufgaben grundsätzlich uneingeschränkt nachgehen können. Die Wiederaufnahme der konkreten Tätigkeit sei lediglich durch die psychische Erkrankung aufgrund der besonderen Umstände an dem Arbeitsplatz, konkret durch den Arbeitsplatzkonflikt, den der Kläger als gegen sich gerichtetes Mobbing empfunden habe, verhindert worden. Daher sei er zwar gehindert gewesen, an den Arbeitsplatz zurückzukehren, aber nicht, der beruflichen Tätigkeit an sich nachzukommen. Der Kläger habe seine Aufgaben bei jedem anderen …, d.h. mit anderen Mitarbeitern und Vorgesetzten, erfüllen können. Lediglich wegen der Gefahr der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, wenn er sich dem bisherigen Umfeld wieder ausgesetzt gesehen hätte, sei er über den 28. August hinaus bis zum 30. September 2020 arbeitsunfähig gewesen.

Seine überzeugenden Ausführungen in dem schriftlichen Gutachten vom 17. Oktober 2021 hat der Sachverständige Dr. H1 im Rahmen seiner ergänzenden Anhörung am 4. Mai 2022 vor dem Landgericht nochmals bekräftigt, indem er erläutert hat, dass bei dem Kläger nicht die Fähigkeiten zu seiner beruflichen Tätigkeit eingeschränkt gewesen seien, sondern lediglich die Möglichkeit zur Tätigkeit in dem vorhandenen Umfeld unter den gegebenen atmosphärischen Umständen (Sitzungsprotokoll, Bl. 224 GA). Hiernach steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger für den streitgegenständlichen Zeitraum zwar vollständig arbeitsunfähig im Sinne der Versicherungsbedingungen war, weil er aufgrund der atmosphärischen Störungen im Arbeitsplatzumfeld nicht wieder an seinem damaligen Arbeitsplatz tätig werden konnte, ihm aber die Ausführung der beruflichen Tätigkeiten selbst an jedem anderen Arbeitsplatz möglich gewesen wäre, weshalb es nicht berufsunfähig im Sinne von § 15 Nr. 1 lit. b AVB war.

Dies deckt sich auch mit den Ausführungen im Entlassungsbericht der Schön-Klinik. Auch dort war man bereits am 16. April 2020 zu dem Ergebnis gelangt, dass im Falle einer innerbetrieblichen Versetzung nur noch eine kurzfristige Arbeitsunfähigkeit wegen depressiver Restsymptome, insbesondere Schuldgrübeln, Verletzungssensitivität und reduzierter Konzentrationsfähigkeit bestehen würde. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie für die letzte Arbeitstätigkeit (Verwaltungsangestellter) sei die volle Leistungsfähigkeit gegeben (Anlage 2 zur Klagschrift, Bl. 11 GA).

B.

Der Kläger kann von der Beklagten die Zahlung von 4.598,89 € nebst Zinsen aus der fortbestehenden Krankentagegeldversicherung verlangen.

Der Kläger war in der Zeit vom 29. August 2020 bis zum 30. September 2020 arbeitsunfähig und kann daher von der Beklagten Krankentagegeld aus dem Versicherungsvertrag in Verbindung mit § 1 Nr. 2, Nr. 3 AVB beanspruchen, wobei hiervon die offenen Beiträge zur Krankentagegeldversicherung in Höhe von 846,11 €, mit denen die Beklagte hilfsweise für den Fall ihres Unterliegens im Prozess die Aufrechung erklärt hat, abzuziehen sind.

1. Der Kläger ist auch nach dem 28. August 2020 arbeitsunfähig im Sinne von § 1 Nr. 3 AVB gewesen.

Nach § 1 Abs. 3 AVB liegt Arbeitsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person ihre berufliche Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Wie bereits ausgeführt, ist für die Prüfung auf den Beruf des Versicherungsnehmers in seiner konkreten Ausprägung abzustellen. Ob der Versicherungsnehmer noch andere Tätigkeiten ausüben könnte ist daher unerheblich, weshalb der Versicherer ihn auch nicht auf eine Tätigkeit in einem Vergleichsberuf verweisen kann. Arbeitsunfähigkeit besteht jedoch bereits dann nicht, wenn der Versicherte gesundheitlich zu einer – wenn auch nur eingeschränkten – Tätigkeit in seinem bisherigen Beruf imstande geblieben sein sollte. Ob der Versicherte seinem Beruf nicht mehr in der bisherigen Ausgestaltung nachgehen kann, ist durch einen Vergleich der Leistungsfähigkeit, die für die bis zur Erkrankung konkret ausgeübte Tätigkeit erforderlich ist, mit der noch verbliebenen Leistungsfähigkeit festzustellen (BGH, Urteil vom 20. Mai 2009 – IV ZR 274/06, juris, Rn. 11; BGH, Urteil vom 9. März 2011 – IV ZR 52/08, juris, Rn. 13).

2. An diesem Maßstab gemessen war der Kläger in der Zeit vom 29. August bis zum 30. September 2020 arbeitsunfähig. Infolge der Ausführungen des Sachverständigen Dr. H1 steht für den Senat – wie ausgeführt – fest, dass der Kläger an einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischem Syndrom litt. Die Erkrankung hat es dem Kläger unmöglich gemacht, seiner konkreten beruflichen Tätigkeit in irgendeiner Weise nachgehen zu können. Zu einem Abklingen der Erkrankung ist es erst durch seine vollständige Herausnahme aus der Tätigkeit durch die Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit und die später erfolgte innerbetriebliche Umsetzung gekommen. Da an der Arbeitsstelle weiterhin die früheren Vorgesetzten und Kollegen tätig waren, war es dem Kläger nicht möglich, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.

3. Auch die weiteren Voraussetzungen des Anspruchs auf Krankentagegeld sind erfüllt. Gemäß § 1 Nr. 2 AVB muss neben der medizinisch notwendigen Heilbehandlung eine in deren Verlauf ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit vorliegen. Dies war bei dem Kläger unstreitig der Fall.

4. Der Höhe nach kann der Kläger von der Beklagten die Zahlung des vereinbarten Krankentagegeldes von 165,- € für weitere 33 Tage, mithin insgesamt 5.445,- € verlangen.

Aufgrund der hilfsweise erklärten Prozessaufrechnung waren von diesem Betrag jedoch die Versicherungsprämien in Höhe von 846,11 €, die der Kläger bei Fortbestehen des Versicherungsvertrages hätte zahlen müssen und mit denen die Beklagte die Aufrechnung für den Fall der Begründetheit der Klage erklärt hat, in Abzug zu bringen, § 389 BGB.

Der Zinsanspruch folgt aus den §§ 291, 288 BGB.

C.

Der Kläger kann auch die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verlangen. Indem die Beklagte mit Schreiben vom 29. Mai 2020 (Anlage 3 zur Klagschrift, Bl. 21 GA) zu Unrecht die Beendigung der Krankentagegeldversicherung festgestellt und die Zahlung des Krankentagegeldes zum 28. August 2020 eingestellt hat, hat sie ihre Pflichten aus dem Vertragsverhältnis fahrlässig verletzt, § 280 Abs. .1 BGB. Der Entlassungsbericht hat keinen Anhalt für ihre Annahme enthalten, der Kläger sei berufsunfähig im Sinne von § 15 AVB. Der von der Klägervertreterin in Rechnung gestellte Betrag von 1.437,70 € ist zu erstatten.

D.

Die Kostenentscheidung beruht für die erste Instanz auf § 92 Abs. 1 ZPO, wobei sich zugunsten des Klägers die den Streitwert reduzierende Klagänderung vor der ersten mündlichen Vorhandlung ausgewirkt hat. Die Kostenentscheidung für die zweite Instanz ergibt sich aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

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