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Dread-Disease-Versicherung – schwere Erkrankung – Kopfverletzung

OLG Nürnberg – Az.: 8 U 91/21 – Beschluss vom 04.05.2021

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 17.12.2020, Az. 8 O 1401/20, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.

2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Gründe

I.

Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer fondsgebundenen Lebensversicherung, die auch Versicherungsschutz gegen bestimmte schwere Krankheiten gewährt (sog. Dread-Disease-Versicherung) und die der Kläger seit Januar 2010 bei der Beklagten unterhält (Anlage K 2). Darin sind die Kinder des Versicherungsnehmers bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres mitversichert. Dem Vertrag liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten (Anlagenkonvolut K 1; im Folgenden: AVB) zugrunde. In Anlage 1 zu den AVB sind die versicherten schweren Krankheiten aufgeführt. Die Vertragsleistung beträgt im Falle des Eintritts versicherter schwerer Krankheiten 100.000,00 € wenn nicht der Wert der Fondsanteile höher ist. Im Falle der Erkrankung eines mitversicherten Kindes ist diese Leistung auf 50 % reduziert.

Hintergrund des Rechtsstreits ist, dass die am 21.09.2009 geborene Tochter des Klägers an einer Narkolepsie mit Kataplexie und Halluzinationen leidet (ICD-10: G47.4; Anlagen K 4 bis K 7). Der Kläger macht geltend, seine Ehefrau habe am 25.11.2009 eine Influenza-Impfung mit dem Präparat „Pandemrix“ erhalten. Während dieser Zeit habe sie die gemeinsame Tochter gestillt. Hierdurch sei die Narkolepsie ausgelöst worden. Die Beklagte hat ihre Einstandspflicht vorgerichtlich abgelehnt (Anlage K 9).

Das Landgericht hat die auf Zahlung von 50.000,00 € gerichtete Klage ohne Beweisaufnahme vollständig abgewiesen. Es hat dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die geltend gemachte Erkrankung der Tochter des Klägers nicht unter die in Ziffer 27 der Anlage 1 zu den AVB aufgeführte „schwere Kopfverletzung“ falle. Die Auslegung dieser Klausel ergebe, dass eine irreversible Schädigung des Gehirns allein nicht ausreiche. Es müsse eine Kopfverletzung durch eine physische Einwirkung hinzukommen. Das Eindringen des Impfstoffes in den Körper des Kindes durch die Muttermilch stelle keine bedingungsgemäße Kopfverletzung dar.

Hiergegen wendet sich die Berufung des Klägers, mit der er seinen erstinstanzlichen Klageantrag weiterverfolgt.

II.

Der Senat ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die in erster Instanz festgestellten Tatsachen gebunden. Durchgreifende und entscheidungserhebliche Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Feststellungen ergeben sich nicht. Die maßgeblichen Tatsachen rechtfertigen keine von der des Landgerichts abweichende Entscheidung und dessen Entscheidung beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung (§ 513 Abs. 1 ZPO).

Zu Recht und mit überzeugender Begründung hat das Landgericht einen Anspruch des Klägers aus § 3 Buchst. A Nr. 1 AVB verneint. Mit den hiergegen erhobenen Einwendungen kann die Berufung nicht durchdringen.

1.

Der gegenständliche Versicherungsvertrag gewährt neben dem Todesfallschutz auch Schutz gegen den Eintritt bestimmter schwerer Krankheiten beim Versicherungsnehmer oder mitversicherten Personen durch Zahlung des vertraglich vereinbarten Einmal-Betrages. Wie sich aus § 3 Buchst. A Nr. 1 AVB zweifelsfrei ergibt, setzt dieser Versicherungsfall voraus, dass bei der versicherten Person eine der in Anlage 1 aufgeführten Krankheiten endgültig diagnostiziert und 14 Tage lang überlebt worden ist.

Die Narkolepsie, unter der die mitversicherte Tochter des Klägers leidet, stellt schon nach klägerischem Vortrag keine in Anlage 1 zu den AVB aufgeführte Erkrankung dar. Dies hat die Vorinstanz fehlerfrei entschieden, ohne dass hierüber Beweis erhoben werden musste.

a)

In Betracht kommt nur eine in Nr. 27 der Anlage 1 aufgeführte „Schwere Kopfverletzung“. Diese Klausel lautet (Hervorhebungen durch den Senat):

„Eine durch Kopfverletzung herbeigeführte irreversible Schädigung des Gehirns mit dauerhaften neurologischen Ausfällen (z.B. Hörstörungen, Sehstörungen, Gefühlsstörungen, Sprechstörungen, Schluckstörungen, Lähmungen, Gehstörungen, Krampfanfällen) oder gravierenden Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten (z.B. Merkfähigkeitsstörungen, Konzentrationsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen u.a.). Die Beeinträchtigungen und ihr Ausmaß müssen durch einen Arzt für Neurologie/Psychiatrie oder einen Neurochirurgen nachgewiesen werden.“

Bei der Definition der versicherten schweren Krankheiten in Anlage 1 zu den AVB handelt es sich unzweifelhaft um Allgemeine Versicherungsbedingungen i.S.d. § 7 Abs. 1 Satz 1 VVG, § 305 Abs. 1 BGB. Solche Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. etwa BGH, Urteile vom 07.02.2018 – IV ZR 53/17, NJW 2018, 1019 Rn. 18 und vom 12.07.2017 – IV ZR 151/15, NJW 2017, 2831 Rn. 26 jeweils m.w.N.).

Gemessen daran ist für jeden durchschnittlichen Versicherungsnehmer bei Lektüre der Klausel Nr. 27 klar und unmissverständlich erkennbar, dass die irreversible Hirnschädigung durch eine Kopfverletzung verursacht worden sein muss, um einen Versicherungsfall auszulösen. Es kommt also – deutlich ersichtlich – nicht allein auf den dauerhaften neurologischen Befund an, sondern auch darauf, auf welche Weise die Erkrankung herbeigeführt worden ist. Einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer erschließt sich der Begriff der Kopfverletzung – mangels näherer Anhaltspunkte in der Klausel selbst – unter Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch (vgl. BGH, Urteil vom 26.04. 2006 – IV ZR 154/05, NJW-RR 2006, 1322 Rn. 9 m.w.N.). Im Allgemeinen wird unter einer „Verletzung“ die Schädigung oder Verwundung einer Körperpartie (Haut, Gewebe, Knochen) durch physische Einwirkung von außen verstanden, namentlich durch mechanische Gewalt (z.B. Schlag, Stoß, Aufprall), thermische Energie (z.B. Verbrennung) oder chemische Einwirkung (z.B. Verätzung durch Säure). Gesundheitliche Beeinträchtigungen ohne derartige Einwirkungen (z.B. angeborene Leiden, Tumorbildung, Altersdemenz) bezeichnet der allgemeine Sprachgebrauch hingegen nicht als „Verletzung“, sondern schlicht als „Erkrankung“.

Die in der Klausel Nr. 27 beschriebene Erkrankung verlangt folglich eine physische Einwirkung auf den Kopf der versicherten Person. Durch Verwendung des Partizips „herbeigeführt[e]“ wird für einen aufmerksamen und verständigen Versicherungsnehmer zudem deutlich erkennbar, dass zwischen der dauerhaften Hirnschädigung und der Kopfverletzung ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muss. Die Schädigung des Gehirns muss durch eine solche Verletzung ausgelöst worden sein, nicht umgekehrt. Für die unter Klausel Nr. 27 fallenden Erkrankungen genügt es entgegen der Ansicht der Berufung ersichtlich nicht, dass ausschließlich die Hirnschädigung selbst die (innere) „Kopfverletzung“ darstellt, etwa in Gestalt des fortschreitenden Absterbens von Gehirnzellen. Hätte der Versicherer auch derartige Fälle mit dem Versicherungsschutz erfassen wollen, so hätte er auf den Passus „… durch eine Körperverletzung herbeigeführte …“ verzichten und ausschließlich die Art der gesundheitlichen Beeinträchtigung beschreiben müssen. Aus Gründen, die sich jedem durchschnittlichen Versicherungsnehmer erschließen, ist dies jedoch unterblieben.

Demgemäß stellt die gewöhnliche Nahrungsaufnahme, also das Essen und Trinken, keine Verletzung in dem vorbenannten Sinne dar, auch wenn sie naturgemäß über Mund und Rachen – also Teile des Kopfes – erfolgt. Ein anderes Verständnis ist mit dem erkennbaren Sinnzusammenhang des Begriffes „Kopfverletzung“ nicht vereinbar. Nichts anderes gilt für die Aufnahme von Muttermilch durch einen zu stillenden Säugling. Es leuchtet jedem Versicherungsnehmer ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse ein, dass die mit der natürlichen Nahrungszufuhr erfolgte Aufnahme von Substanzen keine „Kopfverletzung“ darstellt. Dass nach klägerischer Behauptung auf diesem Wege über die Muttermilch nervenschädigende Stoffe in den Körper des Säuglings gelangt sein sollen, begründet folglich keine vom Versicherungsschutz umfasste Erkrankungsursache.

b)

Nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden bleiben keine Zweifel an der Bedeutung der maßgeblichen Klausel in Nr. 27 der Anlage 1 zu den AVB. Für eine Anwendung des § 305c Abs. 2 BGB ist daher kein Raum (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.2006 – VIII ZR 166/06, NJW 2007, 504 Rn. 23 m.w.N.).

c)

Die Klausel erweist sich auch nicht als überraschend (§ 305c Abs. 1 BGB). Dies wäre nur der Fall, wenn sie von den Erwartungen des Versicherungsnehmers deutlich abweicht und dieser mit ihr den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht, der Klausel mithin ein Überrumpelungseffekt innewohnt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 05.12.2012 – IV ZR 110/10, BeckRS 2013, 353 Rn. 40 m.w.N.). Der Kläger durfte nach Lage der Dinge bei Vertragsabschluss jedoch nicht darauf vertrauen, gegen dauerhafte Hirnschädigungen jeglicher Art versichert zu sein. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann und muss vielmehr von vornherein damit rechnen, dass solche irreversiblen neurologischen Schäden mit einer äußeren Einwirkung (insbesondere im Rahmen eines Unfalls oder durch Verletzungshandlungen Dritter) in Zusammenhang zu stehen haben.

d)

Schließlich enthält die Klausel in Nr. 27 der Anlage 1 zu den AVB auch keine unangemessene Benachteiligung des Klägers. Namentlich führt sie nicht zu einer Gefährdung der Erreichung des Vertragszwecks (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB). Unzulässig ist die Leistungsbegrenzung erst dann, wenn sie den Vertrag seinem Gegenstand nach aushöhlt und in Bezug auf das zu versichernde Risiko zwecklos macht (vgl. BGH, Urteil vom 25.07.2012 − IV ZR 201/10, NJW 2012, 3023 Rn. 18 m.w.N.). Davon kann im Streitfall nicht ansatzweise die Rede sein. Der Vertrag gewährt dem Versicherungsnehmer bzw. mitversicherten Personen einen sinnvollen Schutz gegen zahlreiche schwere Erkrankungen, darunter solche dauerhaften Hirnschädigungen, die durch äußere physische Einwirkungen herbeigeführt worden sind.

2.

Bei dieser Sachlage muss nicht entschieden werden, ob angesichts der am 25.11.2009 erfolgten Impfung der Ehefrau des Klägers überhaupt ein nach Versicherungsbeginn (01.01.2010) eingetretener Versicherungsfall vorliegen könnte und ob der Ausschlusstatbestand des § 11 Nr. 4 a) AVB eingreift.

3.

Der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung steht § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO nicht entgegen. Zwar kann eine mündliche Verhandlung auch in Fällen aussichtsloser Berufungen geboten sein, wenn die Rechtsverfolgung für den Berufungsführer existenzielle Bedeutung hat (vgl. BT-Drs. 17/5334, S. 7). Der Kläger hatte jedoch im bisherigen Prozessverlauf ausreichend Gelegenheit, sich persönlich rechtliches Gehör zu verschaffen. Der Senat schließt es aus, dass eine mündliche Erörterung zu neuen, bislang unberücksichtigten Erkenntnissen führt, welche eine andere Beurteilung der Erfolgsaussichten der Berufung rechtfertigen. Wegen der anhaltenden Beeinträchtigungen aufgrund der Corona-Pandemie sieht sich der Senat außerdem veranlasst, die Zahl mündlicher Verhandlungen auf ein Mindestmaß zu beschränken.

III.

Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Senat, die Berufung zurückzunehmen. Hierdurch würden sich die Gerichtskosten von 4,0 auf 2,0 Gebühren reduzieren (Nr. 1222 KV GKG).

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