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Rückforderung Unfallversicherung bei Unrichtigkeit der Erstbemessung von Invalidität

Rückforderung von Versicherungsleistungen bestätigt

In einem Fall, in dem eine Versicherungsgesellschaft die teilweise Rückzahlung von Unfallversicherungsleistungen verlangt, bestätigt das Oberlandesgericht Saarbrücken die Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken. Der Beklagte muss einen Betrag von 8.053,26 Euro zurückzahlen.

Direkt zum Urteil: Az.: 5 U 53/21 springen.

Verlauf des Falls

Der Beklagte erhielt nach einem Unfallereignis eine Invaliditätsleistung in Höhe von 24.159,00 Euro. Nach einer Neubewertung der Invalidität auf Verlangen des Beklagten wurde eine niedrigere Invalidität festgestellt. Die Versicherung forderte daraufhin den Differenzbetrag von 8.053,26 Euro zurück.

Entscheidung des Gerichts

Das Landgericht Saarbrücken gab der Klage in vollem Umfang statt. Das Oberlandesgericht Saarbrücken wies die Berufung des Beklagten zurück und bestätigte die Entscheidung des Landgerichts. Es wurde entschieden, dass die Versicherungsgesellschaft berechtigt ist, den überzahlten Betrag zurückzufordern, auch wenn der Beklagte die Neubemessung der Invalidität verlangt hatte.

Unbegründete Berufung und Anspruch der Klägerin

Die Berufung ist nicht begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB auf Zahlung von 8.053,26 Euro, weil die von ihr erbrachte Invaliditätsleistung in diesem Umfang überhöht war und dem Beklagten bei Zugrundelegung des zutreffenden Invaliditätsgrades von (höchstens) 2/10 Beinwert nicht mehr als 16.106,74 Euro zustanden.

Erklärung der Leistungspflicht und Rückforderungsanspruch

Einem Rückforderungsanspruch der Klägerin steht nicht schon ihre Erklärung über ihre Leistungspflicht im Schreiben vom 10. Mai 2016 entgegen. Rechtsgrund der Invaliditätsleistung ist nicht die Erklärung des Unfallversicherers, sondern weiterhin der Versicherungsvertrag. Die Klägerin ist an die Erstbemessung der Invalidität nicht gebunden und kann daher ihren Rückforderungsanspruch darauf stützen, dass bei dem Beklagten von Anfang an tatsächlich ein geringerer Grad der Invalidität vorlag als sie ihrer Regulierungszahlung zugrunde gelegt hatte.

Unberücksichtigte Arthrose und Invaliditätsbemessung

In dem Fall wurde bei der Invaliditätsbemessung durch Herrn Dr. D. eine bereits zum Unfallzeitpunkt bestehende Arthrose der Hüftgelenke beim Beklagten nicht berücksichtigt. Laut dem Sachverständigen Prof. Dr. R. wurde die weitere Entwicklung der Arthrose durch die Unfallverletzung nicht beeinflusst. Die Fraktur des rechten Oberschenkelknochens verlief außerhalb der knorpeligen Gelenkflächen, wodurch keine direkte Verletzung entstand. Sekundäre Schädigung durch Durchblutungsstörung des Hüftkopfes konnte nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Berücksichtigung der Arthrose und Berechnung der Invaliditätsleistung

Der vorgeschlagene Ansatz des Sachverständigen, die allein auf die Arthrose zurückzuführende Bewegungseinschränkung des linken Beines zur Bemessung des Einflusses der unfallunabhängigen Arthrose auf den Invaliditätsgrad heranzuziehen, ist einleuchtend. Die Arthrose als Vorerkrankung wäre gemäß § 8 AUB 94 zu berücksichtigen, weil sie zu 25 % an der Invalidität mitgewirkt hat. Demnach kann nur eine Invalidität von 3/20 Beinwert für die Berechnung der Invaliditätsleistung zugrunde gelegt werden. Die Klägerin hat in ihrem Rückforderungsbegehren einen maßgebenden Invaliditätsgrad von 4/20 = 2/10 Beinwert zugrunde gelegt.

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Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Saarbrücken – Az.: 5 U 53/21 – Urteil vom 09.02.2022

I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 21. Mai 2021 – 14 O 301/19 – wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Beklagte.

III. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.053,26 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt von dem Beklagten die teilweise Rückzahlung gewährter Versicherungsleistungen aus einem Unfallversicherungsvertrag. Der Beklagte unterhält bei der Klägerin unter der Versicherungsnummer … einen ursprünglich mit der T., der Rechtsvorgängerin der Klägerin (im folgenden einheitlich „Klägerin“), geschlossenen Unfallversicherungsvertrag. Dem Vertrag liegen u.a. Allgemeine Unfallversicherungs-Bedingungen (im folgenden: AUB 94; BI. 9 ff. d. A.) sowie Besondere Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel 225 % (BI. 14 d. A.) zugrunde. Die versicherte Grundsumme für den Fall der Invalidität beträgt 115.040,67 Euro.

§ 11 AUB 94 hat – auszugsweise – folgenden Wortlaut:

I. Sobald dem Versicherer die Unterlagen zugegangen sind, die der Versicherungsnehmer zum Nachweis des Unfallherganges und der Unfallfolgen sowie über den Abschluss des für die Bemessung der Invalidität notwendigen Heilverfahrens beizubringen hat, ist der Versicherer verpflichtet, innerhalb eines Monats – beim Invaliditätsanspruch innerhalb von drei Monaten – zu erklären, ob und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt.

(…)

II. Erkennt der Versicherer den Anspruch an oder haben sich Versicherungsnehmer und Versicherer über Grund und Höhe geeinigt, so erbringt der Versicherer die Leistung innerhalb von zwei Wochen.

(…)

III. (…)

IV. Versicherungsnehmer und Versicherer sind berechtigt, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach Eintritt des Unfalles, erneut ärztlich bemessen zu lassen. Dieses Recht muss seitens des Versicherers mit der Abgabe seiner Erklärung entsprechend I., seitens des Versicherungsnehmers innerhalb eines Monats ab Zugang dieser Erklärung ausgeübt werden. Ergibt die endgültige Bemessung eine höhere Invaliditätsleistung, als sie der Versicherer bereits erbracht hat, so ist der Mehrbetrag mit 5 Prozent jährlich zu verzinsen.

Der Beklagte zeigte der Klägerin ein Unfallereignis vom 14. Februar 2015 an (Treppensturz), bei dem er sich eine Oberschenkelhalsfraktur rechts zugezogen hatte. In der Folge gab die Klägerin ein Gutachten zur Frage einer Invalidität des Beklagten bei Herrn Dr. med. R. in Auftrag. Dieser stellte eine unfallbedingte Invalidität von 3/10 Beinwert fest (Gutachten vom 25. April 2016, BI. 17 ff. d. A.). Daraufhin rechnete die Klägerin mit Schreiben vom 10. Mai 2016 (BI. 24 f. d. A.) ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 21 % eine Invaliditätsleistung in Höhe von 24.159,00 Euro ab und zahlte diesen Betrag an den Beklagten.

In dem Abrechnungsschreiben teilte die Klägerin dem Beklagten Folgendes mit:

„Sie und wir sind berechtigt, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu 3 Jahren nach dem Unfall erneut ärztlich bemessen zu lassen. Ergibt die endgültige Bemessung eine höhere Invaliditätsleistung, als wir bereits erbracht haben, zahlen wir den Mehrbetrag einschließlich der bedingungsgemäß vorgesehenen Zinsen nach. Ergibt die Bemessung eine niedrigere Leistung, fordern wir den zuviel gezahlten Betrag zurück.“

Nachdem der Beklagte über seinen Versicherungsmakler am 3. Februar 2017 das Recht auf Neubemessung geltend gemacht hatte, holte die Klägerin eine weitere gutachterliche Stellungnahme bei Herrn Dr. D. ein, der nunmehr eine unfallbedingte Invalidität von nur 2/10 Beinwert annahm (Gutachten vom 13. Dezember 2017, BI. 26 ff. d. A.). Daraufhin rechnete die Klägerin mit Schreiben vom 4. Januar 2018 (BI. 33 d. A.) die Invaliditätsleistung ausgehend von einem Invaliditätsgrad von 14 % neu mit 16.105,74 Euro ab und forderte den Beklagten zur Rückzahlung des Differenzbetrages von 8.053,26 Euro auf, was die Prozessbevollmächtigten des Beklagten mit Schreiben vom 29. Januar 2018 ablehnten.

In ihrer auf Zahlung von 8.053,26 Euro nebst Verzugszinsen seit dem 31. Januar 2018 gerichteten Klage hat die Klägerin die Ansicht vertreten, der Beklagte sei zur teilweisen Rückzahlung der erbrachten Versicherungsleistung verpflichtet, da lediglich eine Invalidität von 2/10 Beinwert bestehe. Sie habe sich im Schreiben vom 10. Mai 2016 ausdrücklich auf ihr Recht zur Neubemessung berufen und mithin den Vorbehalt gemäß § 11 IV. AUB 94 ausgeübt. Da nach dem Neubemessungsverlangen des Beklagten eine erneute Begutachtung ohnehin durchzuführen gewesen sei, habe es eines nochmaligen ausdrücklichen Neubemessungsverlangens der Klägerin gegenüber dem Beklagten nicht mehr bedurft.

Der Beklagte ist dem entgegengetreten und hat gemeint, eine Rückforderung durch die Klägerin sei ausgeschlossen, da es der Beklagte und nicht die Klägerin gewesen sei, der sein Recht auf Neubemessung ausgeübt habe.

Das Landgericht hat der Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Herrn Prof. Dr. S. mit am 21. Mai 2021 verkündetem Urteil in voller Höhe stattgegeben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, auch wenn der Beklagte die Neubemessung der Invalidität verlangt habe, könne die Klägerin aus Bereicherungsrecht die Rückzahlung des streitgegenständlichen Betrages verlangen, nachdem die unfallbedingte Invalidität des Klägers entsprechend dem eingeholten Sachverständigengutachten 2/10 Beinwert nicht übersteige. Der Senat nimmt gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen des Urteils Bezug.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beklagten, mit welcher er die Abweisung der Klage erstrebt. Er meint, der Klägerin stehe kein Rückforderungsanspruch zu, weil sie nicht selbst eine Neubemessung der Invalidität verlangt habe. Im Hinblick auf die zu dieser Frage bestehenden unterschiedlichen Ansichten in Rechtsprechung und Literatur beantragt er die Zulassung der Revision zur Klärung dieser Rechtsfrage, falls der Senat der Auffassung des Landgerichts folgen sollte. Weiter meint der Kläger, mit dem in erster Instanz eingeholten Gutachten sei der Nachweis einer Überzahlung aufgrund der Annahme eines zu hohen Invaliditätsgrades nicht geführt.

Der Beklagte beantragt: Unter Aufhebung des Urteils des Landgericht Saarbrücken vom 21.05.2021, AZ: 14 O 301/19, wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Hinsichtlich des Sachverhalts und des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Sitzungsniederschriften des Landgerichts vom 9. Juli 2020 und des Senats vom 19. Januar 2022 sowie auf das Urteil des Landgerichts vom 21. Mai 2021 Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil beruht weder gemäß §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO auf einer Rechtsverletzung, noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB auf Zahlung von 8.053,26 Euro, weil die von ihr erbrachte Invaliditätsleistung in diesem Umfang überhöht war und dem Beklagten bei Zugrundelegung des zutreffenden Invaliditätsgrades von (höchstens) 2/10 Beinwert nicht mehr als 16.106,74 Euro zustanden.

1.

Einem Rückforderungsanspruch der Klägerin steht nicht schon ihre Erklärung über ihre Leistungspflicht im Schreiben vom 10. Mai 2016 (Bl. 24 d. A.) entgegen. Zwar hatte die Klägerin gemäß § 11 I. AUB 94 binnen der dort bestimmten Frist zu erklären, ob und in welcher Höhe sie einen Anspruch des Beklagten auf Invaliditätsleistung anerkennt. Trotz der Verwendung des Begriffs „anerkennen“ stellt die Erklärung des Unfallversicherers, ob und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt, nach den Versicherungsbedingungen indes nur eine einseitige Meinungsäußerung des Versicherers und Information an den Anspruchsberechtigten dar, welche die Fälligkeit der anerkannten Entschädigung herbeiführt, im Übrigen aber keine rechtsgeschäftliche, potentiell schuldbegründende oder schuldabändernde Regelung bewirken soll. Weitergehende Wirkungen legen dieser Erklärung weder die Bedingungen noch das Gesetz (§ 187 Abs. 2 VVG) bei (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1976 – IV ZR 222/74, BGHZ 66, 250 zu §§ 11, 13 AUB 61 [unter II 2 b aa]; Urteil vom 11. September 2019 – IV ZR 20/18, VersR 2019, 1412 Rz. 10 [zu Ziffer 9 AUB 99]; zu weiteren vergleichbaren Bedingungsfassungen Senat, Urteil vom 20. November 2020 – 5 U 106/19, VersR 2021, 567, 570; Urteil vom 25. Februar 2013 – 5 U 224/11, VersR 2014, 456, Rz. 44 bei juris; OLG Frankfurt, r+s 2018, 434 Rz. 43; OLG Köln r+s 2014, 362; OLG Hamm VersR 2005, 346). Rechtsgrund der Invaliditätsleistung ist danach nicht die Erklärung des Unfallversicherers, dass er den Anspruch in einer bestimmten Höhe anerkennt, sondern weiterhin der Versicherungsvertrag. Ist die ausgezahlte Invaliditätsleistung vertraglich nicht oder nicht in voller Höhe geschuldet, steht dem Unfallversicherer daher grundsätzlich ein Herausgabeanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB zu, wobei es ihm obliegt, dessen Voraussetzungen darzulegen und zu beweisen (vgl. BGH, Urteil vom 11. September 2019 – IV ZR 20/18, aaO. Rz. 11).

2.

Der Rückforderungsanspruch der Klägerin hängt auch nicht davon ab, ob die Klägerin sich das Recht auf Neubemessung der Invalidität gemäß § 11 IV. AUB 94 vorbehalten hat. Daher kommt es auf die möglicherweise eine Zulassung der Revision gebietende Beantwortung der Rechtsfrage, ob eine Neubemessung der Invalidität auf Verlangen des Versicherungsnehmers ein Recht des Versicherers auf (teilweise) Rückforderung der Invaliditätsleistung begründen kann, nicht an. Denn die Klägerin ist an die Erstbemessung der Invalidität nicht gebunden und kann daher ihren Rückforderungsanspruch darauf stützen, dass bei dem Beklagten von Anfang an tatsächlich ein geringerer Grad der Invalidität vorlag als sie ihrer Regulierungszahlung zugrunde gelegt hatte.

a.

Aus den Regelungen in § 11 I. und IV. AUB 94 folgt, wie eine Auslegung dieser Klauseln ergibt, keine Bindung des Unfallversicherers an die Erstbemessung der Invalidität, weshalb die Klägerin auch keine Neubemessung der Invalidität verlangen musste, um den regulierten Betrag teilweise zurückverlangen zu können.

(1)

Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 2019 – IV ZR 72/18, VersR 2019, 542 Rn. 15; st. Rspr. seit BGH, Urteil vom 23. Juni 1993 – IV ZR 135/92, BGHZ 123, 83, 85).

(2)

Nach diesen Maßgaben führt das Fehlen eines Neubemessungsvorbehalts im Sinne von § 11 IV. AUB 94 nicht zu einer Bindung der Klägerin an die von ihr vorgenommene Erstbemessung der Invalidität.

(a)

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann den Regelungen in § 11 I. und IV. AUB 94 zunächst eine Unterscheidung zwischen der Erstbemessung der Invalidität und ihrer Neubemessung entnehmen (vgl. BGH, Urteil vom 11. September 2019 – IV ZR 20/18, VersR 2019, 1412 Rz. 15; Urteil vom 18. Oktober 2017 – IV ZR 188/16, VersR 2017, 1386 Rz. 18; Urteil vom 18. November 2015 – IV ZR 124/15, zfs 2016, 103 Rz. 10). Er wird weiter die Verpflichtung des Versicherers gemäß § 11 I. Satz 1 AUB 94 erkennen, bei einem geltend gemachten Invaliditätsanspruch innerhalb von drei Monaten ab dem Eingang bestimmter Unterlagen zu erklären, ob und in welcher Höhe er einen Anspruch anerkennt. Zu dem in § 11 IV. Satz 1 AUB 94 bestimmten Recht der Vertragsparteien, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen, wird der Versicherungsnehmer dieser Klausel im Hinblick auf den erkennbaren Zusammenhang mit § 11 I. AUB 94 entnehmen, dass eine derartige Neubemessung der Invalidität – auch schon begrifflich – eine Erstbemessung voraussetzt und mithin erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 18. November 2015 – IV ZR 124/15, aaO.).

(b)

Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird ferner erkennen, dass das in § 11 IV. Satz 2 AUB 94 geregelte Vorbehaltserfordernis allein auf die Neubemessung der Invalidität bezogen ist. Das ergibt sich für ihn aus dem klaren Wortlaut der Regelung, nach dem der Versicherer „dieses Recht“ mit Abgabe seiner Erklärung „entsprechend I.“ – also der Erklärung über die Leistungspflicht nach § 11 I. Satz 1 AUB 94 – ausüben muss. „Dieses Recht“ meint aber erkennbar allein das in Satz 1 von § 11 IV. AUB 94 geregelte Neubemessungsrecht. Hieraus wird der Versicherungsnehmer sodann folgern, dass der Unfallversicherer nicht deswegen an seine Erstbemessung der Invalidität gebunden ist, weil er das Recht zur Neubemessung nicht gemäß § 11 IV. Satz 2 AUB 94 zusammen mit seiner Erklärung über die Leistungspflicht ausgeübt hat. Denn nach dem Gesagten erkennt er, dass das Vorbehaltserfordernis nicht die Erstbemessung, sondern allein die Neubemessung der Invalidität betrifft. Hieraus wird er ohne Weiteres schließen, dass sich aus dem Vorbehaltserfordernis keine Folgen für die von der Neubemessung gerade zu unterscheidende Erstbemessung ableiten lassen (BGH, Urteil vom 11. September 2019 – IV ZR 20/18, VersR 2019, 1412 Rz. 15 ff.).

b.

Die Klägerin hat nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen des Landgerichts den ihr nach dem Vorstehenden eröffneten Nachweis geführt, dass sie bei der Erstbemessung der Invalidität bei dem Beklagten fehlerhaft von einem zu hohen Invaliditätsgrad ausgegangen ist und dieser tatsächlich 2/10 Beinwert nicht übersteigt, weshalb sie die überzahlte Invaliditätsleistung nach Bereicherungsrecht zurückfordern kann.

(1)

Nach § 7 I. Abs. 1 Satz 1 AUB 94 entsteht ein Anspruch des Versicherungsnehmers auf eine Kapitalleistung aus der für den Invaliditätsfall versicherten Summe, wenn der Unfall zu einer dauerhaften Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit des Versicherten führt. Diese muss innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten sein sowie – was hier zwischen den Parteien nicht in Streit steht – spätestens vor Ablauf einer Frist von weiteren drei Monaten ärztlich festgestellt und geltend gemacht sein (§ 7 I. Abs. 1 Satz 3 AUB 94). Da hier eine Funktionsbeeinträchtigung des rechten Beines des Klägers in Rede steht, gilt gemäß den Bestimmungen der Gliedertaxe in § 7 I. Abs. 2 a) AUB 94 für die vollständige Funktionsunfähigkeit dieses Beines ein Invaliditätsgrad von 70 Prozent und bei einer Funktionsbeeinträchtigung der entsprechende Teil dieses Prozentsatzes (§ 7 I. Abs. 2 b) AUB 94). Soweit Krankheiten oder Gebrechen bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt haben, wird die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens gekürzt, wenn dieser Anteil mindestens 25 Prozent beträgt (§ 8 AUB 94).

(2)

Aus dem vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachten des Herrn Prof. Dr. S., gegen dessen Feststellungen der Beklagte weder in erster Instanz noch mit der Berufung Einwände erhoben hat, ergibt sich schlüssig und nachvollziehbar eine fehlerhafte Einschätzung der Invalidität des Beklagten durch Herrn Dr. D. in seinem Gutachten vom 25. April 2016, das die Klägerin ihrer Erstfeststellung und der anschließenden Regulierung zugrunde gelegt hatte.

(a)

Wie der Sachverständige dargelegt hat, rechtfertigen die von Herrn Dr. D. bei seiner Untersuchung vor Erstellung des genannten Gutachtens ermittelten Bewegungseinschränkungen des rechten Beines des Beklagten nach den übereinstimmenden Einschätzungsempfehlungen der einschlägigen Literatur keine höhere Invalidität als 4/20 Beinwert. Auch dieser Wert ergibt sich nach den Ausführungen des Sachverständigen nur dann, wenn diejenigen – vom Sachverständigen allerdings mit guten Gründen für vorzugswürdig erachteten – Empfehlungen zugrunde gelegt werden, die außer der Beugeeinschränkung auch die Einschränkungen der Rotation und Adduktion/Abduktion berücksichtigen. Eine Verbesserung der Beweglichkeit des rechten Beines bei der zweiten Untersuchung durch Herrn Dr. D. im Dezember 2017 ergibt sich aus den von ihm ermittelten Bewegungsumfängen nach den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. R. nicht, wobei diese Messwerte dem Sachverständigen zufolge auch noch unzutreffend dokumentiert worden sein müssen („Zahlendreher“; vgl. Gutachten vom 7. Oktober 2020, S. 16). Die minimale Verbesserung der Streckfähigkeit werde durch die vollständige Aufhebung der Abspreizung und der Innendrehung eindeutig aufgewogen. Eine Verbesserung der Beweglichkeit sei angesichts der röntgenologisch dokumentierten, fortschreitenden Arthrose beider Hüftgelenke auch nicht zu erwarten. Dementsprechend lag nach den Feststellungen des Sachverständigen für das rechte Bein des Beklagten auch im Zeitpunkt der zweiten Untersuchung durch Herrn Dr. D. eine Invalidität von 4/20 Beinwert vor – was sich insoweit mit der Einschätzung von Herrn Dr. D. (2/10 Beinwert) rechnerisch deckt.

(b)

Außerdem ist bei der Bemessung der Invalidität durch Herrn Dr. D. eine bei dem Beklagten bereits im Unfallzeitpunkt bestehende, im Röntgenbild nach dem Unfall nachweisbare Arthrose der Hüftgelenke unberücksichtigt geblieben. Wie der Sachverständige Prof. Dr. R. im einzelnen nachvollziehbar dargelegt hat, ist die weitere Entwicklung dieser Arthrose auch nicht durch die bei dem Unfall erlittene Verletzung beeinflusst worden. Da die Fraktur des rechten Oberschenkelknochens außerhalb der knorpeligen Gelenkflächen des Hüftkopfes verlief, gab es keine direkte Verletzung dieser Fläche oder gar der Gelenkpfanne. Denkbar sei als sekundäre Schädigung daher nur eine Durchblutungsstörung des Hüftkopfes aufgrund der Verletzung der unter der Knochenhaut am Schenkelhals verlaufenden, den Hüftkopf versorgenden Arterien mit einer nachfolgenden Hüftkopfnekrose. Für eine solche konnte der Sachverständige aber auch zum Zeitpunkt seiner Untersuchung des Beklagten am 30. August 2020 – mehr als fünfeinhalb Jahre nach dem Unfall – in den Röntgenaufnahmen keine eindeutigen Anzeichen erkennen. Da zum Unfallzeitpunkt die Arthrose in beiden Hüftgelenken zum Unfallzeitpunkt nach den vom Sachverständigen befundeten Röntgenaufnahmen annähernd seitengleich (dabei rechts sogar eher noch etwas stärker als links) ausgeprägt war und sich den Röntgenbefunden zufolge auch im weiteren Verlauf beidseits gleichsinnig verstärkt hat, ist der von dem Sachverständigen vorgeschlagene Ansatz, zur Bemessung des Einflusses dieser unfallunabhängigen Arthrose auf den Invaliditätsgrad die alleine auf die Arthrose zurückzuführende Bewegungseinschränkung des linken Beines heranzuziehen, ohne weiteres einleuchtend. Danach wäre für den Untersuchungszeitpunkt 20. April 2016 ein Viertel der Beeinträchtigung des rechten Beines auf die Arthrose zurückzuführen, weil für das nur von der Arthrose betroffene linke Bein eine Einschränkung der Funktionsfähigkeit von 1/20 Beinwert anzusetzen war. Die Arthrose als Vorerkrankung wäre gemäß § 8 AUB 94 zu berücksichtigen, weil sie zu 25 % an der Invalidität mitgewirkt hat, so dass nur eine Invalidität von 3/20 Beinwert für die Berechnung der Invaliditätsleistung zugrunde gelegt werden kann. Dabei müsste die Arthrose als Vorerkrankung selbst dann Berücksichtigung finden, wenn sie bis zum Unfall klinisch stumm geblieben sein sollte (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2016 – IV ZR 251/14, VersR 2016, 1492; Senat, Urteil vom 2. Oktober 2019 – 5 U 97/18, VersR 2020, 285). Für den Zeitpunkt der zweiten Untersuchung durch Herrn D. im Dezember 2017 wäre sogar von einer Mitwirkung der Arthrose an der gleichbleibenden Invalidität des rechten Beines im Umfang von 50 % auszugehen (Gutachten vom 7. Oktober 2020, S. 25 = Bl. 127 d. A.). Selbst wenn man den lange nach Ablauf der Dreijahresfrist nach dem Unfall, welche auch unter Berücksichtigung des Nachbemessungsverlangens die äußerste zeitliche Grenze für den Prognosezeitpunkt darstellt (vgl. BGH, Urteil vom 18. November 2015 – IV ZR 124/15, VersR 2016, 183), am 30. August 2020 erhobenen Befund von Prof. Dr. R., der eine Invalidität von 6/20 Beinwert rechts angenommen hat (Gutachten vom 7. Oktober 2020, ebenda) zugrunde legen würde, ergäbe sich unter Berücksichtigung der Mitwirkung der Arthrose im Umfang von einem Drittel lediglich ein für die Berechnung der Invaliditätsleistung maßgebender Invaliditätsgrad von 4/20 = 2/10 Beinwert, wie ihn die Klägerin auch ihrem Rückforderungsbegehren zugrunde gelegt hat.

3.

Der Klägerin ist eine Rückforderung des Geleisteten auch nicht nach Treu und Glauben verwehrt, weil sie in dem Abrechnungsschreiben vom 10. Mai 2016 gegenüber dem Beklagten nicht den Eindruck erweckt hat, der Beklagte dürfte den Regulierungsbetrag in jedem Fall auf Dauer behalten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 11. September 2019 – IV ZR 20/18, VersR 2019, 1412 Rz. 19 ff.). Die Erklärungen der Klägerin beschränken sich auf die Aussage, die Höhe der Invaliditätsleistung könne jetzt festgestellt werden, ohne sich darüber hinausgehend darauf festzulegen, diese Feststellung sei abschließend und für die Klägerin unter allen Umständen dauerhaft bindend. Auch den Hinweis auf das Recht beider Vertragsparteien, bis zum Ablauf von drei Jahren nach dem Unfall jährlich die Neubemessung der Invalidität zu verlangen, konnte der Beklagte nicht dahingehend verstehen, die Klägerin wolle an die Erstbemessung auch dann gebunden sein, wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass sie auf einer Fehleinschätzung beruhte (vgl. Senat, Urteil vom 5. Juli 2013 – 5 U 25/13).

4.

Der Zinsanspruch der Klägerin folgt aus § 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, § 288 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB.

5.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt gemäß § 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO entsprechend der erstinstanzlichen Verurteilung des Beklagten 8.053,26 Euro.

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