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Krankenversicherungsvertrag – falsche Angaben bei Abschluss

Berufsunfähigkeitsversicherung und die Tragweite falscher Gesundheitsangaben

Die Bedeutung von korrekten Angaben bei Abschluss eines Krankenversicherungsvertrags kann nicht genug betont werden. Ein aktueller Fall, der vor dem LG Wiesbaden verhandelt wurde, beleuchtet die Konsequenzen, die sich aus ungenauen oder falschen Angaben ergeben können.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 7 O 47/17  >>>

Das Wichtigste in Kürze


  • Klägerin, eine Ärztin, macht Ansprüche aus Berufsunfähigkeitsversicherung geltend.
  • Bei Vertragsabschluss gab Klägerin an, keine schweren Erkrankungen wie Tumorleiden, HIV, psychische Erkrankungen oder Diabetes zu haben.
  • Tatsächlich wurde bei Klägerin 2005 Multiple Sklerose diagnostiziert; sie hatte auch eine Überdosis eines Medikaments eingenommen.
  • Klägerin beantragte 2015 Leistungen wegen Berufsunfähigkeit und gab an, seit 2003 an einem depressiven Syndrom und weiteren Erkrankungen zu leiden.
  • Versicherer lehnte den Leistungsantrag ab und erklärte den Versicherungsvertrag für nichtig, da Klägerin wichtige Gesundheitsinformationen nicht korrekt angegeben hatte.
  • Klägerin argumentierte, sie sei zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses in der Lage gewesen, ihrer Arbeit vollständig nachzugehen.
  • Gericht entschied gegen die Klägerin, da sie bereits bei Vertragsabschluss an Depression und Angststörung litt, was sie im Antrag verneint hatte.

Der Fall im Detail

Die Klägerin, eine Ärztin von Beruf, hatte Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend gemacht. Der Abschluss dieser Versicherung erfolgte im Jahr 2009. Interessanterweise enthielt der Antragsvordruck keine expliziten Gesundheitsfragen. Die Klägerin bestätigte jedoch, dass bei ihr bis zum aktuellen Datum keine schwerwiegenden Erkrankungen wie Tumorleiden, HIV-Infektion, psychische Erkrankungen oder Diabetes mellitus diagnostiziert oder behandelt wurden. Sie betonte auch, dass sie ihrer beruflichen Tätigkeit vollumfänglich nachgehen könne.

Vorherige Erkrankungen der Klägerin

Trotz dieser Erklärung war bei der Klägerin bereits Ende 2005 eine Multiple Sklerose-Erkrankung diagnostiziert worden. Diese Erkrankung verläuft schubförmig. Zudem befand sie sich kurz vor Abschluss des Versicherungsvertrags in stationärer Behandlung, nachdem sie eine Überdosis eines Medikaments eingenommen hatte.

Antrag auf Leistungen wegen Berufsunfähigkeit

Einige Jahre später, im Jahr 2015, beantragte die Klägerin Leistungen wegen Berufsunfähigkeit bei der Beklagten. In diesem Antrag gab sie an, seit 2003 an einem depressiven Syndrom zu leiden, welches sich seit 2012 verstärkt hatte. Zudem bestätigte sie das Vorhandensein einer Angststörung und der bereits erwähnten Multiplen Sklerose seit 2005. Diese und weitere Erkrankungen wurden als Gründe angeführt, warum sie ihrer beruflichen Tätigkeit nicht oder nur teilweise nachgehen konnte.

Die Entscheidung des Versicherers

Nach Durchführung eines Leistungsprüfungsverfahrens, in dem die Beklagte diverse medizinische Unterlagen und Berichte erhielt, lehnte sie den Leistungsantrag der Klägerin ab. Der Hauptgrund für die Ablehnung war die Annahme, dass die Klägerin bei Abschluss des Vertrages wichtige gesundheitliche Informationen entweder weggelassen oder falsch dargestellt hatte. Aufgrund dieser Annahme erklärte die Beklagte den Versicherungsvertrag für nichtig.

Das Urteil

Das Gericht entschied, dass die Klage abgewiesen wird. Die Klägerin wurde zudem dazu verpflichtet, die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Das Urteil wurde unter der Bedingung einer Sicherheitsleistung von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages als vorläufig vollstreckbar erklärt.

Bedeutung und Tragweite

Dieser Fall unterstreicht die immense Bedeutung von wahrheitsgemäßen Angaben bei Abschluss eines Krankenversicherungsvertrags oder einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Es zeigt, dass Falschangaben oder das Weglassen relevanter Informationen erhebliche rechtliche und finanzielle Konsequenzen haben können. Es ist daher von größter Bedeutung, bei der Beantragung solcher Versicherungen stets ehrlich und transparent zu sein, um spätere Komplikationen oder Ablehnungen zu vermeiden.

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Vorvertragliche Anzeigepflicht – kurz erklärt


Beim Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung) hat der Antragssteller eine vorvertragliche Anzeigepflicht. Diese Pflicht verlangt vom Versicherungsnehmer, alle Fragen des Versicherers bezüglich seines Gesundheitszustands und weiterer relevanter Lebensumstände wahrheitsgemäß und vollständig zu beantworten. Die vorvertragliche Anzeigepflicht endet mit der Abgabe des Antragsvordrucks an den Versicherer, das heißt, nach der Antragstellung besteht keine Pflicht mehr, spätere ärztliche Behandlungen oder Veränderungen im Gesundheitszustand nachzumelden. Bei einer vorsätzlichen Verletzung dieser Anzeigepflicht hat der Versicherer das Recht, vom Vertrag zurückzutreten. Dieses Rücktrittsrecht besteht bis zu fünf Jahre nach Vertragsschluss, sofern die Anzeigepflichtverletzung vorsätzlich, aber nicht arglistig war.


Das vorliegende Urteil

LG Wiesbaden – Az.: 7 O 47/17 – Urteil vom 05.08.2022

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin macht Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend. Die Klägerin ist von Beruf Ärztin.

Den Abschluss dieser Versicherung hatte sie unter dem 30.03.2009 beantragt. Explizite Gesundheitsfragen enthielt der Antragsvordruck nicht. Die Klägerin kreuzte die unter Ziff. 6 auf dem Antragsvordruck enthaltene Erklärung

„Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver Aidstest), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfange meiner Berufstätigkeit nachzugehen.

(Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gemäß Formular A 122.)“

an. Auf die Anl. K2 wird Bezug genommen. Die Beklagte nahm den Antrag der Klägerin uneingeschränkt an und stellte am 28.04.2009 den Versicherungsschein gemäß der Anl. K1 aus.

Ende des Jahres 2005 war bei der Klägerin eine Multiple Sklerose-Erkrankung diagnostiziert worden, die schubförmig verläuft. Die Klägerin befand sich am 21.03.2009 in stationärer Behandlung der St. Barbara Klinik, nachdem sie 8 Tabletten Bromazanil 6 mg eingenommen hatte (Anl. BLD 10).

Unter dem 28.05.2015 beantragte die Klägerin Leistungen wegen Berufsunfähigkeit bei der Beklagten. Hierzu füllte sie das als Anl. BLD 2 vorgelegte Antragsformular aus. Dort gab die Klägerin an, seit 2003 und verstärkt seit 2012 an einem depressiven Syndrom bei V.a. bipolare Störung und rezidivierenden depressiven Episoden zu leiden. Eine Angststörung und eine Multiple Sklerose bestehe seit 2005. Daneben wurden weitere seit 2012 aufgetretene Erkrankungen angegeben. Die depressiven Episoden wurden neben weiteren gesundheitlichen Beschwerden als Grund dafür genannt, dass die Klägerin ganz oder teilweise an der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gehindert war. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anl. BLD 2 Bezug genommen.

Die Beklagte führte ein Leistungsprüfungsverfahren durch. Hierbei erhielt sie eine Krankenkassenauskunft der DBV (Anl. BLD 9), ausweislich derer für den Zeitraum 24.04.2006 bis 28.04.2006 eine privatärztliche Behandlung und eine stationäre Behandlung aufgrund „Sonst. näher bez. Verhaltens- +emotion. Störung mit Beginn in Kindh.“ und „Multiple Sklerose“ abgerechnet wurde. Die Beklagte erhielt weitere Arztbriefe, wegen deren Inhalts auf die Anl. BLD 3 bis BLD 10 Bezug genommen wird. Die Beklagte lehnte sodann den Leistungsantrag der Klägerin ab und erklärte mit Schreiben vom 07.04.2016 die Anfechtung des Versicherungsvertrages mit der Begründung, die Klägerin habe bei Abschluss des Vertrages wichtige Angaben zur Gesundheit gar nicht bzw. unrichtig gemacht. Die Beklagte berief sich hierbei auf die Angaben der Klägerin in dem Leistungsantrag, sowie u.a. auf den Aufnahme-Entlassungsbericht der Klinik Dr. … (Anl. BLD 7, 8), die Krankenkassenauskunft (Anl. BLD 9) und den Arztbrief der St. Barbara Klinik vom 24.03.2009 (Anl. BLD 10).

In der für die Klägerin geführten Patientenakte des St.-Josefs-Hospitals ist ein Konsiliarbefund vom 03.03.2015 enthalten, der handschriftliche Eintragungen enthält und auf den Bezug genommen wird.

Die Klägerin befindet sich in Privatinsolvenz.

Mit Schriftsatz vom 04.07.2017 (Bl. 86 ff d.A.) hat die Klägerin auf die Klageerwiderung repliziert und ausgeführt, sie habe nicht über ihre psychische Gesundheit getäuscht, weil sie zum Zeitpunkt der Stellung des Versicherungsantrags fähig gewesen sei, in vollem Umfang ihrer Berufstätigkeit nachzugehen. Zwar habe die Klägerin im Leistungsantrag angegeben, aufgrund einer psychischen und physischen Erkrankung nicht in der Lage zu sein, einem geregelten Tagesablauf nachzugehen, diese Umstände hätten aber im März 2009 nicht vorgelegen.

Erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 14.09.2017 erklärte die Klägerin, entgegen ihrer Angaben in dem Leistungsantrag bestehe das depressive Syndrom nicht seit 2003, sondern erst seit 2013 und verstärkt seit 2012. Dies gelte auch für die Angststörung. Sie habe den Antrag nicht richtig ausgefüllt. Die in dem Arztbrief vom 03.05.2006 (Anl. BLD 8) angesprochene Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit im beruflichen Bereich sei nur zum damaligen Zeitpunkt vorhanden gewesen. 4-6 Wochen später sei sie wieder voll leistungsfähig gewesen. Die Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden sei nicht wegen einer verminderten Leistungsfähigkeit erfolgt, sondern zur Stressvermeidung und um möglichst lange leistungsfähig zu bleiben. Bis zur Antragstellung sei sie voll leistungsfähig gewesen. Unter Bulimie habe sie niemals gelitten, eine solche Erkrankung sei bei ihr auch nie diagnostiziert oder behandelt worden.

Über die bestehende Multiple Sklerose habe sie bei Antragstellung keine Angaben machen müssen, weil die Beklagte hiernach nicht gefragt habe.

Die Beklagte habe die Anfechtungsfrist nicht eingehalten.

Nach mehrfachen teilweisen Klageänderungen und einer teilweisen Klagerücknahme hat die Klägerin zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Vertragsverhältnis nicht durch die Anfechtung des Vertrages wegen arglistiger Täuschung vom 07.04.2016 von Anfang an nichtig ist;

2. a) die Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin den unpfändbaren Teil an den Insolvenzverwalter Anwaltssozietät …, den pfändbaren Teil für den Monat April 2016 monatliche Berufsunfähigkeitsrente 1.308,82 € zzgl. monatlichem Leistungsbonus bei Berufsunfähigkeit 654,41 € abzgl. 126,70 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.05.2016 zu zahlen;

b) die Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin den unpfändbaren Teil an den Insolvenzverwalter …, den pfändbaren Teil ab dem Monat Mai 2016 monatliche Berufsunfähigkeitsrente 1.308,82 € zzgl. monatlichem Leistungsbonus bei Berufsunfähigkeit 654,41 € abzgl. 126,70 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, Klageabweisung.

Sie ist der Auffassung, die erklärte Anfechtung sei wirksam, weshalb sie nicht zur Zahlung verpflichtet sei. Die Klägerin habe bei Antragstellung unzutreffende Angaben gemacht. Die Klägerin sei schon im Rahmen einer spontanen Anzeigepflicht gehalten gewesen, die Multiple Sklerose-Erkrankung zu offenbaren. Es handele sich um einen Umstand, zu dessen Offenbarung die Klägerin aufgrund der offensichtlichen Bedeutung dieser Erkrankung für das durch die Beklagte zu übernehmende Risiko der Berufsunfähigkeit verpflichtet gewesen sei. Die Klägerin habe zudem arglistig verschwiegen, dass sich die Multiple Sklerose-Erkrankung auf ihre berufliche Leistungsfähigkeit ausgewirkt habe, was insbesondere dem Arztbericht vom 03.05.2006 (Anl. BLD 8) zu entnehmen sei.

Die Klägerin habe auch in dem Antrag falsch angegeben, bei ihr sei eine psychische Erkrankung zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht diagnostiziert worden. Bereits dem Leistungsantrag sei das Gegenteil zu entnehmen, weil die Klägerin dort – unstreitig – das Bestehen eines depressiven Syndroms seit 2003 und das Vorliegen einer Angststörung seit 2005 angegeben habe. Die erst im Verlauf des Rechtsstreits erfolgte Änderung des Vortrags der Klägerin sei unglaubhaft und eine Schutzbehauptung. Das folge auch aus der Krankenkassenauskunft, wonach im April 2006 eine stationäre Behandlung wegen einer emotionalen Störung mit Beginn in der Kindheit abgerechnet worden sei. Zudem folge dies aus dem in der Patientenakte des St.-Josefs-Hospitals enthaltenen Konsiliarbefund vom 03.03.2015, nach dem bei der Klägerin schon seit dem Jahr 2005 eine depressive Verstimmung vorgelegen habe, die medikamentös mit Fluoxetin behandelt worden sei und die Klägerin anamnestisch angegeben habe, erstmalig eine depressive Episode im Jahr 1998 gehabt zu haben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des jeweiligen Parteivorbringens wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß der Beweisbeschlüsse vom 28.05.2018 (Bl. 139 d.A.), 29.08.2018 (Bl. 150 d.A.) und 26.08.2020 (Bl. 281 f d.A.) durch Vernehmung von Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Protokolle der Verhandlungen vom 01.11.2018 (Bl. 171 ff d.A.), und 10.03.2022 (Bl. 508 ff d.a.) Bezug genommen.

Die Patientenunterlagen der die Klägerin behandelnden Ärzte (vgl. Sonderbände) lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet, der Klägerin stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu.

Die durch die Beklagte mit Schreiben vom 07.04.2016 erklärte Anfechtung führt ex tunc zur Nichtigkeit des Vertragsverhältnisses, eine Zahlungspflicht der Beklagten besteht nicht.

Die Beklagte hat die Anfechtung zu Recht darauf gestützt, dass die Klägerin bei Antragstellung arglistig falscher Angaben zu ihrem Gesundheitszustand erklärt hat, § 22 VVG, § 123 BGB.

Die Klägerin war allerdings nicht verpflichtet, das Vorliegen der Multiple Sklerose-Erkrankungen im Rahmen einer spontanen Anzeigepflicht anzugeben, weil eine solche Pflicht nicht bestand. Zwar kann sich aus Treu und Glauben über die Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG hinaus auch eine Aufklärungspflicht in Bezug auf nicht oder nicht ordnungsgemäß in Textform erfragte Umstände ergeben. Grundsätzlich darf sich aber der Versicherungsnehmer darauf verlassen, dass der Versicherer die aus seiner Sicht gefahrerheblichen Umstände erfragt. Aufgrund der in § 19 Absatz 1, S. 1 VVG zum Ausdruck kommenden Wertung obliegt dem Versicherer die Mitteilung der Umstände, die für gefahrerheblich ansieht. Eine spontane Anzeigepflicht kann deshalb nur bei Umständen bestehen, die zwar offensichtlich gefahrerheblich, aber so ungewöhnlich sind, dass eine auf sie abzielende Frage nicht erwartet werden kann (vgl. OLG Celle, Urteil vom 09.11.2015, 8 U 101/15, Rn. 77 – zitiert nach juris –). Diese Umstände bestehen bei einer Multiple Sklerose-Erkrankung nicht. Insbesondere ist diese nicht ungewöhnlich. Die Erklärung, deren Abgabe die Beklagte in dem Versicherungsantrag verlangt hat, bezieht sich auf unterschiedliche konkrete Krankheitsbilder. Die Klägerin hatte nicht davon auszugehen, dass sie ungefragt Angaben zu ihrer Multiple Sklerose-Erkrankung zu machen hatte.

Dass zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits eine Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin vorlag, hat die Beweisaufnahme nicht mit einer Sicherheit ergeben, die zu einer über Überzeugungsbildung des Gerichts ausgereicht hat.

Der hierzu einvernommene Zeuge Dr. …, der den Arztbrief vom 20.04.2006 (Anl. BLD 7) verfasst hatte, konnte bezüglich der dort genannten Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht angeben, seit wann diese bestand, bzw., ob diese von Dauer war. Seine eigenen Ausführungen in dem Arztbrief verstand er dahingehend, dass im Verlauf der stationären Behandlung im April 2006 bereits eine Besserung eingetreten war. Auch die dort angesprochene Reduzierung der Arbeitszeit ließ sich nach den Angaben des Zeugen u.U. darauf zurückführen, dass die Klägerin ihre Lebensverhältnisse neu ordnen wollte, wozu auch gehören könne, dass die Arbeitszeit reduziert werde. Der Zeuge erklärte weiter, er könne seinen Unterlagen zwar entnehmen, dass mehrere andere Assistenzärzte und Fachärzte mit der Behandlung der Klägerin während der stationären Behandlung befasst gewesen seien, unter anderem eine Psychologin. Näheres konnte der Zeuge aber hierzu nicht angeben.

Allerdings litt die Klägerin zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits an einer Depression und einer Angststörung, wie sie selbst in dem Leistungsantrag auch angegeben hat. Hierbei handelt es sich um psychische Erkrankungen, deren Vorliegen in der Erklärung die die Klägerin in dem Antragsformular vom 30.03.2009 abgegeben hat, ausdrücklich verneint wurden. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit die Klägerin hierzu die Diagnose eines Arztes erhalten hatte oder Behandlungen erfahren hat. Die Klägerin ist selbst Ärztin und konnte eine entsprechende Diagnose aus eigener Fachkenntnis stellen. Der Inhalt der von der Klägerin abgegebenen Erklärung ist nach dem Verständnishorizont eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers auszulegen. Bei der Beantwortung von Fragen bzw. der Auslegung des Inhalts der hier abgegebenen Erklärung ist nicht am Wortlaut zu haften, der Inhalt ist vielmehr so aufzufassen, wie er in einer auch für den Versicherungsnehmer erkennbaren Weise ersichtlich gemeint ist (vgl. Prölls/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 31. Aufl., § 19 VVG, Rn. 35a mwN). Der Beklagten kam es nach der Formulierung der abzugebenden Erklärung erkennbar darauf an, Kenntnis von tatsächlich vorliegenden näher bezeichneten Erkrankungen zu erhalten, um ihr Risiko abschätzen zu können. Hierzu wollte sie die Einschätzung einer fachkundigen Person (Arzt) erhalten. Für das Informationsbedürfnis der Beklagten war es demnach erkennbar irrelevant, ob die Diagnose der abgefragten Krankheiten durch einen Dritten oder durch die Klägerin als fachkundiger Person selbst erfolgt war.

Nach Würdigung des gesamten Akteninhalts und des prozessualen Verhaltens der Klägerin sowie der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass ihre Angabe in dem Leistungsantrag (Anl. BLD 3), wonach das depressive Syndrom mit Verdacht auf bipolare Störung und rezidivierende depressive Episoden seit 2003 und verstärkt seit 2012 vorlagen, sowie seit 2005 die angegebene Angststörung bestand, zutreffend war.

Erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 14.09.2017 hat die Klägerin behauptet, sie habe den Leistungsantrag nicht richtig ausgefüllt, das depressive Syndrom und die Angststörung bestünden erst seit 2013 und verstärkt seit dem Jahr 2012. Diese Angabe ist schon in Anbetracht der Zeitangaben unlogisch. Wenn diese Erkrankungen erstmals im Jahr 2013 aufgetreten sind, können sie sich nicht schon im Jahr 2012 verstärkt haben. Dem Gericht erscheint es vielmehr naheliegend, dass die Klägerin auf den Vortrag der Beklagten prozesstaktisch reagiert hat. Andernfalls hätte es sich aufgedrängt, schon vorgerichtlich entsprechenden Vortrag zu halten, dies aber spätestens mit der Klageschrift nachzuholen. Die Beklagte hatte die Anfechtung ausdrücklich auch auf die Angaben der Klägerin in dem Leistungsantrag gestützt. Die Klägerin hat aber nicht einmal in ihrer Replik ihre Angaben in dem Leistungsantrag korrigiert und richtiggestellt, sondern vielmehr zu diesem Komplex allein ausgeführt, die psychischen Erkrankungen hätten sich im März 2006 nicht auf ihre berufliche Leistungsfähigkeit ausgewirkt.

Ein weiteres Indiz dafür, dass die Klägerin tatsächlich bereits bei Antragstellung zu dem streitgegenständlichen Versicherungsvertrag an einem depressiven Syndrom litt, ist der als Anl. BLD 9 vorgelegten Krankenkassenauskunft zu entnehmen. Hiernach wurde die Klägerin im April 2006 wegen einer Verhaltensstörung und emotionalen Störung mit Beginn in der Kindheit stationär behandelt. Zu diesem Zeitpunkt fand unstreitig die Behandlung in der Eversklinik statt, in der der Zeuge Dr. … tätig war. Dieser war mit der Behandlung der Multiple Sklerose-Erkrankung befasst. Der Zeuge hat allerdings angegeben, dass die Klägerin in der Klinik durch mehrere weitere Ärzte und eine Psychologin behandelt wurde. Diese Behandler hat die Klägerin trotz der Auflage vom 28.05.2018 (Bl. 139 d.A.) nicht angegeben, sie ergeben sich auch nicht aus den vorgelegten Behandlungsunterlagen. Es ist allerdings nicht erklärlich, aus welchem Grund eine solche Diagnose in der Krankenkassenauskunft enthalten ist, wenn diese nicht gestellt wurde.

Auch die Behandlung vom 21.03.2009 in der St. Barbara Klinik, die eine Woche vor der Antragstellung vom 30.03.2009 stattgefunden hatte, lässt indiziell darauf schließen, dass eine psychische Erkrankung der Klägerin vorlag. Die Klägerin hatte zuvor 8 Tabletten Bromazanil 6 mg eingenommen. Ausweislich des allgemein öffentlich zugänglichen Beipackzettels für dieses Medikament handelt es sich um ein verschreibungspflichtiges Beruhigungsmittel aus der Gruppe der Benzodiazepine zu Behandlung von Beschwerden, die durch akute Spannungs-, Erregungs- und Angstzustände ausgelöst werden. Es wird eine Einnahme von 1-mal ½ Tablette empfohlen, die vom Arzt auf 1 Tablette (Tagesdosis) erhöht werden kann, wobei die Wirkung bei der empfohlenen abendlichen Einnahme bis zum nächsten Abend anhält. Auf mögliche schwere bis schwerste (z.B. Herzversagen einschließlich Herzstillstand) wird explizit hingewiesen, es kann zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten wie z.B. Antidepressiva kommen. Im Falle einer Überdosierung ist in jedem Fall unverzüglich ein Arzt (z.B. Vergiftungsnotruf) zu konsultieren. Vor diesem Hintergrund erscheint es ausgeschlossen, dass die Klägerin als Ärztin „versehentlich aufgrund einer akuten Stesssituation und lediglich in der Absicht schlafen zu können“, wie sie in der Klageschrift ausgeführt hat, eine um das 8 bis 16-fache erhöhte Dosis eingenommen hat.

Aus Vorstehendem folgt zugleich, dass sich die Klägerin ein Psychopharmakon beschafft hat, wozu die Rezeptierung durch einen Arzt erforderlich war –dann wäre von einer Behandlung der psychischen Erkrankung im Sinne der Erklärung in dem Antrag vom 30.03.2009 auszugehen. Sofern sich die Klägerin das Medikament durch Einsatz ihres Arztausweises selbst beschafft hat, gilt nichts anderes. Es handelt sich ausweislich des Beipackzettels nicht primär um ein Schlafmittel, sondern eben um ein Psychopharmakon.

Ein weiteres gewichtiges Indiz für das Vorliegen einer depressiven Erkrankung bereits zum Zeitpunkt März 2006 folgt aus dem Konsiliarbefund vom 03.03.2015, der sich in der Patientenakte des St.-Josefs-Hospitals befindet. In diesem Krankenhaus wurde die Klägerin vorrangig aufgrund der Multiple Sklerose-Erkrankung behandelt. Der Zeuge Dr. …, der konsiliarisch hinzugezogen wurde, hat in seiner Einvernahme bekundet, er habe den betreffenden Bericht verfasst. Der Zeuge hat bestätigt, dass mit seiner Eintragung „ED 2005“ gemeint ist, dass die Erstdiagnose für die Multiple Sklerose-Erkrankung im Jahr 2005 getroffen wurde. Der Zeuge hat ferner bestätigt, dass es sich hierbei und bei der weiteren Eintragung „depressive Verstimmung = Fluoxetin 20, jetzt 40 mg/d“ und „1998 während des Studiums 1. dep. Episode“ um anamnestische Angaben handelte, die er bei der Befragung der Klägerin erhoben hatte. Der Zeuge konnte zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, ob zu den angegebenen Daten tatsächlich eine ärztliche Feststellung im Sinne einer endgültigen Diagnose einer Depression vorgelegen hatte. Er erläuterte aber im weiteren, dass er, wenn er entsprechende Angaben durch den befragten Patienten erhalte, davon ausgehe, dass diese auch zutreffend seien.

Das Gericht ist nach den glaubhaften und nachvollziehbaren Aussagen des Zeugen Dr. … davon überzeugt, dass die Klägerin ihm gegenüber angegeben hat, im Jahr 1998 während des Studiums die erste depressive Episode erlitten zu haben. Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich oder von der Klägerin vorgetragen worden, wie es sonst zu der betreffenden Eintragung gekommen sein könnte. Dass eine ärztliche Diagnosestellung für diesen Zeitpunkt nicht nachgewiesen ist, ist nicht aussagekräftig. Eine Depression ist nicht zwingend ärztlich zu behandeln. Zudem ist die Klägerin selbst Ärztin und deshalb in der Lage, ihre eigene gesundheitliche Situation richtig einzuschätzen.

Der weiter zu diesem Komplex einvernommene Zeuge Dr. … war mit der Behandlung der Multiplen Sklerose bei der Klägerin befasst. Er hat zwar ebenfalls das Vorliegen einer depressiven Störung bei der Klägerin bestätigt, die Behandlung der Multiple Sklerose- Erkrankung war für ihn allerdings vorrangig. Zur Klärung insbesondere auch der Angstattacken der Klägerin und wegen bestehender Blickkrämpfe hatte der Zeuge Dr. … ein psychiatrisches Konsil angeordnet, wodurch der Zeuge Dr. … hinzugezogen wurde. Im Übrigen war die Aussage des Zeugen Dr. … unergiebig.

Die Aussage der Zeugin Dr. … steht vorstehender Würdigung nicht entgegen.

Bei der Zeugin Dr. … befindet sich die Klägerin seit Juli 2006 in hausärztlicher Behandlung. Die Zeugin hat bekundet, sie habe bis Ende 2012 zu keiner Zeit den Eindruck gehabt, dass die Klägerin an einer depressiven Erkrankung leiden könnte, sie habe die Klägerin als lebensbejahende Frau wahrgenommen, die ihr Schicksal tapfer ertrage. Ihr Praxiskollege habe dies bestätigt.

Die Zeugin hat die Klägerin bis Ende 2012 nicht explizit hinsichtlich des Vorliegens einer psychischen Erkrankung untersucht. Es ist dem Gericht aus einer Vielzahl anderer bearbeiteter Rechtsfälle aus dem Bereich des Versicherungsrechts, wofür die Kammer spezialzuständig ist, und des Arzthaftungsrechts bekannt, dass depressive Erkrankungen episodenhaft verlaufen, wobei die Dauer der einzelnen Episoden unterschiedlich sind, deren Schwere und Intensität aber zunehmend sind. Es ist deshalb möglich, dass die Zeugin während einer akuten depressiven Episode keinen Kontakt zu der Klägerin hatte. Ebenso ist es möglich, dass die Zeugin eine depressive Episode als solche nicht wahrgenommen hat. Dass die Klägerin dazu neigte, das Vorliegen ihrer psychischen Erkrankung nicht zu offenbaren, ergibt sich auch aus ihrem Verhalten in der St.Barbara Klinik, in der sie nach der Einnahme einer Überdosis Bromazanil 6 stationär behandelt wurde. Dort wurde sie entgegen ärztlichen Rats auf eigenen Wunsch entlassen und lehnte psychiatrisch psychologische Hilfe ab.

Das Gericht ist ferner davon überzeugt, dass die Klägerin das Bestehen der psychischen Erkrankung in ihrem Antrag vom 30.03.2006 arglistig verschwiegen hat.

Der Klägerin war wohlbewusst, dass sie bereits seit dem Jahr 1998 an depressiven Episoden leidet, andernfalls sie dies nicht im März 2015 dem Zeugen Dr. … hätte mitteilen können. Die Einnahme der Überdosis Bromazanil 6, die nach Überzeugung des Gerichts auf der psychischen Erkrankung des Gerichts beruhte, lag erst eine Woche zurück. Hinsichtlich der Angststörung ist zudem davon auszugehen, dass diese seit dem Jahr 2005 vorlag, wie es die Klägerin in dem Leistungsantrag selbst angegeben hatte. Dieser Zeitraum liegt relativ kurz vor der Antragstellung im März 2006. Irgendeinen Grund dafür, weshalb ihr (auch) die Angststörung bei Antragstellung nicht bewusst gewesen sein könnte, hat die Klägerin nicht angegeben. Der Klägerin war als Ärztin auch bekannt, dass es sich bei einer Depression und einer Angststörung um psychische Erkrankungen handelt, deren Abwesenheit sie ausdrücklich in dem Versicherungsantrag erklärt hatte.

Die Beklagte hat die Anfechtungsfrist, die gem. § 124 Abs. 1 BGB ein Jahr ab Entdeckung der Täuschung beträgt, eingehalten. Der Leistungsantrag der Klägerin datiert vom 28.05.2015, die Anfechtungserklärung vom 04.07.2016, sodass die Jahresfrist offensichtlich gewahrt ist, ohne dass es auf den Prüfungszeitraum der Beklagten ankäme. Die Klägerin hat nicht behauptet, dass ihre Täuschung der Beklagten vor Abschluss der Leistungsprüfung bekannt war. Hierfür ist auch sonst nichts ersichtlich.

Als unterlegene Partei hat die Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.

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