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Unfallversicherung –  Drei-Jahresfrist für die Feststellung des Invaliditätsgrades

LG Berlin – Az.: 7 O 41/10 – Urteil vom 06.12.2012

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages zzgl. 10 % vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung, in der die AUB 94 einbezogen wurden. Die Invaliditätssumme betrug für den streitgegenständlichen Zeitraum 85.386,- EUR.

Am 2. Juni 2007 erlitt der Kläger einen Motorradunfall. Dabei brach er sich das rechte Handgelenk. Die Beklagte zahlt auf die Unfallentschädigung zunächst einen Vorschuss von 9.392,46 EUR.

Mit Schreiben vom 6. August 2008 (Anlage K 2, Bl. 7 d. A.) berief sich die Beklagte gegenüber dem Kläger hinsichtlich der weiter geltend gemachten Bandscheibenschädigung auf den Versicherungsausschluss nach § 2 III (Abs. 2) AUB 94.

Mit Schreiben vom 30. April 2009 (Anlage B 7) rechnete die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens unter Zugrundelegung eines Armwertes von 2/10 eine noch zu zahlende Leistung von 2.561,58 EUR ab und zahlte diese aus. In diesem Schreiben übte die Beklagte nicht das Recht einer erneuten ärztlichen Bemessung gemäß § 11 IV AUB 94 aus.

Unfallversicherung -  Drei-Jahresfrist für die Feststellung des Invaliditätsgrades
Symbolfoto: Von Chinnapong /Shutterstock.com

Der Kläger behauptet, aufgrund des Unfalles vom 2. Juni 2007 sei bei ihm eine Invalidität von 4/10 Handwert (22%) sowie von weiteren 1/7 wegen des unfallbedingten Bandscheibenvorfalls eingetreten; für den Bandscheibenvorfall sei das Unfallereignis auch die überwiegende Ursache. Infolge des Unfalles leide der Kläger unter erheblichen Schmerzen im rechten Schultergelenk beim Tragen sowie unter Sensibilitätsstörungen. Darüber hinaus habe der Unfall zu Beeinträchtigungen der HWS und zu einem Bandscheibenvorfall geführt.

Der Kläger vertritt die Auffassung, dass maßgebend entsprechend der Erstbemessung der Jahreszeitraum und nicht der Drei-Jahreszeitraum sei.  Das Berufen der Beklagten auf das Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung für den Bandscheibenschaden sei treuwidrig, da sie konkreten Anlass gehabt habe, den Kläger auf diese Frist gesondert hinzuweisen, dies aber nicht getan habe.

Der Kläger beantragt zuletzt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 19.028,88 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zum Bandscheibenschaden rügt die Beklagte u. a. das Fehlen einer fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung. Wenn eine unfallbedingte Invalidität bejaht werden sollte, seien die Rückenbeschwerden jedenfalls deshalb nicht anzusetzen, da sie ausschließlich degenerativer Natur seien.

Gemäß Beweisbeschluss vom 1. Februar 2011 (Bl. 58 d. A.) hat das Landgericht durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens Beweis erhoben, das die zum Sachverständigen bestellte Ärztin Privatdozent Dr. med. …x unter dem 29. November 2011 (Bl. 86 d. A.) erstellt sowie entsprechend der richterlichen Bitte vom 27. Februar 2012 (Bl. 114 d. A.) und vom 18. Juni 2012 (Bl. 131 d. A.) unter dem 13. April 2012 (Bl. 119 d. A.) bzw. dem 3. August 2012 (Bl. 133 d. A.) ergänzt hat. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten nebst Ergänzungen verwiesen.

Wegen der Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf weitere Invaliditätsleistung (§ 7 AUB 94) aus der Unfallversicherung (§ 1 Abs. 1 Satz 2 VVG) nicht zu.

Die vom Kläger beklagte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit im Bereich der Wirbelsäule begründen schon deshalb keinen Anspruch auf weitere Invaliditätsleistung, weil die Beeinträchtigungen im Ergebnis des eingeholten Gutachtens nicht auf dem Unfall beruhen, sondern auf Degeneration beruhen (vgl. Gutachten, Seiten 13 u. 14, Bl. 98 f. d. A.). Auch vom Unfallhergang her (kein Hochrasanzereignis, sondern Unfall bei 30km/h ohne fremde Unfallbeteiligung) und von den klinischen (keine Beschwerden im Bereich von Hals und Schulter) und neurologischen Befunden (keine Ausfälle in diesem Bereich) her, wie sie unmittelbar nach dem Unfall erhoben wurden, ist eine Unfallbedingtheit bzw. unfallbedingte Verschlimmerung vorbestehender Beschwerden auszuschließen, wie die Sachverständige überzeugend dargelegt hat (vgl. Ergänzungsgutachten v. 13.04.2012, Seite 3, Bl. 121 d. A.).

Die vom Kläger beklagte Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit im Bereich der rechten Hand sind lediglich mit 1/7 Handwert zu bemessen, wobei unfallunabhängige Erkrankungen daran mit 1/3 mitwirken (vgl. Gutachten, Seite 15, Bl. 100 d. A.). Dabei sind nach den nicht angegriffenen Feststellungen der Sachverständigen die Veränderungen im Bereich der Handwurzel in Form einer Lunatumzyste (Ganglion eines Handwurzelknochens) sowie eine Arthrose nicht als Unfallfolge zu bewerten, da sie bereits zum Unfallzeitpunkt ausgeprägt waren (vgl. Ergänzungsgutachten v. 13.04.2012, Seite 2, Bl. 134 d. A.). Ein Abstellen nur auf die Funktionsbeeinträchtigung des Handgelenks rechtfertigt daher keinen höheren Invaliditätsgrad.

Die von der Sachverständige vermutete psychische Fehlverarbeitung des Unfalls im Sinne einer rezidivierenden depressiven Störung und eines Burn-out (vgl. Ergänzungsgutachten v. 13.04.2012, Seite 2, Bl. 134 d. A.) begründet ebenfalls keinen höheren Invaliditätsgrad, da es insoweit bereits an einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung fehlt. Zudem wäre die Beeinträchtigung nach § 2 IV AUB 94 vom Versicherungsschutz ausgeschlossen.

Die Kammer hält auch dafür, dass entgegen der Auffassung des Klägers die Drei-Jahresfrist für die Feststellung des Invaliditätsgrades maßgebend ist. Die Kammer bezieht sich zur Begründung auf die Entscheidung des BGH vom 4. Mai 1994 – IV ZR 192/93 – (juris-Rz. 24), dessen Formulierung sie im Beweisbeschluss vom 1. Februar 2011 (Bl. 58 d. A.) übernommen hat:

„Geht ein Versicherungsnehmer bereits vor Ablauf der Neufeststellungsfrist (so im 1990 entschiedenen Fall) gegen die Ablehnung seiner Ansprüche im Klagewege vor, so kann er im Regelfall nicht länger erwarten, sein Versicherer werde dennoch außerprozessual die nur bei entsprechendem Verlangen einer Vertragspartei in den AUB 61 vorgesehene Neufeststellung in die Wege leiten. Vielmehr gehen die Prozeßbeteiligten dann typischerweise davon aus, daß der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozeß ausgetragen werden soll einschließlich etwaiger weiterer Invaliditätsfeststellungen. Für diese Fälle bleibt im Regelfall der in den §§ 13 Abs. 3a und 15 II Abs. 6a Satz 2 AUB 61 getroffenen Regelung damit Rechnung getragen, daß bei der Entscheidung des Gerichts wie in den ihr zugrunde gelegten Begutachtungen des Gesundheitszustandes des Versicherungsnehmers nur Tatsachen Berücksichtigung finden dürfen, die bis zum Ablauf der Drei-Jahres-Frist erkennbar geworden sind. Dem kann der Versicherungsnehmer unter den genannten Umständen nicht mit Erfolg entgegenhalten, die in den AUB 61 vorgesehene Begutachtungsfrist sei ungenutzt abgelaufen, denn hierzu hat gerade er selbst maßgeblich beigetragen.”

Diese Wertung wird auch von der obergerichtlichen Rechtsprechung geteilt, so heißt es zum Beispiel im Urteil des LG München vom 14.12.2004 – 25 U 3320/04 – VersR 2005, 1275, zitiert nach juris):

„Nach höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung, welcher der Senat folgt, gilt im Fall der Klageerhebung vor Ablauf der Neufeststellungsfrist – wie hier – der Grundsatz, dass die Prozessbeteiligten dann typischerweise davon ausgehen, dass der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozess ausgetragen werden soll einschließlich etwaiger weiterer Invaliditätsfeststellungen und insoweit dann der Invaliditätsgrad bis maximal zum Ablauf der Dreijahresfrist maßgeblich ist (BGH VersR 1994, 971). Eines Neufestsetzungsverfahrens bedarf es in diesem Fall für die Berücksichtigung von Änderungen nicht (OLG Hamm VersR 1996, 1402).”

Die Kammer hält diese Fallgruppe hier für einschlägig, da bei Anhängigkeit der Klage (04.01.2009) – nach Ablehnung weiterer Ansprüche – die erst am 2. Juni 2010 ablaufende Dreijahresfrist noch nicht abgelaufen war und daher die „Prozeßbeteiligten dann typischerweise davon ausgehen, daß der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozeß ausgetragen werden soll einschließlich etwaiger weiterer Invaliditätsfeststellungen”, wobei hierzu nur „die Tatsachen Berücksichtigung finden dürfen, die bis zum Ablauf der Drei-Jahres-Frist erkennbar geworden sind”. Dabei ist die Nichtausübung des Nachbemessungsrechts durch die Beklagte zugleich mit deren Erstbemessung (§ 11 IV Satz 2 AUB 94) nach der angeführten BGH-Entscheidung ausdrücklich unerheblich, weil es eines Neufestsetzungsverfahrens nicht bedarf.

Die Regelung des § 188 VVG steht nicht entgegen; ihr Wortlaut entspricht im Wesentlichen den Bedingungen, abgesehen davon ist auf den bereits im Jahre 2007 eingetretenen Versicherungsfall nicht anwendbar, Art. 1 Abs. 2 EGVVG.

Soweit der Kläger zu dieser  bereits im Hinweis vom 24. August 2012 (Bl. 142 d. a.) dargestellten Rechtsauffassung anmerkt, dass nach der Bedingungslage jedenfalls die Beklagte sich nicht mehr auf die Dreijahresfrist berufen kann, weil sie die dazu nötige Rechtsausübung gemäß § 11 IV Satz 2 AUB 94 nicht zugleich mit ihrer Erstbemessung vorgenommen hat, greift auch dieser Einwand nicht durch. Denn die Beklagte hatte für eine entsprechende Rechtsausübung gar keine Veranlassung, wenn sie sich an ihre Erstbemessung gemäß Schreiben vom 9. April 2009 (Anlage B 5) mit 2/10 Handwert auch für den Drei-Jahreszeitraum binden möchte. Der bedingungsgemäß vorgesehene Verlust des Nachbemessungsrechts der Beklagten infolge fehlender Rechtsausübung gemäß § 11 IV Satz 2 AUB 94 kann aus Sicht des redlichen Versicherungsnehmers nur dazu führen, dass die Beklagte nunmehr mit dem Einwand einer Verbesserung gegenüber der Erstbemessung ausgeschlossen ist. Der Verlust kann aber nicht dazu führen, dass die Beklagte, die sich an ihre Erstbemessung festhalten lassen möchte, mit dem Einwand der Heilung auch dann ausgeschlossen ist, wenn die gerichtliche Betrachtung des Ein-Jahreszeitraums zu einem höheren Invaliditätsgrad als die Erstbemessung führen würde. Denn diese Auslegung würde letztlich dazu führen, dass die Beklagte sich stets die Neubemessung vorbehalten müsste, selbst wenn sie das Erstbemessungsergebnis auf Dauer akzeptieren möchte. Der in § 11 IV Satz 2 AUB 94 vorgesehene Rechtsverlust bezieht sich daher zu Lasten der Beklagten nur auf das Recht, im Wege der Neubemessung einen niedrigeren Invaliditätsgrad als den der Erstbemessung geltend zu machen. Daher ist der in § 11 IV Satz 2 AUB 94 geregelte Rechtsverlust im Streitfall gar nicht einschlägig und somit kein Argument, entgegen der angeführten BGH-Rechtsprechung bei Anhängigkeit des Rechtsstreits vor Ablauf des Drei-Jahres-Zeitraums nicht diesen Zeitraum als maßgeblich anzusehen.

Im Übrigen liegt – dies sei nur vorsorglich angemerkt – im Streitfall auch gar nicht nahe, dass das Abstellen auf den Ein-Jahreszeitraum zu einem höheren Invaliditätsgrad als 20% – wie von der Beklagten abgerechnet – führen würde, da die Sachverständige Privatdozent Dr. med. Seifert zum Drei-Jahreszeitraum nur 1/7 Handwert, also eine Invalidität von (1/7 x 55% =) 7,86% ermittelt hatte, also deutlich weniger als die bereits abgerechneten (2/10 vom Armwert von 70% =) 14%, und zudem noch eine von der Invalidität von 7,86 % gemäß § 8 AUB 94 weiter abzuziehende Mitwirkung unfallfremder Erkrankungen von 1/3 festgestellt hat. Im Übrigen käme es auch beim Ein-Jahreszeitraum nicht strikt auf den Gesundheitszustand zum Ablauf eines Jahres, sondern darauf an, welcher Gesundheitszustand zu diesem Zeitpunkt absehbar war, was nahe liegende Heilungen und Verbesserungen auch dann einschließt, wenn sie sich außerhalb des Einjahres-Zeitraums verwirklichen.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.

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