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Unfallversicherung – Versicherungsschutz nach Suizidversuch

LG Dortmund – Az.: 2 O 145/11 – Urteil vom 15.09.2011

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt nach einem Streitwert von 104.900,00 € der Kläger.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger unterhält seit Februar 2009 bei der Beklagten eine Unfallversicherung unter Geltung der AUB 2008. Vereinbart ist eine Grundinvaliditätssumme von 75.000,00 € mit Progressionstafel 350 % sowie ein Krankenhaustagegeld, Genesungsgeld sowie ein Haushalthilfegeld.

Wegen psychischer Probleme hatte der Kläger für den 03.03.2009 die stationäre Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik in E vereinbart. Da die psychischen Probleme sich verstärkten, begab er sich bereits am 28.02.2009 in Begleitung seines Sohnes zur Aufnahme in die Klinik, wo er in den Folgetagen Suizidgedanken und die Sorge äußerte, dritten Personen etwas anzutun. Außerdem berichtete er über Schmerzzustände, Unruhe und Schlaflosigkeit.

Am 04.03.2009 verließ er das Gelände der psychiatrischen Klinik, wo er nicht in einer geschlossenen, sondern in einer offenen Abteilung untergebracht war. Vom Gehweg der vor der Klinik verlaufenden Straße trat er vor die mit ca. 40 km/h herannahende Straßenbahn, nachdem er unmittelbar zuvor Blickkontakt mit der Führerin des Straßenbahnzuges aufgenommen hatte. Er wurde trotz Notbremsung der Fahrerin von der Bahn erfasst und einige Meter unter der vorderen Kupplung des Straßenbahnzuges mitgeschleift und dadurch schwer verletzt. Durch notärztliche Hilfe überlebte er den Vorfall. Wegen dauerhafter Beeinträchtigungen an den Gliedmaßen begehrt er Invaliditätsleistung, Krankenhaustagegeld, Genesungsgeld sowie die vereinbarte Haushaltshilfeleistung. Er sieht die erlittenen Gesundheitsschäden nicht als freiwillig herbeigeführt an, weil er sich in die Klinik begeben hat, um gerade einen Suizid zu verhindern. Zu dem Vorfall habe es nur kommen können, weil er entgegen seinem Willen nicht in die geschlossene Abteilung der Klinik aufgenommen worden sei. Wegen einer grob fehlerhaften Einschätzung der konkreten Suizidgefahr durch die Klinikärzte sei er vielmehr in eine offene Abteilung gelegt worden, so dass es ihm möglich gewesen sei, die Klinik wieder zu verlassen. Er selbst habe alles getan, um eine freiwillige Gesundheitsschädigung zu vermeiden, so dass vor deren Unfreiwilligkeit ausgegangen werden müsse.

Der Kläger beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 104.900,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.118,44 € an außergerichtlichen Kosten nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

3. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 683,80 € für die Einholung der Deckungszusage nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die sieht den Beweis der Freiwilligkeit der Gesundheitsschädigung als geführt an. Für sie stellt sich das tragische Geschehen als Selbstmordversuch dar. Dazu verweist sie auf die vom Kläger selbst geäußerten Suizidgedanken und einen Zettel, der in der Kleidung des Klägers nach seiner Bergung im Krankenhaus gefunden wurde. Darauf stand: „Es tut mir leid aber die Schmerzen waren zu groß. Machts gut. L, du warst immer meine große Liebe. Danke für alles!“. Alternativ geht die Beklagte von einem Leistungsausschluss wegen Bewusstseinsstörung aus. Sie bestreitet die behauptete Invalidität.

Das Gericht hat den Kläger gemäß § 141 ZPO zu dem Vorfall vom 04.03.2009 angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 15.09.2011, wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf die bedingungsgemäßen Leistungen aus der zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherung zu, da die Beklagte bewiesen hat, dass die Gesundheitsschädigung freiwillig herbeigeführt worden ist, so dass es an den bedingungsgemäßen Voraussetzungen eines Unfalls fehlt, der Voraussetzung für die Leistungspflicht der Beklagten ist.

1. Ein Unfall liegt gemäß § 178 Abs. 2 Satz 1 VVG, Ziff 1.3 AUB 2008 vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Gemäß § 178 Abs. 2 Satz 2 wird die Unfreiwilligkeit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Nach dieser zwingenden – § 191 VVG – Beweislastverteilung hat die Beklagte zu beweisen, dass die Gesundheitsschäden, die der Kläger bei dem Vorfall vom 04.03.2009 erlitten hat, durch ihn selbst freiwillig herbeigeführt worden sind. Diesen Beweis muss der Versicherer mit dem Beweismaß des § 286 ZPO – Strengebeweis – führen. Beweiserleichterungen mittels Anscheinsbeweises kommen ihm nicht zugute, da sich individuelle Verhaltensweisen von Menschen typischen Verhaltungsmustern entziehen, wie sie für die Anwendung des Anscheinsbeweises erforderlich sind (BGH VersR 1987; 503). Geführt werden kann der erforderliche Nachweis mittels Indizienbeweises (OLG Frankfurt OLG-Report 2008, 718), wobei zur Überzeugungsbildung des Gerichts keine absolute Gewissheit erforderlich ist. Ausreichend ist vielmehr ein für das praktische Leben ausreichender Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH a.a.O.; OLG Koblenz r+s 2009, 290). Die Beklagte hat mit den unstreitigen Umständen die Unfreiwilligkeitsvermutung des § 178 Abs. 2 Satz 2 VVG widerlegt und so den Beweis geführt, dass der Kläger die am 04.03.2009 erlittenen Gesundheitsschäden freiwillig herbeigeführt hat, so dass es an einem bedingungsgemäßen Unfallereignis gemäß Ziff. 1. 3 AUB 2008, § 178 Abs. 2 Satz 1 VVG fehlt. Für einen vom Kläger am 04.03.2009 unternommenen Selbsttötungsversuch sprechen bereits die Selbstmordgedanken, die den Kläger in den Tagen vor dem 04.03.2009 gequält haben, so dass er sich unter dem zunehmenden Leidensdruck vorzeitig in eine psychiatrische Klinik begeben hat, um die eigene Selbstgefährdung und die Gefährdung Dritter, insbesondere seiner Ehefrau, zu verhindern. Auch das Geschehen vom 04.03.2009 selbst lässt keine Zweifel daran zu, dass der Kläger freiwillig vor die herannahende Straßenbahn getreten ist. Ausweislich der Tatortaufnahme durch die Polizei war es zum Unfallzeitpunkt gegen 13.30 Uhr trocken, leicht bewölkt und die Sonne schien. Die Sicht auf die oberirdisch verlaufende Gleisanlage war durch nichts getrübt. Die Straßenbahn war mithin für den Kläger ohne weiteres erkennbar. Sie hat sich mit einer mäßigen Geschwindigkeit von etwa 40 km/h genähert. Unmittelbar vor dem Geschehen hat der Kläger – wie unter den Parteien unstreitig ist – Blickkontakt mit der Fahrerin des Straßenbahnzuges aufgenommen, so dass das Gericht ausschließen kann, dass dem Kläger das Herannahen der Straßenbahn aus irgendwelchen Gründen entgangen sein könnte. Schließlich spricht für einen Selbstmordversuch auch der Zettel, der in der Kleidung des Klägers nach dessen Bergung gefunden worden ist. Es besteht kein Zweifel, dass der Kläger diesen Zettel selbst geschrieben hat. Er konnte sich bei seiner Anhörung vor Gericht daran zwar nicht mehr erinnern, hat aber eingeräumt, dass er in den letzten Jahren wiederholt Zettel geschrieben hat, in denen von Selbstmord die Rede war. Der beim Kläger nach dem 04.03.2009 vorgefundene Zettel lässt sich zwanglos als Abschiedsbrief deuten. Denn der Kläger hat darin einen großen Leidensdruck durch Schmerzen aufgezeigt und sich mit Dank unter Bezeugung seiner großen Liebe von seiner Ehefrau verabschiedet. Der Kläger selbst hat allerdings bei seiner Anhörung vor Gericht in Zweifel gezogen, dass er freiwillig vor die Straßenbahn getreten sein könnte. Er hat angegeben, dass er keine Erinnerung mehr an den Geschehensablauf habe und sich auch nicht mehr daran erinnern könne, ob, unter welchen Umständen und mit welcher Absicht er den bei ihm vorgefundenen Zettel geschrieben habe. Er hat allerdings bekundet, dass er sich einerseits wiederholt mit dem Gedanken einer Selbsttötung befasst habe, diesen andererseits aber niemals unter Gefährdung oder Beeinträchtigung Dritter hätte ausführen wollen, so dass er davon ausgehe, dass er nicht freiwillig vor die Straßenbahn getreten sei, weil dadurch auch eine Dritte – die Straßenbahnfahrerin – in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Diese Erklärungen des Klägers sind durch die objektiven Umstände widerlegt, die keinen vernünftigen Zweifel daran zulassen, dass der Kläger am 04.03.2009 den Tod gesucht und freiwillig vor die Straßenbahn getreten ist, um sich auf diese Art und Weise das Leben zu nehmen. Der Kläger sieht Freiwilligkeit der Gesundheitsschädigung auch dadurch ausgeschlossen, dass er sich vorsorglich in eine psychiatrische Klinik begeben hat, um gerade das zu verhindern, was am 04.03.2009 schicksalshaft eingetreten ist. Er meint, dass die Gesundheitsbeschädigung schon deswegen unfreiwillig eingetreten ist, weil er selbst alles unternommen habe, um einen solchen Geschehensablauf zu verhindern, der nur durch einen groben Behandlungsfehler der behandelnden Ärzte eintreten konnte, die ihn wegen falscher Einschätzung der Suizidgefahr nicht in eine geschlossene, sondern in eine offene Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses untergebracht hätten. Indes ist unter Zugrundelegung dieses auch von der Beklagten nicht bestrittenen Geschehensablaufes Unfreiwilligkeit der Gesundheitsschädigung nicht gegeben. Denn freiwillig handelt, wer die Gesundheitsschädigung vorsätzlich d. h. wissentlich und willentlich herbeiführt, wobei bereits bedingter Vorsatz ausreicht (Grimm, Unfallversicherung, 4. Auflage, § 1 AUB 99 Rdnr. 39). Wenn der Kläger, wie es die Umstände im Vorfeld des Geschehens vom 04.03.2009 nahelegen – sich selbst in einer Situation gesehen haben sollte, die einen anderen Ausweg als den eines Selbstmordes nicht zuließ, schließt diese Vorstellung, die eher in dem Bereich der Motivation der Tat als in den Bereich des Wissens und Wollens um das Geschehen einzuordnen ist, die Freiwilligkeit ebenso wenig aus wie eine fehlende Schuld- oder Zurechnungsfähigkeit, die ebenfalls die kognitiven wie voluntativen Elemente des Vorsatzes nicht tangieren, da hierfür – wie gelegentlich formuliert wird – „natürlicher Vorsatz“ ausreicht (OLG Karlsruhe VersR 1976, 183; Landgericht Koblenz VersR 1983, 1054; Grimm, a.a.O., Rdnr. 40). Für die Freiwilligkeit der Herbeiführung der Gesundheitsschädigung ist es ebenso ohne Bedeutung, dass möglicherweise dritte Personen wie die handelnden Ärzte der psychiatrischen Klinik eine zivilrechtliche oder strafrechtliche Verantwortung für die vom Kläger erlittene Gesundheitsschädigung trifft. Der Annahme der Freiwilligkeit der erlittenen Gesundheitsschädigungen steht nicht entgegen, dass der Kläger den Tod und keine Körperschädigung bei Weiterleben gewollt hat. Scheitert die beabsichtigte Selbsttötung und bleibt eine Invalidität zurück, ist die Gesundheitsschädigung ebenfalls freiwillig herbeigeführt, weil sie als notwendiges Durchgangsstadium für den beabsichtigten Eintritt des Todes in Kauf genommen wird (OLG Hamm r+s 1999, 542). Für das Vorliegen einer Bewusstseinsstörung nach Ziff. 5.1.1 AUB 2008 hat das Gericht keine Anhaltspunkte. Sollte eine solche vorgelegen haben, die der Annahme einer Freiwilligkeit der eingetretenen Gesundheitsschädigung entgegenstehen könnte, stünde dem Kläger ebenfalls kein Anspruch auf Invaliditätsleistung zu, da Unfälle durch Geistes- oder Bewusstseinsstörung vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind, wobei die alternative Feststellung von fehlender Unfreiwilligkeit und Vorliegen eines Risikoausschlusses wegen bestehender Bewusstseinsstörung zulässig ist, wie die Kammer bereits entschieden hat (LG Dortmund VersR 2008, 1639).

2. Die Klage musste somit mit der Kostenfolge aus § 91 ZPO abgewiesen werden. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.

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