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Verletzung der Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG – Voraussetzungen

Berufsunfähigkeitsversicherung: Rücktritt wegen Anzeigepflichtverletzung unwirksam

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein entschied mit Urteil vom 08.01.2024 (Az.: 16 U 107/22), dass der Rücktritt der Beklagten von der Berufsunfähigkeitsversicherung unwirksam ist, da keine grobfahrlässige Verletzung der Anzeigepflicht durch die Klägerin vorliegt. Die Beklagte muss der Klägerin außerdem die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren erstatten und die Kosten des Rechtsstreits tragen.

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✔ Das Wichtigste in Kürze

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  • Die Beklagte war nicht berechtigt, von der Berufsunfähigkeitsversicherung zurückzutreten, da keine grob fahrlässige Anzeigepflichtverletzung der Klägerin vorliegt.
  • Es wurde festgestellt, dass der Rücktritt der Beklagten unwirksam ist und der Versicherungsvertrag fortbesteht.
  • Anzeigepflichtverletzungen müssen in Textform erfragt worden sein und sich auf die Gefahrerheblichkeit der Umstände erstrecken.
  • Die Klägerin durfte auf die Einschätzung ihres Versicherungsmaklers vertrauen, dass keine Anzeige notwendig sei.
  • Ein Versicherungsmakler wird nicht als Wissensvertreter angesehen, dessen Kenntnisse der Klägerin zuzurechnen sind.
  • Die objektive Schwere und das subjektive Verschulden bei der Einschätzung der Gefahrerheblichkeit sind für die Beurteilung der Grobfahrlässigkeit entscheidend.
  • Die Beklagte selbst gab an, den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, allerdings zu anderen Bedingungen, geschlossen zu haben.
  • Die Kosten des Rechtsstreits sowie die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wurden zu Lasten der Beklagten entschieden.

Anzeigepflicht bei Versicherungsabschlüssen: Wann der Vertrag wackelt

Die Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG ist eine wichtige Obliegenheit für Versicherungsnehmer. Sie sind verpflichtet, dem Versicherer vor Vertragsabschluss alle gefahrerheblichen Umstände mitzuteilen, die der Versicherer in Textform abgefragt hat. Dazu zählen sowohl gegenwärtige als auch zukünftige Ereignisse, die den Versicherungsvertrag beeinflussen können. Die Verletzung dieser Pflicht kann gravierende Folgen haben, denn der Versicherer kann bei grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Verletzung vom Vertrag zurücktreten. Dies kann dazu führen, dass der Versicherungsschutz entfällt und der Versicherungsnehmer im Schadensfall keine Leistungen erhält. Allerdings trägt der Versicherer die Beweislast für die Relevanz der verschwiegenen Informationen.

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Im Zentrum des Rechtsstreits stand die Frage der Anzeigepflichtverletzung nach § 19 Abs. 1 VVG und deren Folgen für die Gültigkeit einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Auslöser war der Rücktritt der Versicherung von einem Vertrag mit der Klägerin, einer 1989 geborenen Pharmazeutisch-Technischen Assistentin, die nach einem Unfall im Jahr 2010 und einer späteren schweren Erkrankung Leistungen aus ihrer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung beantragt hatte.

Streit um Anzeigepflicht und Berufsunfähigkeitsversicherung

Die Auseinandersetzung begann, als die Klägerin im März 2020 einen Antrag auf Leistungen aus ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung stellte. Die Versicherung, vertreten durch die Beklagte, forderte daraufhin zusätzliche Informationen zum Gesundheitszustand der Klägerin vor Vertragsabschluss an. Nach Prüfung der Angaben erklärte die Versicherung mit Schreiben vom 23. Juli 2020 den Rücktritt vom Vertrag, da sie annahm, die Klägerin habe bereits vor Vertragsabschluss an relevanten Gesundheitsproblemen gelitten, die sie nicht angegeben hatte. Dies betraf unter anderem einen Busunfall im Jahr 2010, nach dem die Klägerin kurzzeitig unter Kopfschmerzen und Nackenbeschwerden litt, sowie eine zerebrale Sinusvenenthrombose im Jahr 2017, die zu langanhaltender Arbeitsunfähigkeit führte.

Rücktritt der Versicherung auf dem Prüfstand

Das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein hatte zu entscheiden, ob die Nichtangabe der kurzfristigen Nackenbeschwerden und Kopfschmerzen nach dem Unfall im Jahr 2010 sowie der schweren Erkrankung im Jahr 2017 eine grob fahrlässige Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht darstellte, die den Rücktritt der Versicherung rechtfertigen würde. Die Klägerin argumentierte, sie habe den Unfall und die kurzzeitigen Beschwerden nicht als meldepflichtig angesehen und zudem seien die Fragen im Versicherungsantrag nicht eindeutig gewesen. Sie betonte auch, dass sie seit Januar 2011 beschwerdefrei gewesen sei.

Gerichtliche Würdigung der Anzeigepflichtverletzung

Das Gericht stellte fest, dass keine grob fahrlässige Verletzung der Anzeigepflicht vorlag. Es führte aus, dass die im Antrag gestellten Fragen zur Gesundheit nicht eindeutig darauf hindeuteten, dass die von der Klägerin erlebten Gesundheitsprobleme zwingend anzugeben gewesen wären. Insbesondere bei den Kopfschmerzen nach dem Unfall könne nicht von einer eindeutigen Meldepflicht ausgegangen werden, da diese nur kurzfristig auftraten und nicht die im Antrag genannten Kriterien erfüllten. Zudem habe die Klägerin auf die Beratung eines Versicherungsmaklers vertraut, der ihr mitteilte, dass eine Angabe nicht notwendig sei.

Bedeutung des Urteils für die Praxis

Das Urteil unterstreicht die Bedeutung klarer und eindeutiger Fragen im Rahmen der Antragsstellung für Versicherungsverträge. Es zeigt auch, dass die Gerichte hohe Anforderungen an die Annahme einer grob fahrlässigen Verletzung der Anzeigepflicht stellen. Für Versicherungsnehmer bedeutet dies, dass nicht jede Unklarheit im Antrag oder jede Fehleinschätzung bezüglich der Meldepflicht automatisch zu schwerwiegenden Folgen wie einem Vertragsrücktritt führt.

Das Gericht entschied, dass der Rücktritt der Versicherung unwirksam sei und der Versicherungsvertrag zu unveränderten Bedingungen fortbesteht. Die Beklagte wurde zudem zur Zahlung der außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Klägerin verurteilt. Diese Entscheidung stärkt die Position von Versicherungsnehmern, indem sie klarmacht, dass Versicherungen nicht ohne weiteres von Verträgen zurücktreten können, ohne eine gründliche Prüfung der Umstände und eine faire Abwägung der Interessen beider Seiten.

✔ FAQ: Wichtige Fragen kurz erklärt

Was umfasst die Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG?

Nach § 19 Abs. 1 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, alle ihm bekannten Gefahrumstände, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sind und nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, bis zur Abgabe seiner Vertragserklärung dem Versicherer anzuzeigen. Diese Pflicht besteht auch dann, wenn der Versicherer nach der Vertragserklärung des Versicherungsnehmers, aber vor Vertragsannahme, entsprechende Fragen stellt.

Die Anzeigepflicht umfasst somit alle Umstände, die für die Risikoeinschätzung des Versicherers relevant sind und die der Versicherungsnehmer kennt. Der Versicherer muss dabei konkret in Textform nach diesen Umständen gefragt haben. Gefahrumstände, die nicht erfragt wurden, fallen nicht unter die Anzeigepflicht.

Verletzt der Versicherungsnehmer diese Anzeigepflicht, kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten. Dieses Rücktrittsrecht ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer die Anzeigepflicht weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt hat. In einem solchen Fall kann der Versicherer den Vertrag mit einer Frist von einem Monat kündigen.

Weiterhin ist das Rücktrittsrecht des Versicherers wegen grob fahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht und sein Kündigungsrecht ausgeschlossen, wenn er den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, wenn auch zu anderen Bedingungen, geschlossen hätte. In diesem Fall können die Vertragsbedingungen angepasst werden.

Die Rechte des Versicherers aufgrund einer Anzeigepflichtverletzung stehen ihm nur zu, wenn er den Versicherungsnehmer durch eine gesonderte Mitteilung in Textform auf die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat.

Zusammengefasst beinhaltet die Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG die Verpflichtung des Versicherungsnehmers, alle ihm bekannten und vom Versicherer erfragten erheblichen Gefahrumstände vor Vertragsabschluss anzuzeigen. Die Nichteinhaltung dieser Pflicht kann zu verschiedenen Rechtsfolgen führen, einschließlich Rücktritt, Kündigung oder Vertragsanpassung durch den Versicherer.

Was bedeutet der Rücktritt von einer Versicherung und unter welchen Voraussetzungen ist er zulässig?

Der Rücktritt von einer Versicherung bedeutet, dass ein Vertragspartner – in der Regel der Versicherer oder der Versicherungsnehmer – die Beendigung des Versicherungsvertrages erklärt. Die Rücktrittserklärung führt dazu, dass der Vertrag rückabgewickelt wird, was bedeutet, dass bereits erbrachte Leistungen zurückgegeben werden und noch nicht erfüllte Ansprüche erlöschen.

Zulässigkeit des Rücktritts

Rücktritt durch den Versicherungsnehmer

Versicherungsnehmer haben das Recht, innerhalb einer bestimmten Frist nach Erhalt des Versicherungsscheins vom Vertrag zurückzutreten. Diese Frist beträgt in der Regel 14 Tage, bei Lebensversicherungen sogar 30 Tage. Ein Rücktritt innerhalb dieser Frist muss nicht begründet werden und erfolgt durch eine schriftliche Rücktrittserklärung. Die Versicherungsgesellschaften sind verpflichtet, auf das Rücktrittsrecht hinzuweisen.

Rücktritt durch den Versicherer

Der Versicherer kann vom Vertrag zurücktreten, wenn der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht verletzt hat. Dies ist der Fall, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich oder grob fahrlässig gefahrerhebliche Umstände nicht mitgeteilt hat. Der Versicherer muss den Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss in Textform über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung informiert haben, damit der Rücktritt wirksam ist. Der Rücktritt ist unwirksam, wenn der Versicherungsnehmer die Anzeigepflicht nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat oder wenn der Versicherer den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, wenn auch zu anderen Bedingungen, geschlossen hätte.

Besondere Fälle

In bestimmten Fällen kann der Versicherungsnehmer auch nach Ablauf der regulären Widerrufsfrist vom Vertrag zurücktreten, beispielsweise wenn er nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt wurde. Des Weiteren besteht ein Sonderkündigungsrecht im Schadensfall, das sowohl dem Versicherungsnehmer als auch dem Versicherer zusteht.

Zusammenfassend ist der Rücktritt von einer Versicherung ein Instrument, das es beiden Vertragsparteien ermöglicht, unter bestimmten Voraussetzungen den Versicherungsvertrag zu beenden und rückabzuwickeln.

Wie wird grobe Fahrlässigkeit im Kontext des Versicherungsrechts definiert?

Grobe Fahrlässigkeit im Kontext des Versicherungsrechts wird als ein Verhalten definiert, bei dem die erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt wird und der gesunde Menschenverstand außer Acht gelassen wird. Dies bedeutet, dass der Versicherungsnehmer in einer Weise handelt, die deutlich von dem abweicht, was im Allgemeinen von einer Person in der entsprechenden Situation erwartet wird. Beispiele für grobe Fahrlässigkeit sind das Überfahren einer roten Ampel, das Tippen einer Nachricht während der Autofahrt oder das Verlassen eines Raumes mit brennenden Kerzen.

Im Versicherungsrecht führt grobe Fahrlässigkeit zu Einschränkungen in der Entschädigungsleistung des Versicherers, wobei die Leistung unter Berücksichtigung der Schwere des Verschuldens gekürzt werden kann. Das neue Versicherungsvertragsgesetz (VVG) sieht vor, dass Versicherte auch bei grober Fahrlässigkeit nur noch den Anteil am Schaden tragen müssen, den sie selbst verschuldet haben, anstatt vollständig leistungsfrei zu sein.

Die Unterscheidung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit ist im Versicherungsrecht von Bedeutung, da sie ausschlaggebend dafür sein kann, ob und in welchem Umfang die Versicherung für einen entstandenen Schaden aufkommt. Die genaue Definition und Zuordnung von Fahrlässigkeit kann im Zweifelsfall juristisch geklärt werden müssen, da sie gesetzlich nicht exakt definiert ist.

Wie wirkt sich eine Falschangabe oder Nichtangabe relevanter Gesundheitsinformationen auf den Versicherungsschutz aus?

Eine Falschangabe oder Nichtangabe relevanter Gesundheitsinformationen bei Abschluss eines Versicherungsvertrags kann schwerwiegende Folgen für den Versicherungsnehmer haben. Gemäß § 19 Absatz 1 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, alle ihm bekannten, für den Entschluss des Versicherers erheblichen Gefahrumstände, nach denen in Textform gefragt wurde, wahrheitsgemäß anzuzeigen. Dies gilt insbesondere für den Gesundheitszustand bei Versicherungen, die ein gesundheitliches Risiko abdecken, wie beispielsweise private Krankenversicherungen oder Berufsunfähigkeitsversicherungen.

Die Nichtangabe oder Falschangabe von relevanten Gesundheitsinformationen kann als Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht angesehen werden. Die Folgen einer solchen Verletzung hängen vom Grad des Verschuldens ab:

  • Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit: Entdeckt der Versicherer, dass der Versicherungsnehmer vorsätzlich oder grob fahrlässig falsche Angaben gemacht hat, kann er vom Vertrag zurücktreten. Dies bedeutet, dass der Versicherungsschutz rückwirkend entfällt und bereits gezahlte Beiträge unter Umständen nicht zurückerstattet werden. Im Schadensfall würde der Versicherer keine Leistungen erbringen.
  • Leichte Fahrlässigkeit: Wurde die Anzeigepflicht nur leicht fahrlässig verletzt, kann der Versicherer den Vertrag unter bestimmten Umständen anpassen, beispielsweise durch Erhebung eines Risikozuschlags oder Ausschluss bestimmter Leistungen. In einigen Fällen kann der Versicherer den Vertrag auch mit einer Frist kündigen.
  • Kein Verschulden: Kann der Versicherungsnehmer nachweisen, dass ihm kein Verschulden an der Nichtangabe oder Falschangabe trifft, bleiben die Rechte des Versicherers eingeschränkt. Der Versicherer kann den Vertrag in der Regel nicht rückwirkend aufheben, und der Versicherungsschutz bleibt bestehen.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Versicherer im Leistungsfall die Angaben im Versicherungsantrag genau überprüfen. Werden dabei Unstimmigkeiten festgestellt, kann dies zu einer Leistungsablehnung führen. Daher ist es für den Versicherungsnehmer essenziell, alle Gesundheitsfragen wahrheitsgemäß und vollständig zu beantworten, um den Versicherungsschutz nicht zu gefährden.

Die Konsequenzen einer Anzeigepflichtverletzung sind somit erheblich und können im schlimmsten Fall dazu führen, dass der Versicherungsnehmer im Schadensfall ohne Versicherungsschutz dasteht und zudem finanzielle Nachteile erleidet. Daher sollte bei der Beantwortung der Gesundheitsfragen im Versicherungsantrag größte Sorgfalt walten.

Was besagt § 19 Abs. 4 VVG bezüglich des Vertragsfortbestands bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände?

Nach § 19 Abs. 4 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) hat der Versicherer kein Rücktrittsrecht wegen einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung, wenn er den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, allerdings zu anderen Bedingungen, geschlossen hätte. In einem solchen Fall ist der Versicherer berechtigt, den Vertrag mit Wirkung für die Zukunft zu den Bedingungen fortzusetzen, die er bei Kenntnis der wahren Sachlage gestellt hätte. Der Versicherungsnehmer hat dann das Recht, den Vertrag innerhalb eines Monats nach Erhalt der Mitteilung über die Vertragsanpassung zu kündigen.

Dies bedeutet, dass der Versicherer den Vertrag an die tatsächlichen Gegebenheiten anpassen kann, anstatt ihn rückwirkend aufzulösen, was dem Versicherungsnehmer zumindest einen teilweisen Versicherungsschutz erhält. Der Versicherer muss jedoch die Anpassung des Vertrages dem Versicherungsnehmer gegenüber klar und in Textform kommunizieren.


Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Schleswig-Holstein – Az.: 16 U 107/22 – Urteil vom 08.01.2024

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 17. Mai 2022 teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass der durch die Beklagte mit Schreiben vom 23. Juli 2020 gegenüber der Klägerin erklärte Rücktritt von der Berufsunfähigkeitsversicherung unwirksam ist und der Vertrag zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3.010,11 € zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Parteien streiten über den Fortbestand einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.

Die 1989 geborene Klägerin beantragte am 5. Dezember 2013 über den Versicherungsmakler bei der Beklagten den Abschluss einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die zum 1. Januar 2014 abgeschlossen wurde (Versicherungsschein, Anlage K 1 im Anlagenband). Die im Antrag gestellten Fragen, ob sie in den letzten 5 Jahren Erkrankungen, Gesundheits- oder Funktionsstörungen gehabt habe, aufgrund derer sie in Behandlung gewesen sei, sind sämtlich mit „nein“ beantwortet, so auch die Fragen in Ziff. 6.9. und 6.12. des Antragsformulars (Anlage K 3, Anlagenband, 51/97), die wie folgt lauten:

Bestehen oder bestanden bei Ihnen in den letzten 5 Jahren Erkrankungen, Gesundheits- oder Funktionsstörungen, aufgrund derer Sie in Behandlung waren (zB. bei Ärzten, Heilpraktikern, Psychologen/Psychotherapeuten) bzw. Medikamente (mehr als 1x wöchentlich) einnehmen mussten, wegen:

[…]

6.9. Kopfschmerzen (Schmerzdauer > 5 Stunden täglich, Häufigkeit > 2 x pro Monat) oder Migräne

[…]

6.12. der Knochen, Gelenke, Muskeln, Bänder oder Sehnen (z.B. Bewegungseinschränkungen, Schmerzen, Arthritis, rheumatische Beschwerden, Verschleiß, Frakturen, Knieverletzungen, Beinverkürzungen, Bänderverletzungen, Hüftfehlstellungen, Schulter-Arm-Syndrom?

Mit der Übersendung der Vertragsunterlagen erhielt die Klägerin eine „Mitteilung nach § 19 Abs. 5 VVG über die Folgen einer Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht“ (Anlage K1, Seiten 7, 8).

Die Klägerin hatte am 27. Oktober 2010 als Fahrgast in einem Bus einen Unfall erlitten, aufgrund dessen sie sich wegen Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit noch am selben Tag bei dem Durchgangsarzt vorstellte, der am 27. Oktober 2010 zur Erstdiagnose einer HWS-Distorsion Folgendes ausführte (Arztbericht, Anlagenkonvolut K 11):

„Die UV klagt [sic] Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit, keine äußeren Verletzungen erkennbar, keine Amnesie, UV allseits orientiert, regelrechte Pupillenreaktion auf L/C, regelrechte Bulbusmotilität, die paravertebrale Nackenmuskulatur ist leicht verspannt, die Kopfdrehbewegung ist beidseitig endgradig schmerzhaft… Empfehlung von Schonung und lokaler Wärmeanwendung“.

Die zu der Zeit als Pharmazeutisch-Technische Assistentin in einer Apotheke beschäftigte Klägerin war infolge des Unfalls bis zum 13. November 2010 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Im Bericht zur Nachuntersuchung vom 13. Dezember 2010 (ebenfalls Anlagenkonvolut K 11) wird insoweit festgestellt: „Kopfrotation frei, Nackenmuskulatur nicht verspannt“. Zu der Zeit klagte die Klägerin allerdings weiterhin über fortbestehende Kopfschmerzen, die sie vor dem Unfall nicht gehabt habe. Wegen der Kopfschmerzen hatte bei der Nachuntersuchung eine MRT-Untersuchung empfohlen; spätestens seit Januar 2011 war die Klägerin wieder beschwerdefrei.

Am 9. Juli 2017 erlitt die Klägerin eine zerebrale Sinusvenenthrombose, aufgrund derer sie zunächst arbeitsunfähig krankgeschrieben war. Verschiedene Versuche, sie wieder in ihren Beruf als pharmazeutisch-technische Assistentin einzugliedern, scheiterten. Die Klägerin leidet seither an kognitiven Einschränkungen und ist in ihrer Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt. Seit dem 9. Juli 2017 ist sie arbeitsunfähig.

Am 3. März 2020 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Leistungsantrag. Die Beklagte forderte mit Schreiben vom 15. Juni 2020 ergänzende Angaben zum Versicherungsantrag bei der Klägerin an. Mit Schreiben vom 23. Juli 2020 erklärte die Beklagte den Rücktritt von der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung wegen einer Anzeigepflichtverletzung (Anlage K 10). Als Begründung gab sie u.a. an, davon auszugehen, dass die Klägerin bereits im Jahr 2007 einen Busunfall erlitten habe und seitdem wiederkehrend wegen anhaltender Kopfschmerzen auch schon im Jahr 2009 in ärztlicher Behandlung gewesen und zeitweise krankgeschrieben worden sei. Zudem leide die Klägerin auch an Rückenbeschwerden, nämlich einer Verstauchung und Zerrung der Halswirbelsäule. Zugleich wurde mitgeteilt, dass der Leistungsantrag weiter geprüft werde.

Mit Schreiben vom 12. August 2020 legitimierte sich der spätere Prozessbevollmächtigte der Klägerin bei der Beklagten. Nach Schriftverkehr und Fristsetzungen bezüglich des Leistungsanspruchs teilte die Beklagte mit Schreiben vom 9. Februar 2021 mit, ein weiteres medizinisches Gutachten einzuholen.

Mit ihrer am 23. April 2021 erhobenen Klage hat die Klägerin die Feststellung begehrt, dass der seitens der Beklagten erklärte Rücktritt von der Berufsunfähigkeit ihr gegenüber unwirksam sei und der Vertrag zu unveränderten Bedingungen fortbestehe, weiter die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von insgesamt 45.000,- € für den Zeitraum vom 1. August 2017 bis zum 31. Dezember 2020, die Verurteilung der Beklagten, ihr ab dem 1. August 2017 bis zum 1. April 2021 gezahlte Versicherungsbeiträge in Höhe von 1.448,10 € zu erstatten, an sie ab dem 1. Mai 2021 bis zum Ablauf der Versicherung am 1. Januar 2052 eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von derzeit jährlich 12.000,- € zu zahlen, ihr Auskunft über die Höhe der Überschussbeteiligung zu erteilen, die ab Leistungsbezug zu einer höheren Rente (Bonusrente) führe, ihr vom 1. Mai 2021 an Beitragsbefreiung in Höhe der monatlichen Versicherungsbeiträge von derzeit 105,51 € zu gewähren, sowie die Beklagte zu verurteilen, die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3.010,11 € zu zahlen.

Nachdem die Beklagte mit Schreiben vom 16. März 2022 ihre Leistungspflicht anerkannt, aber an dem Rücktritt festgehalten hatte, hat die Klägerin die Anträge aus der Klageschrift zu den Ziffern 2 bis 6 für erledigt erklärt. Die Beklagte hat sich Erledigungserklärung unter Protest gegen die Kostentragung angeschlossen und im Übrigen Klageabweisung beantragt.

Die Klägerin hat – soweit für das Berufungsverfahren noch relevant – behauptet, dass sie den Unfall aus dem Jahr 2010 gegenüber dem Versicherungsmakler, der mit ihr den Antrag aufgenommen habe, offengelegt habe. Sie habe zugleich erklärt, seit dem Jahreswechsel 2010/2011 beschwerdefrei zu sein, weshalb der Versicherungsmakler ihr erklärt habe, dass sie dies dann auch nicht anzugeben brauche. Im Jahr 2007 habe es keinen Unfall gegeben, der Irrtum müsse auf einer Falschaufzeichnung bei ihrem Arzt beruhen.

Dem hat sich die Beklagte entgegengestellt. Nachdem sie ursprünglich wegen eines falschen Datums in einem Arztbericht noch von einem weiteren Vorfall im Jahr 2007 ausgegangen war, ist sie nach Korrektur des Sachverhalts bei der Auffassung geblieben, dass es sich bei dem Busunfall aus dem Jahr 2010 und den danach folgenden ärztlichen Behandlungen um einen offenbarungspflichtigen Vorfall gehandelt habe. Wären die Gesundheitsfragen vollständig und wahrheitsgemäß von der Klägerin beantwortet worden, wäre die Beklagte bei der Risikoprüfung zu einem vollständig abweichenden Ergebnis gekommen. Sie hätte mit der Klägerin die Berufsunfähigkeitsversicherung wegen der anhaltenden Kopfschmerzen nur mit einem Risikozuschlag in Höhe von 25% abgeschlossen. Die Rückenbeschwerden hätten zu einem Leistungsausschluss für Wirbelsäulenerkrankungen geführt.

Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 3.010,11 € zu zahlen und die Klage im Übrigen abgewiesen; die Kosten des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils hat es der Beklagten auferlegt. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei gemäß § 19 Abs. 2 VVG berechtigt gewesen, von dem Versicherungsvertrag zurückzutreten. Die Klägerin habe die Fragen zur ärztlichen Untersuchung und Behandlung wegen Beschwerden in den letzten fünf Jahren falsch beantwortet. Angesichts des erlittenen Unfalls und der danach bestehenden Arbeitsunfähigkeit für 14 Tage, der mehrfachen Vorstellung bei Fachärzten und der Durchführung einer MRT-Untersuchung habe es sich um eine mitteilungspflichtige, in dem Antrag zur Berufsunfähigkeitsversicherung ausdrücklich abgefragte Tatsache gehandelt. Unerheblich sei dabei, ob die Klägerin bereits seit dem Jahreswechsel 2010/2011 beschwerdefrei gewesen sei. Ebenfalls unerheblich sei es, wenn die Klägerin gegenüber dem Versicherungsmakler den Unfall offengelegt und dieser ihr mitgeteilt habe, dass sie diesen nicht angeben müsse. Der Versicherungsmakler sei nicht Dritter im Sinne des § 123 Abs. 2 Satz 1 BGB, sondern von der Klägerin beauftragte Hilfsperson, dessen Verhalten die Klägerin sich gemäß § 166 BGB zurechnen lassen müsse. Es sei zugrunde zu legen, dass dem Zeugen als Versicherungsmakler die Bedeutung der richtigen und vollständigen Beantwortung der Gesundheitstragen bekannt gewesen sei, so dass die fehlende Angabe der Behandlungen im Jahr 2010 zumindest auf bedingtem Vorsatz beruht habe.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie den Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung und des Fortbestands des Vertrages weiterverfolgt.

Das Landgericht habe entscheidungserheblichen Vortrag unberücksichtigt gelassen, denn sie habe mit Schriftsatz vom 10. September 2021 vorgetragen, dass sie zwar einen Unfall erlitten und sich zur Abklärung in eine ärztliche Untersuchung gegeben habe, die Untersuchung aber keinen neurologischen Befund ergeben habe und eine ärztliche (Heil)- Behandlung nicht erforderlich gewesen sei. Dieser Vortrag sei auch nicht bestritten worden. Auf dieser Grundlage sei unter Berücksichtigung angeführter obergerichtlicher Rechtsprechung von einem nicht anzeigepflichtigen Umstand auszugehen.

Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, dass der durch die Beklagte mit Schreiben vom 23. Juli 2020 gegenüber der Klägerin erklärte Rücktritt von der Berufsunfähigkeitsversicherung unwirksam ist und der Vertrag zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte meint weiterhin, zum Rücktritt berechtigt gewesen zu sein. Bei den langfristigen HWS-Beschwerden und mindestens zweimonatigen Kopfschmerzen habe es sich um eine mitteilungspflichtige Erkrankung gehandelt. Aus dem Schreiben des Neurologen vom 12. November 2010 (Anlage B 1), ergebe sich auch nicht, dass es keinen neurologischen Befund gegeben habe, vielmehr besage es, dass die Klägerin auch am 8. November 2010, mithin 8 Tage nach dem Unfall über „anhaltende vom Nacken nach vorne ziehende Cephalgien“ geklagt habe. Kopfschmerzen habe die Klägerin auch in einer Untersuchung am 20. Dezember 2010 (Anlage K 11) noch gehabt. Aus der Anlage K 10 folge, dass die Klägerin wegen der HWS-Distorsion noch am 18. Mai 2011 in Behandlung gewesen sei. Von einer Bagatellerkrankung könne keine Rede sein. Soweit die Gesundheitsstörungen der Klägerin auch keine dauerhaften seien, sei im Antrag mit seinen erkennbar weit gefassten Begriffen ausdrücklich auch nach vorübergehenden Beeinträchtigungen gefragt worden. Würden die Gesundheitsfragen vollständig und wahrheitsgemäß von der Klägerin beantwortet worden sein, hätte sei die Berufsunfähigkeitsversicherung nur mit einem Risikozuschlag in Höhe von 25% abgeschlossen und einen Leistungsausschluss für Wirbelsäulenerkrankungen vereinbart.

II.

Die zulässige Berufung hat Erfolg.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung des Fortbestands der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung. Der Vertrag ist durch die Rücktrittserklärung der Beklagten vom 23. Juli 2020 nicht wirksam gemäß § 19 Abs. 2 VVG beendet worden, da es jedenfalls an einer mindestens grobfahrlässigen Verletzung der Anzeigepflicht fehlt (§ 19 Abs. 3 VVG) und die Beklagte überdies selbst geltend macht, den Vertrag auch bei Kenntnis der nicht angezeigten Umstände, wenn auch zu anderen Bedingungen, geschlossen zu haben (§ 19 Abs. 4 S. 1 VVG).

1.

Im Ergebnis kann dahinstehen, ob die Klägerin eine Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG verletzt hat, weil das Rücktrittsrecht der Beklagten jedenfalls nach § 19 Abs. 3 VVG mangels grober Fahrlässigkeit ausgeschlossen ist.

a)

Hinsichtlich der nicht angegebenen Rückenbeschwerden nach dem Unfall in dem Bus würde es allerdings bereits an einer Pflichtverletzung fehlen, soweit es sich hierbei um eine nicht anzeigepflichtige Bagatellbeschwerde handelte. Hinsichtlich des von der Beklagten angeführten Wirbelsäulenleidens der Klägerin ist den vorgelegten Behandlungsunterlagen im Anlagenband nur zu entnehmen, dass die Klägerin nach dem Unfall an einer vorübergehende Verspannung der Nackenmuskulatur und einem endgradigen Schmerz beim Drehen des Kopfes litt. Ärztlicherseits war insoweit Schonung und lokale Wärmeanwendung empfohlen worden (Arztbericht, Anlagenkonvolut K 11). Die Nachuntersuchung war hierzu ohne Befund: „Kopfrotation frei, Nackenmuskulatur nicht verspannt“ (Anlagenkonvolut K 11). Entgegen dem Vorbringen der Beklagten trifft es auch nicht zu, dass die Klägerin wegen HWS-Beschwerden noch im Jahr 2011 bei dem Neurologen in Behandlung gewesen wäre. Nach dessen Erklärung hat sich die Klägerin bei ihm nur am 12. November 2010 einmalig vorgestellt. Im Jahr 2011 hat der Arzt lediglich die Rechnung für diese Behandlung gestellt (Anlage K 14). Soweit es demnach um einen kurzzeitigen Verspannungsschmerz geht, der keine weiteren ärztlichen Maßnahmen veranlasste, läge keine Gefahrerheblichkeit nach § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG vor, weil dies für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, nicht relevant wäre (vgl. OLG Frankfurt a.M., NVersZ 2000, 130, 131; Bruck/Möller/Rolfs, VVG, 9. Aufl., § 19 Rn. 60). Ob etwas anderes gilt, weil die Klägerin, wie sie in ihrer Anhörung vor dem Senat von sich aus ergänzend mitgeteilt hat, wegen Rückenbeschwerden doch immerhin auch physiotherapeutische Behandlung erhalten hat, kann indes dahinstehen.

b)

Jedenfalls nicht mehr als Bagatelle können zwar die Kopfschmerzen angesehen werden, an denen die Klägerin auch noch mehrere Wochen nach dem Unfall litt und wegen derer sie wiederholt bei Ärzten vorstellig wurde. Insoweit stellt sich aber die Frage, ob die Beklagte in dem Antragsformular nicht nur nach längerfristig wiederkehrenden, chronischen Kopfschmerzen gefragt hat.

Grundsätzlich trifft den Versicherungsnehmer keine Obliegenheit, ungefragt Gefahrumstände mitzuteilen; eine Anzeigepflichtverletzung setzt voraus, dass nach den verschwiegenen Umständen in Textform gefragt worden ist (§ 19 Abs. 1 Satz 1 VVG). Ziff. 6.9. des Antragsformulars fragt nicht nach jeglichem, und auch nicht nach jedem längeranhaltenden erheblichen Kopfschmerz, sondern nach Kopfschmerzen mit einer Schmerzdauer von mehr als 5 Stunden täglich, die häufiger als zweimal pro Monat auftreten. Auch unter Berücksichtigung des dem Antragsformular vorangestellten Hinweises, wonach die Beispiele nicht vollständig alle möglichen Erkrankungsbegriffe aus dem jeweiligen Antwortbereich umfassen, wird damit nicht nur im Sinne eines Beispiels Kopfschmerz mit der genannten Dauer und Häufigkeit aufgeführt und darüber hinaus noch nach allen übrigen erheblichen Kopfschmerzen gefragt, sondern sind die genannten Qualifikationen aus Sicht des verständigen Versicherungsnehmers Voraussetzung der Mitteilungspflicht. Wie sie zu verstehen sind, kann dem verständigen Versicherungsnehmer unter Umständen nicht eindeutig klar sein: Auch in Anbetracht des allerdings nicht nur kurzfristigen Kopfschmerzes, den die Klägerin nach dem Unfall hatte, der dann aber zum Jahresende folgenlos ausklang, kann zweifelhaft erscheinen, ob es sich um Kopfschmerzen im Sinne der Antragsfrage, also solche, die öfter als zweimal pro Monat auftreten, handelte. Denn letztere Anforderung kann auch nahe legen, dass nur chronisch wiederkehrende Kopfschmerzen gemeint sind, solche also, die in einem längeren Zeitraum Monat für Monat auftreten und nicht nur einmalig in einem Zeitraum von sei es auch insgesamt etwa zwei Monaten vorliegen, dann aber ausklingen und nicht wiederkehren. Für die Annahme eines chronischen Schmerzleidens würde ein singulär gebliebener, beendeter Schmerzzeitraum, auch wenn dieser nicht kurz war, noch nicht genügen. Soweit die Antragsfrage unterschiedlich weit verstanden werden kann, braucht der Versicherungsnehmer nur das anzugeben, wonach zweifellos gefragt ist (Bruck/Möller/Rolfs, VVG, § 19 Rn. 29).

c)

Über die Auslegung der Frage und Reichweite der Anzeigepflicht braucht hier aber nicht entschieden zu werden, da es auch dann, wenn die von der Klägerin erlittenen Kopfschmerzen von einem verständigen Versicherungsnehmer in jedem Fall als von der Frage erfasst angesehen werden müssten, jedenfalls an einer zumindest grob fahrlässigen Verletzung der Anzeigepflicht fehlt und der Rücktritt ohnehin aus diesem Grund ausgeschlossen ist (§ 19 Abs. 3 VVG).

aa)

Während die objektive Verletzung der Anzeigepflicht nur die Kenntnis des Umstandes verlangt, nicht auch die seiner Gefahrrelevanz (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 2007 – IV ZR 133/06, juris Rn. 18), müssen sich Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit auch auf die Gefahrerheblichkeit der Umstände erstrecken (Bruck/Möller-Rolfs, VVG, § 19 Rn. 105 m.w.N.). Dabei fällt eine grob fahrlässig fehlerhafte Einschätzung der Gefahrerheblichkeit demjenigen zur Last, der die erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und dasjenige unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Annahme grober Fahrlässigkeit verlangt neben der objektiven Schwere der Pflichtwidrigkeit auch subjektiv ein gesteigertes personales Verschulden. Es muss eine besonders krasse und subjektiv schlechthin unentschuldbare Obliegenheitsverletzung vorliegen, die das in § 276 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (BGH, Urteil vom 30. Januar 2001 – VI ZR 49/00, juris Rn. 18 m.w.N.; Bruck/Möller-Rolfs, VVG, § 19 Rn. 100).

Danach kann die Annahme, die Kopfschmerzen der Klägerin seien keine erfragten Gefahrumstände, hier weder objektiv noch subjektiv als besonders krasse Fehleinschätzung beurteilt werden. Das jedenfalls nicht gänzlich fernliegende – sei es auch im Ergebnis abzulehnende – Verständnis, wonach die auf einen einmaligen Zeitraum begrenzten Kopfschmerzen von der Frage im Antrag nicht gemeint sein könnten, schließt eine besonders schwere Obliegenheitsverletzung bereits in objektiver Hinsicht aus. Was überdies die Klägerin persönlich betrifft, hat sie sich nach der glaubhaften Angabe in ihrer Anhörung vor dem Senat bei der Antragstellung von dem Versicherungsmakler beraten lassen und dessen Einschätzung vertraut, wonach ein ausgeheiltes Schleudertrauma nach einem Unfall nicht angegeben werden müsse. Als grob fahrlässig kann ein solches Vertrauen auf eine sei es auch falsche Einschätzung des Versicherungsmaklers in der Person der Klägerin nicht beurteilt werden.

bb)

Eine Zurechnung von Wissen oder Verschulden des von der Klägerin beauftragten Versicherungsmaklers findet entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht statt.

Selbst wenn dem Makler eine gegebene Gefahrrelevanz bekannt war oder sie ihm bekannt sein musste, wäre dies der Klägerin hier nicht zuzurechnen, denn für eine Zurechnung nach § 166 Abs. 1 BGB bzw. nach § 20 VVG fehlt es an einem Vertreterhandeln des Maklers. Dass dieser der Klägerin nicht nur beim Ausfüllen des Antrags behilflich gewesen wäre, sondern den Vertrag für sie als Vertreter geschlossen hätte (§ 20 VVG), ist nicht festzustellen. Für bloße Verhandlungsgehilfen des Versicherungsnehmers, die nicht bevollmächtigt sind, gilt § 20 VVG nicht.

Ebenso wenig kann der Makler vorliegend als Wissenserklärungsvertreter qualifiziert werden, auf den § 166 BGB analog anzuwenden wäre. Wissenserklärungsvertreter, dessen Erklärungen dem Versicherungsnehmer zugerechnet werden, ist, wer vom Versicherungsnehmer mit der Erfüllung von dessen Obliegenheiten betraut ist und an dessen Stelle Erklärungen abgibt (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1994 – IV ZR 304/93, juris Rn. 10). Letzteres folgt hier nicht schon daraus, dass auch der Makler den Antrag unterschrieben hat (Anlage K 3, 53/97 im Feld: „Unterschrift des Vermittlers“). Entscheidend ist, dass auch die Klägerin als Antragstellerin unterschrieben und sich damit die Angaben im Antrag als eigene gemacht hat. Sie hat aus der Sicht des Erklärungsempfängers eine eigene Erklärung abgegeben; für die Annahme einer an ihrer Stelle durch den Versicherungsmakler abgegebenen Erklärung ist deshalb kein Raum. Beauftragt der Versicherungsnehmer einen Dritten, ihm bei der Abfassung des Antrags behilflich zu sein, reicht dies als Zurechnungsgrund nicht aus, denn die Zurechnung von subjektiven Mängeln, die der Erklärungsgehilfe verursacht hat, käme der Haftung für einen Erfüllungsgehilfen gleich, die das Versicherungsrecht nicht kennt (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1994 – IV ZR 304/93, juris Rn. 11 f: kein Wissensvertreter ist, wer das Schadensformular ausgefüllt hat, wenn der Versicherungsnehmer dieses dann unterschreibt). Eine Verschuldenszurechnung wegen einer in der Person des Maklers grob fahrlässigen Fehleinschätzung ist weiter auch deshalb nicht nach § 278 BGB möglich, weil die hier in Rede stehenden Erklärungen nach § 19 Abs. 1 VVG auch nicht zur Erfüllung einer Verbindlichkeit aus einem (vorvertraglichen) Schuldverhältnis erfolgten. Es geht insoweit um eine Obliegenheit, deren Verletzung nur dazu führt, dass der Versicherer die Rechte aus § 19 Abs. 2 – 5 VVG geltend machen kann (Bruck/Möller, Rolfs, VVG, 9. Aufl., § 19 Rn. 23 mwN).

2.

Erst recht kann nach allem auch keine vorsätzliche Verletzung der Anzeigeobliegenheit festgestellt werden. Einem Rücktritt steht deshalb auch unabhängig vom Vorliegen grober Fahrlässigkeit die Vorschrift des § 19 Abs. 4 VVG entgegen. Danach hat der Versicherungsnehmer darzulegen und zu beweisen, dass der Versicherer auch bei Kenntnis der entsprechenden Umstände Versicherungsschutz, wenn auch zu anderen Bedingungen, gewährt hätte. Dies hat im Rechtsstreit indes wiederholt schon die Beklagte selbst vorgetragen. Ihr zufolge hätte sie mit der Klägerin die Berufsunfähigkeitsversicherung wegen der anhaltenden Kopfschmerzen mit einem Risikozuschlag in Höhe von 25% abgeschlossen und einen Leistungsausschluss für Wirbelsäulenerkrankungen vereinbart. Zuschlag und Ausschluss hat die Klägerin zwar bestritten, weil es ihr zufolge mangels Wirbelsäulenerkrankung keinen Grund für einen Ausschluss gegeben hätte und unfallbedingte Kopfschmerzen keinen Zuschlag gerechtfertigt hätten (Bl. 54 d.A.). Damit hat die Klägerin indes nur geltend gemacht, dass selbst eine Angabe der Unfallfolgen ihrer Meinung nach keinen Einfluss auf den Vertragsinhalt gehabt hätte. Als zwischen den Parteien unstreitig ist somit zugrunde zu legen, dass die Berufsunfähigkeitsversicherung auch im Fall einer Information der Beklagten über die Folgen des Unfalls vom 27. Oktober 2010 geschlossen worden wäre. Damit ist ein Rücktrittsrecht vorliegend auch nach § 19 Abs. 4 VVG ausgeschlossen.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Mit dem in der Berufungsinstanz allein anhängigen Feststellungsantrag obsiegt die Klägerin vollständig. Auch wenn in erster Instanz weitere Streitgegenstände anhängig waren, sind die Kosten der Instanzen nicht zu trennen, da die Klägerin im Gesamtergebnis nunmehr insgesamt obsiegt.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

 

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