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Unfallversicherung – Nachweis der unfallbedingten Leistungsunfähigkeit durch Zeugen

Unfallversicherung Leistungsanforderung: Eine Motorradfahrerin gegen ihren Versicherer

In der komplexen Welt der Versicherungen steht oft der Begriff der Leistungspflicht im Mittelpunkt juristischer Auseinandersetzungen. Ein solcher Streit wurde vor kurzem zwischen einer Versicherungsnehmerin und ihrem Versicherer, einem Versicherungsverein, ausgetragen. Kern des Streites ist eine von der Motorradfahrerin geforderte Versicherungsleistung aus einer Unfallversicherung nach einem schweren Unfall.

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Hintergrund des Unfalls und der daraus resultierenden Verletzungen

Die Versicherungsnehmerin, die sowohl beruflich als Bürokraft in einer Fahrschule als auch privat als Haushaltsführerin und Mutter zweier Pflegekinder tätig war, erlitt bei einem Unfall schwere Verletzungen. Eine Fahrt mit ihrem Motorrad endete abrupt, als ein Auto ihr die Vorfahrt nahm und sie stürzte. Dabei zog sie sich einen komplexen Knie-Binnenschaden rechts zu, inklusive einer Ruptur des Außenbandes und des vorderen und hinteren Kreuzbandes. Weitere Verletzungen umfassten eine Prellung des Schambeins, ein ausgedehntes Hämatom, eine Prellung der linken Mittelhand und Prellungen beider Sprunggelenke.

Medizinische Versorgung und nachfolgende Behandlungen

Nach dem Unfall wurde die Klägerin operiert, um die Schäden an ihrem Knie zu behandeln. Eine vordere Kreuzbandplastik, eine Refixation des Außenbandes und Eingriffe am Knorpel waren notwendig, während das hintere Kreuzband nicht operativ versorgt wurde, sondern eine PCL-Schiene angelegt wurde. Diese trug die Klägerin bis zum 23.09.2014, wobei zwischen den Parteien umstritten ist, ob und in welchem Umfang das Bewegungsausmaß sowie die Belastungsfähigkeit beschränkt war.

Der Streit um die Versicherungsleistung

Die Klägerin begehrt von ihrem Versicherungsverein Versicherungsleistungen aus ihrer Unfallversicherung. Der Versicherer hat bisher die Leistung verweigert, was die Klägerin vor Gericht angefochten hat. Das Landgericht Kassel hat in erster Instanz entschieden und das Urteil wurde vom Oberlandesgericht Frankfurt in der Berufung bestätigt. Die Klägerin muss nun die Kosten des Berufungsverfahrens tragen und eine Revision wurde nicht zugelassen.

Diese Rechtssache wirft wichtige Fragen zum Umfang und zur Interpretation von Versicherungsbedingungen und -leistungen auf, insbesondere in Bezug auf Unfallversicherungen und die Komplexität von Unfallfolgen. Sie ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig es ist, sich mit den Feinheiten und Besonderheiten seiner Versicherungsverträge auseinanderzusetzen.


Das vorliegende Urteil

OLG Frankfurt – Az.: 14 U 231/18 – Urteil vom 23.02.2021

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Kassel vom 16.11.2018 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Versicherungsleistungen aus einer Unfallversicherung.

Die Klägerin unterhält bei dem A (im Folgenden Versicherungsverein) einen Vertrag über eine allgemeine Unfallversicherung. Ausweislich der von der Beklagten stammenden Beitragsrechnung vom 17.09.2013 betrug die Übergangsleistung mit Dynamik 10.850,00 €. Als Risikoträger war in der Beitragsrechnung der Versicherungsverein (Bd. I Bl. 32-33 d.A.) benannt.

Zum Unfallzeitpunkt lagen dem Vertrag die Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung des Versicherungsvereins (im Folgenden AUB 2000) mit Stand 01.01.2002 bzw. 01.01.2006 (Bd. I Bl. 15-20 d.A.) zu Grunde.

Die Klägerin war vor dem Unfall vormittags beruflich als Bürokraft in einer Fahrschule, die Dienstag-, Donnerstag- und Samstagvormittag von 10:00 Uhr bis 12:00 Uhr geöffnet war, tätig. Wegen der Einzelheiten der von der Klägerin im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit durchzuführenden Arbeiten wird auf Ziffer II. 1. des Senatsbeschlusses vom 06.09.2019 (Bd. II, Bl. 143-145 d.A.) Bezug genommen.

Außerberuflich war die Klägerin vor dem Unfall insbesondere mit der Führung des Haushalts, der Betreuung der beiden Pflegekinder sowie der Pflege der beiden Hunde der Familie betraut. Wegen der Einzelheiten der von der Klägerin insoweit erbrachten Arbeiten wird auf Ziffer II. 2. des Senatsbeschlusses vom 06.09.2019 (Bd. II, Bl. 143-145 d.A.) Bezug genommen. Darüber hinaus ging die Klägerin bis zu ihrem Unfall dreimal pro Woche zum Paartanz und zweimal pro Woche zum Zumba. An einem Abend pro Woche fand entweder ein Kinobesuch oder ein Besuch bei Freunden statt. Am Wochenende unternahm die Klägerin Motorradfahrten oder andere Ausflüge.

Am 07.06.2014 wurde der Klägerin als Motorradfahrerin von einem PKW die Vorfahrt genommen und sie stürzte. Bei diesem Sturz erlitt sie einen komplexen Knie-Binnenschaden rechts mit Ruptur des Außenbandes und des vorderen und hinteren Kreuzbandes sowie eine Prellung des Schambeins mit ausgedehntem Hämatom, eine Prellung der linken Mittelhand und Prellungen beider Sprunggelenke. Im Rahmen einer am 20.06.2014 erfolgten Operation wurde eine vordere Kreuzbandplastik, eine Refixation des Außenbandes sowie Eingriffe am Knorpel vorgenommen. Das hintere Kreuzband wurde nicht operativ versorgt, sondern eine PCL-Schiene angelegt. Diese trug die Klägerin bis zum 23.09.2014, wobei zwischen den Parteien umstritten ist, ob und in welchem Umfang das Bewegungsausmaß sowie die Belastungsfähigkeit beschränkt war.

Im Anschluss erhielt die Klägerin eine weitere Orthese, die sie bis Ende November 2014 trug. Während dieser Zeit war die Klägerin auf Gehstützen angewiesen, wobei die Belastung kontinuierlich gesteigert werden sollte. Anfang Dezember 2014 war der Klägerin eine Fortbewegung auch ohne Gehstützen möglich. Am 02.12.2014 fand eine ärztliche Belastungsprobe statt (vgl. Befundbericht vom 02.12.2014 – Bd. II, Bl. 17 d.A. und Arztbericht vom 16.12.2014).

Jedenfalls bis zum 30.9.2014 war die Klägerin zu mehr als 50% invalide im Sinne der Ziffer 2.2.1 AUB 2000, bis einschließlich 11.1.2015 war sie arbeitsunfähig krankgeschrieben. Im Anschluss daran erfolgte eine Wiedereingliederung.

Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin die Zahlung der Überleistung gemäß Ziffer 2.2.1 der AUB 2000 in Höhe von 10.850,00 € nebst Verzugszinsen sowie Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten nebst Prozesszinsen. Zur Stützung ihres Klagebegehrens hat die Klägerin behauptet, sie habe während des Tragens der PCL-Schiene bis zum 23.09.2014 ihr Bein nicht belasten dürfen. Bis zu diesem Zeitpunkt sei sie quasi ein Pflegefall gewesen, habe nicht Treppensteigen und nicht alleine für ihre Körperpflege sorgen können. Haushaltstätigkeiten seien ihr bis einschließlich Anfang Februar 2015 nicht möglich gewesen. Gleiches gelte für die Freizeitaktivitäten.

Das Landgericht hat aufgrund Beweisbeschluss vom 28.12.2016 Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 04.04.2017, das Ergänzungsgutachten vom 26.07.2017 und die Erläuterung des Sachverständigen anlässlich der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2018 (Bd. II, Bl. 1-8 d.A.) Bezug genommen. Zudem ist die Klägerin informatorisch angehört worden (Bd. II, Bl. 1-8 d.A.).

Mit dem angefochtenen Urteil der 2. Zivilkammer vom 16.11.2018, auf das wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sachverhalts und der zuletzt gestellten Anträge gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen wird (Bd. II, Bl. 396-402 d.A.), hat das Landgericht Kassel die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe den ihr obliegenden Beweis dafür, dass die Voraussetzungen für die Zahlung der sogenannten Übergangsleistung aufgrund des zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherungsvertrags vorliegen, nicht geführt. Nach den dem Versicherungsvertrag zu Grunde liegenden Allgemeinen Bedingungen für die Unfallversicherung sei Leistungsvoraussetzung eine mindestens sechsmonatige Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit der versicherten Person, in einem Zeitraum von sechs Monaten vom Unfalltag angerechnet. Eine solche mindestens 50-prozentige Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit habe bei der Klägerin nicht in dem Mindestzeitraum von sechs Monaten vorgelegen. Die durchgeführte Beweisaufnahme habe vielmehr zur Überzeugung der Kammer ergeben, dass die Klägerin auch unter Berücksichtigung ihrer konkreten beruflichen und privaten Tätigkeiten weniger als sechs Monate zumindest 50 % unfallbedingt beeinträchtigt gewesen sei. Dies ergebe sich aus den Ausführungen des Sachverständigen, denen das Gericht folge. Auch die Klägerin habe informatorisch angehört eingeräumt, ihr Bein lediglich drei Monate lang, d.h. bis Anfang September 2014, nicht bewegt zu haben. Dass es der Klägerin nach einer solchen Ruhigstellung nur allmählich möglich sei, die Belastungen zu steigern habe der Sachverständige berücksichtigt, wobei auch zu berücksichtigen sei, dass die Klägerin selbst bekundet habe, dass sie im Laufe des Monats November die ersten Schritte ohne Gehhilfen habe machen können und ab Dezember wieder „einigermaßen beweglich“ gewesen zu sein. Bereits aus diesem Vorbringen lasse sich eine mindestens 50-prozentige Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit im maßgeblichen Zeitpunkt bis zum 06.12.2014 nicht herleiten. Der Sachverständige habe auch nicht lediglich auf die Invalidität abgestellt, sondern auch Ausführungen zur körperlichen Leistungsfähigkeit unter Zuhilfenahme von Tabellenwerken insbesondere zur Minderung der Erwerbsfähigkeit und zum Grad der Behinderung gemacht und den Vortrag der Klägerin zu ihrer beruflichen Tätigkeit berücksichtigt.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Anträge weiter. Das Landgericht habe einen fehlerhaften rechtlichen Maßstab angelegt, in dem es die Tatbestandsmerkmale „im beruflichen oder außerberuflichen Bereich“ in der maßgeblichen Ziffer 2.2.1 AUB 2000 nicht berücksichtigt habe. Der Sachverständige habe die konkreten beruflichen und außerberuflichen Umstände der Lebensführung der Klägerin nicht hinreichend berücksichtigt und fehlerhafterweise nicht auf die individuelle Situation der Klägerin abgestellt, sondern allgemeine Individualitätsmaßstäbe zu Grunde gelegt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, unter Abänderung des am 16.11.2018 verkündeten Urteils des Landgerichts Kassel zum Az. 2 O 692/16

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 10.850,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9.4.2015 zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.101,94 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.3.2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Entgegen der Auffassung der Klägerin hätten sowohl der Sachverständige als auch das Landgericht die konkreten Leistungsvoraussetzungen berücksichtigt und sich mit dem diesbezüglichen Vortrag der Klägerin auseinandergesetzt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutenachtens; hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen B vom 15.11.2019 (Bd. II, Bl. 152-157 d.A.) und die mündliche Erläuterung anlässlich der Verhandlung vom 26.01.2021 (Bd. II, Bl. 24-32 d.A.) Bezug genommen.

II.

1. Die Berufung ist zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden und auch im Übrigen statthaft. In der Sache ist die Berufung der Klägerin jedoch unbegründet.

a. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Übergangsleistung in Höhe von 10.850,00 € aus §§ 1, 178 VVG i.V.m. dem Versicherungsvertrag i.V.m. Ziffer 1.3, 2.2-2.2.2 AUB 2000.

Gemäß Ziff. 2.2.1. AUB ist Voraussetzung für die Übergangsleistung, dass die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit der versicherten Person im beruflichen oder außerberuflichen Bereich unfallbedingt nach Ablauf von 6 Monaten vom Unfalltag angerechnet und ohne Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen noch um mindestens 50 % beeinträchtigt ist und diese Beeinträchtigung innerhalb der 6 Monate ununterbrochen bestanden hat. Beide Möglichkeiten der Beeinträchtigung (beruflich / privat) stehen nebeneinander, wobei die konkrete Auswirkung bei der Berufsausübung bzw. im privaten Bereich entscheidend ist (Knappmann in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz: VVG, 31. Auflage 2021, AUB 2010 Abs. 2 Ziff. Rn. 6, AUB Abs. 2 Ziff. 2 Rn. 56).

Ausgehend von diesen Voraussetzungen steht der Klägerin gegen die Beklagte kein Anspruch auf Zahlung der begehrten Übergangsleistung zu.

aa. Einem Anspruch steht dabei nicht entgegen, dass ausweislich des Versicherungsscheines Vertragspartnerin der Klägerin nicht die Beklagte, sondern der zum selben Konzern gehörende Versicherungsverein ist, der auch nach der von der Beklagten stammenden Beitragsrechnung vom 17.09.2013 Risikoträger war. Denn jedenfalls steht aufgrund der – den Senat bindenden – erstinstanzlichen Feststellungen fest, dass die Beklagte neben dem eigentlichen Vertragspartner gegenüber der Klägerin haftet.

bb. Dass es sich bei dem in Rede stehenden Vorfall vom XX.06.2014 um einen Unfall im Sinne von Ziff. 1.3 AUB 2008 handelt, steht zwischen den Parteien nicht im Streit.

cc. Nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme hat die Klägerin jedoch den ihr obliegenden Beweis (vgl. Jacob in: BeckOK VVG, Marlow/Spuhl, 9. Edition, Stand: 09.11.2020, § 178 Rn. 72) nicht geführt, dass eine unfallbedingte Beeinträchtigung von mindestens 50% im beruflichen oder privaten Bereich für die Dauer von 6 Monaten ununterbrochen bestanden hat.

Bei der Bemessung der Beeinträchtigung im beruflichen Bereich kommt es auf die von der versicherten Person bis zum Unfall ausgeübte berufliche Tätigkeit – und nicht auf die Beeinträchtigung der allgemeinen Arbeitsfähigkeit – an (Knappmann in: Prölss/Martin, VVG, 31. Auflage 2021 AUB Ziff. 2 Rn. 56; Jacob in: BeckOK VVG, Marlow/Spuhl, 9. Edition, Stand: 09.11.2020, § 178 Rn. 64). Im Falle einer Beeinträchtigung der normalen körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit im außerberuflichen Bereich kommt es maßgeblich auf die allgemeine Leistungsfähigkeit der versicherten Person an, so dass – da Bezugspunkt für die Frage des Invaliditätseintritts der „normale“ Zustand des Versicherten ist, wie er sich vor dem Unfall darstellte – die Invaliditätsbemessung anhand eines Vergleichs der individuellen Leistungsfähigkeit vor und nach dem Unfall zu erfolgen hat (vgl. Jacob in: BeckOK VVG, Marlow/Spuhl, 9. Edition, Stand: 09.11.2020, § 180 Rn. 31).

Ausgehend von den vorgenannten Grundsätzen ist zwar zwischen den Parteien unstreitig, dass die Klägerin unfallbedingt bis zum 23.09.2014 zu mindestens 50% im beruflichen und privaten Bereich beeinträchtigt gewesen ist. Eine – ausgehend vom Unfalltag (= XX.06.2014) – auch über den 06.12.2014 hinaus fortbestehende Beeinträchtigung liegt nach den im Berufungsrechtszug ergänzten Ausführungen des Sachverständigen, denen der Senat nach Überprüfung folgt, nicht vor:

(1) Der Sachverständige B, an dessen Fachkunde als Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie und Orthopädie der Senat keine Ansicht zu zweifeln sieht, hat unter Berücksichtigung der von der Klägerin in beruflicher Hinblick ausgeübten Tätigkeiten vor dem Unfallgeschehen daran festgehalten, dass eine mindestens 50%ige Leistungsunfähigkeit im beruflichen Bereich jedenfalls ab Dezember 2014 nicht mehr anzunehmen ist. Ausgegangen ist der Sachverständige dabei von den sich aus den ärztlichen Behandlungsunterlagen ergebenden Behandlungsfortschritt, der mit den Angaben der Klägerin übereinstimmt. Danach war der Klägerin nach Erhalt der Orthese (23.09.2014) für die letzte Septemberwoche 2014 zunächst ein leichtes Auftippen, sodann eine Minimalbelastung mit dem verletzten Bein, im weiteren eine Steigerung der Belastung bis Mitte Oktober 2014 auf 50% und bis Mitte November 2014 auf 100% erlaubt. Ende November 2014 konnte die Klägerin dann erste Schritte ohne Gehilfe und Orthese zurücklegen. Unter Berücksichtigung dieser Angaben und unter Auswertung des ärztlichen Stresstests vom 02.12.2014 und des darauf basierenden ärztlichen Berichts vom 16.12.2014 hat der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend dargetan, dass bereits ab dem Datum der Vollbelastungsmöglichkeit die Ausübung einer primär sitzenden Tätigkeit als Bürokraft grundsätzlich ebenso möglich ist, wie die von der Klägerin geschilderten, stehend zu verrichtenden Tätigkeiten, wie Entgegennahme von Post und Lernmaterial sowie Ein- und Ausräumen der Spülmaschine. Ausgehend davon hat der Sachverständige überzeugend bis Ende November eine maximal 40%ige Leistungsunfähigkeit angesetzt. Wie der Sachverständige dargelegt hat, hat er hierbei aus medizinischer Sicht insbesondere berücksichtigt, dass einerseits nach ärztlicher Erfahrung nach einer Teilbelastung nicht eine sofortige Vollbelastung möglich ist und zunächst eine auch die Funktion des Kniegelenks betreffende Gewöhnung und Anpassung erfolgen muss, andererseits die Tätigkeit der Klägerin weder schwere körperliche Arbeit umfasst, noch die Notwendigkeit, länger Strecken zu gehen oder lange zu stehen.

Ab dem Monat Dezember 2014 hat Sachverständige unter Auswertung des ärztlichen Berichts über den Stresstest, in dem nach den Angaben des Sachverständige eine stabile Situation im Bereich des vorderen Kreuzbandes und eine ein- bis zweigradige Instabilität des hinteren Kreuzbandes bei guter Kniebeweglichkeit und eine Stabilität der beiden Seitenbänder bescheinigt wurde, nachvollziehbar ausgeführt, dass noch eine maximal 30%ige-Leistungsunfähigkeit im beruflichen Bereich anzunehmen ist. Insbesondere war die Klägerin nach den Angaben des Sachverständigen aufgrund der guten Kniebeweglichkeit in der Lage ein Fahrzeug zu fahren. Soweit die Klägerin auf das Erfordernis einer weiteren Operation zur Beseitigung einer fortbestehenden Kniegelenksinstabilität verweisen hat, hat der Sachverständige nachvollziehbar unter Auswertung des MRT-Berichts vom 23.04.2015, des ärztlichen Verlaufsberichts vom 08.06.2016 und der Arztberichte vom 14.06.2017 und vom 04.07.2017 ausgeführt, dass sich eine dort diagnostizierte chronische Instabilität auch erst im Laufe der nachfolgenden Zeit entwickeln kann und dies keine Rückschlüsse auf den Zustand Anfang Dezember 2014 zulässt.

Soweit die Klägerin mit ihrer Berufung auch geltend gemacht hat, dass es ihr in beruflicher Hinsicht bis Ende 2014 weder möglich gewesen sei, schwere Pakete mit Lernmaterial anzunehmen, noch den Inhalt in Schränke zu räumen, da sie sich nicht habe hinknien können und sie auch noch nicht lange habe stehen können, um Geschirr zu spülen und einzuräumen, verfängt dies nicht. Zum einen handelt es sich bei diesen Tätigkeiten nur um einen Teil der von der Klägerin zu erbringenden Arbeiten. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass diese Tätigkeiten – wollte man insoweit von einer fortbestehenden vollständigen Unfähigkeit derartiger Tätigkeiten ausgehen – eine insgesamt 50%ige Leistungsunfähigkeit nach sich ziehen würden, nachdem die Klägerin keinen Vortrag zu dem genauen Umfang der einzelnen Tätigkeiten geleistet hat. Im Übrigen hat der Sachverständige im Hinblick auf die fortbestehenden Schmerzen beim Hinknien und bei Belastungen ausgeführt, dass dies – neben einer unfallbedingten Instabilität des Außenbandes – auch Folge von bereits vor dem Unfall bestehenden Knorpelschäden und dem Gewicht der Klägerin sein kann, so dass auch nicht zur Überzeugung des Senats feststünde, dass diese Einschränkungen unfallbedingt hervorgerufen wurden.

Soweit die Klägerin beanstandet, dass der Sachverständige seine Ausführungen allein auf den Invaliditätsbegriff gestützt und nicht auf die individuelle Leistungsfähigkeit der Klägerin in beruflicher und privater Hinsicht abgestellt habe, verfängt dies nicht. Zwar hat der Sachverständige in seinen schriftlichen Gutachten auch auf den „GdB“ (Grad der Behinderung) und die „MdE“ (Minderung der Erwerbsfähigkeit) abgestellt und damit auf im Sozialversicherungsrecht und im Schwerbehindertenrecht verwendete Begriffe, die nicht mit den im Rahmen des privaten Unfall- bzw. Berufsunfähigkeitsversicherungsrechts verwendeten Begrifflichkeiten übereinstimmen und einen individuellen Bezug vermissen lassen. Dabei handelt es sich jedoch – wie der Sachverständige anlässlich seiner Anhörung erläutert hat – lediglich um Orientierungswerte, die er zur Beurteilung der Leistungseinschränkungen der Klägerin herangezogen hat und sodann einer individuellen Prüfung unter Berücksichtigung der konkreten komplexen Knieverletzung der Klägerin und der von ihr zuvor ausgeübten Tätigkeit unterworfen hat. Dies ist nicht zu beanstanden.

Einer ergänzenden Beweisaufnahme, insbesondere durch Vernehmung der von der Klägerin zu ihrer Leistungsfähigkeit benannten Zeugen bedurfte es nicht. Bei der Frage, ob und in welchem Umfang die Klägerin aufgrund der erlittenen Verletzung nicht mehr in der Lage war, ihren bisherigen beruflichen und privaten Tätigkeiten nachzugehen, handelt es sich um fachmedizinische Bewertungen, die ausgehend von festgestellten Tatsachen (hier: den erlittenen Verletzungen, den sich daran anschließenden Behandlungen und dem Heilungsfortschritt) zu ziehen sind. Derartige fachmedizinische Schlüsse bzw. medizinische Fragestellungen sind dem Zeugenbeweis entzogen und dem Sachverständigenbeweis vorbehalten (vgl. zur Berufsunfähigkeitsversicherung: Mertens in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, Versicherungsvertragsgesetz, 4. Auflage 2020, § 172 Rn. 49; Neuhaus in: Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 4. Auflage 2020, Kapitel 18 Rn. 14). Demgegenüber könnten Zeugen lediglich bekunden, welche Tätigkeiten die Klägerin Dritten überlassen hat, ohne jedoch Angaben dazu machen zu können, ob dies auch aus medizinischer Sicht erforderlich gewesen ist.

(2) Auch eine unfallbedingte Leistungsunfähigkeit von mindestens 50% im privaten Bereich hat der Sachverständige jedenfalls ab Dezember 2014 nicht zu bestätigen vermocht. Auch insoweit hat der Sachverständige unter Berücksichtigung der seit Oktober 2014 bestehenden Möglichkeit zur Vollbelastung, dem Erfordernis einer Anpassung und Gewöhnung und der im Dezember im Rahmen des Stresstests festgestellten geringfügigen Instabilität des hinteren Bandes, der guten Kniegelenksbeweglichkeit, der stabilen Seitenbändern und einem stabilen vorderen Kreuzband ausgeführt, dass bei der Führung des Haushalts und der Betreuung der Pflegekinder keine höhere als 30%ige Einschränkung der Leistungsfähigkeit anzunehmen sein. Insbesondere hat der Sachverständige bestätigt, dass es der Kläger aus medizinischer Sicht auch längeres Stehen, etwa zum Kochen oder Wäscheaufhängen, möglich gewesen ist.

Lediglich im Hinblick auf den 3-mal wöchentlich stattfindenden Paartanz und die die 2-mal wöchentlich stattfindenden Zumba-Kurse sowie den Motorradausfahrten hat der Sachverständige aufgrund der Muskelminderung und der reduzierten Koordination aus medizinischer Hinsicht von einer Durchführung abgeraten. Diese partielle Leistungsunfähigkeit hat der Sachverständige bei der Bemessung der insgesamt eingetretenen Leistungsunfähigkeit in privater Hinsicht berücksichtigt.

Nach alledem hat die Klägerin gegen die Beklagte mangels einer mindestens 50%igen Leistungsunfähigkeit über den 06.12.2014 hinaus keinen Anspruch auf die geltend gemachte Übergangsleistung.

b. Da die Berufung der Klägerin hinsichtlich der geltend gemachten Hauptforderung keinen Erfolg hat, bestehen auch die verfolgten Nebenansprüche nicht.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Revision zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

4. Der Gebührenstreitwert beträgt 10.850,00 € (§ 3 ZPO, § 48 Abs. 1 Satz 1 GKG).

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