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Unfallversicherung – Anforderungen an ärztliche Invaliditätsfeststellung

OLG Jena – Az.: 4 U 1149/20 – Urteil vom 30.07.2021

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Gera vom 18.09.2020, Az. 3 O 32/20, wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Gera ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstrecken den Betrages leisten.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung.

Zum Sachstand, zum Vorbringen der Parteien und zu den in I. Instanz gestellten Anträgen wird auf den Tatbestand des angegriffenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

Das Landgericht hat die Klage durch Urteil vom 18.09.2020 abgewiesen.

Der Kläger hat gegen dieses ihm am 28.09.2020 zugestellte Urteil mit einem bei dem Berufungsgericht am 23.10.2020 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Diese hat er mit einem bei dem Berufungsgericht am 27.11.2020 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Mit der Berufung rügt der Kläger, er habe einen Anspruch gegen die Beklagte zu 1, weil sie mit der Schadenbearbeitung beauftragt gewesen sei; im Zusammenhang mit den weiteren Ausführungen in § 1 der Versicherungsbedingungen ergebe dies einen Anspruch auch gegen die Beklagte zu 1.

Die Anlage K5 sei das gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b der Versicherungsbedingungen erforderliche Attest. Die Anlage K5 sei auslegungsfähig. Hinsichtlich der Auslegung habe er Beweis angeboten durch Vernehmung des Zeugen Dr. B. Der Zeuge sei der Auffassung, er habe eine dauernde Beeinträchtigung und somit eine Invalidität festgestellt; lediglich der Umfang sei noch offen.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts sei ihm die ärztliche Feststellung der Invalidität innerhalb der Frist von 18 Monaten nach dem Unfall unter Berücksichtigung des späten Zugangs der Belehrung nicht möglich gewesen.

Wegen des weiteren Vorbringens des Klägers wird auf seine Berufungsbegründung vom 27.11.2020 Bezug genommen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landgerichts Gera vom 18.09.2020, Az. 3 O 32/20, abzuändern und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an ihn 88.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.08.2019 zu zahlen sowie ihn von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.217,45 € freizustellen.

Die Beklagten beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung. Wegen ihres Vorbringens wird auf ihre Berufungserwiderung vom 14.01.2021 Bezug genommen.

II.

1. Die Berufung des Klägers ist zulässig; sie ist statthaft (§ 511 ZPO) und auch im Übrigen in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden, insbesondere ist sie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 517, 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO).

2. Die Berufung ist aber unbegründet.

Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch auf Invaliditätsleistung aus dem Versicherungsvertrag vom 04.08.2014 i.V.m. §§ 16, 20 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 2 Versicherungsbedingungen U4 Konzept Tarif advanced 01/2013 (im Folgenden: AUB).

a) Der Beklagte zu 1 ist nicht passivlegitimiert.

Zur Begründetheit der Klage gehört, dass das eingeklagte Recht dem Kläger zusteht, er Träger dieses Rechts ist, und dass es sich gegen den Beklagen richtet, der der materiell-rechtlich Verpflichtete ist (Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 40. Auflage 2019, Vorb § 253 Rn. 39). Dies ist hinsichtlich der Beklagten zu 1 hier nicht der Fall.

Entgegen der Auffassung des Klägers kann sich ein Anspruch auf Versicherungsleistungen auch gegen die Beklagte zu 1 nicht aus dem Umstand ergeben, dass die Beklagte zu 1 gemäß § 1 Nr. 4 AUB mit der Schadenbearbeitung beauftragt war; dies gilt auch unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen in § 1 AUB.

Denn Versicherer ist nicht die Beklagte zu 1, sondern allein die Beklagte zu 2.

Aus § 1 AUB ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers nichts, was dem entgegenstehen bzw. was eine materiell-rechtliche Verpflichtung auch des Beklagten zu 1 begründen könnte. Dort ist nicht ausdrücklich bestimmt, dass ein Anspruch auf Versicherungsleistungen auch gegen die Beklagte zu 1 geltend gemacht werden kann; aus welchen „weiteren Ausführungen in § 1“ sich ein solcher Anspruch ergeben soll, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

b) Hinsichtlich der Beklagten zu 2 fehlt es an der Anspruchsvoraussetzung (BGH, Urteil vom 07. März 2007 – IV ZR 137/06 –, Rn. 9, juris) einer innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellten Invalidität (§ 20 Abs. I Nr. 1 Buchst. b AUB, § 186 VVG), worauf sich die Beklagte zu 2 berufen kann (§ 186 VVG)

aa) Der Kläger hat die Invaliditätsfeststellungsfrist versäumt.

Gemäß § 20 Abs. I Nr. 1 Buchst. b AUB muss die Invalidität innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt werden. Dies ist hier nicht erfolgt.

Für die ärztliche Feststellung werden die Anforderungen im Allgemeinen als nicht sehr hoch bezeichnet (Grimm/Kloth, Unfallversicherung, 6. Auflage 2021, AUB Ziff. 2 Rn. 22 m.w.N.).

Die ärztliche Feststellung der Invalidität ist die allein ärztlicher Sachkunde und Erfahrung getragene Beurteilung, ob und in welchem Umfang bestimmte Gesundheitsschädigungen auf das Unfallereignis zurückzuführen sind und ob die Gesundheitsschädigungen die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit bzw. die Arbeitsfähigkeit auf Dauer mindern (Grimm/Kloth, aaO, AUB Ziff. 2 Rn. 22). An die Feststellung der Invalidität sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Sie braucht den Eintritt der Invalidität nur dem Grunde nach zu bestätigen und braucht sich nicht an der Gliedertaxe auszurichten (Grimm/Kloth, aaO, AUB Ziff. 2 Rn. 24). Aus der Invaliditätsfeststellung müssen sich aber die ärztlicherseits dafür angenommene Ursache und die Art ihrer Auswirkung ergeben. Denn dies soll dem Versicherer Gelegenheit geben, dem geltend gemachten Versicherungsfall nachzugehen und seine Leistungspflicht auf Grundlage der ärztlichen Feststellung zu prüfen (Grimm/Kloth, aaO, AUB Ziff. 2 Rn. 24).

Aus der ärztlichen Feststellung müssen sich die vom Arzt angenommene Ursache der Invalidität und die Art ihrer Auswirkung auf die Gesundheit des Versicherten ergeben. Weiterhin muss festgestellt werden, dass das Unfallereignis für den Dauerschaden (mit-)ursächlich ist (Möglichkeit der Kausalität reicht nicht) (Prölss/Martin/Knappmann, VVG, 31. Auflage 2021, AUB 2014 Ziff. 2 Rn. 12, Seite 3046 f.).

Im Streitfall ist eine solche Feststellung bis zum Fristende am 07.09.2019 (18 Monate nach dem Unfall am 07.03.2018) nicht erfolgt.

Als Invaliditätsfeststellung kommt hier allein das ärztliche Attest des Oberarztes Dr. B. vom 12.07.2019 (Anlage K5) in Betracht.

Aus diesem Attest ergibt sich zwar, dass der Kläger auf Dauer beeinträchtigt ist. Die nach § 20 Abs. I Nr. 1 Buchst. b AB von einem Arzt festzustellende Invalidität ist aber nach § 20 Abs. I Nr. 1 Buchst. a Satz 1 AUB definiert als „unfallbedingt dauerhaft beeinträchtigt“; nur dann liegt eine bedingungsgemäße Invalidität vor. Dass die beim Kläger dauerhaft vorliegende Beeinträchtigung unfallbedingt war, hat Oberarzt Dr. B. aber nicht festgestellt. Ob durch die bei dem Unfall („Hierdurch“) erlittenen Verletzungen eine dauernde Beeinträchtigung eingetreten ist, sei – so seine Angaben in Ziffer 1 des Formulars – „noch nicht zu beurteilen“, konnte von ihm also nicht bejaht werden. Im Übrigen wird Bezug genommen auf die insoweit zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung (Seite 3 f. des Urteils).

Das Berufungsvorbringen führt zu keiner anderen Beurteilung. Der Kläger kann nicht damit gehört werden, das Attest des Oberarztes Dr. B. vom 12.07.2019 (Anlage K5) sei auslegungsfähig. Hinsichtlich der Auslegung habe er Beweis angeboten durch Vernehmung des Oberarztes Dr. B. Der Zeuge sei der Auffassung, er habe eine dauernde Invalidität und somit eine Invalidität festgestellt; lediglich der Umfang sei noch offen. Oberarzt Dr. B. ist nicht zu vernehmen. Soweit die vorliegende schriftliche ärztliche Feststellung – wie hier – nicht ausreichend ist, kann die erforderliche Feststellung nicht durch eine Zeugenaussage des Arztes ersetzt werden. Eine Zeugenaussage des Arztes reicht nicht aus; denn dann würde die Feststellung erst mit der Zeugenaussage aus der Vorstellungswelt des Arztes heraus nach außen dringen (Grimm/Kloth, aaO, AUB Ziff. 2 Rn. 24). Im Übrigen verkennt der Kläger, dass die nach den AUB erforderliche ärztliche Feststellung nicht nur eine dauernde Beeinträchtigung, sondern auch die Unfallbedingtheit umfassen muss. Denn der Oberarzt Dr. B. wird als Zeuge dafür benannt, dass er „sehr wohl eine dauernde Beeinträchtigung festgestellt habe“ (vgl. Seite 3 der Berufungsbegründung); die Feststellung einer dauernden Beeinträchtigung ist aber nicht streitig.

bb) Die Beklagte zu 2 kann sich auf die Fristversäumnis berufen.

Auf die Fristversäumnis kann sich der Versicherer nach § 186 Satz 2 VVG nicht berufen, wenn sein Hinweis an den Versicherten gemäß § 186 Satz 1 VVG unterblieben ist; gemäß § 186 Satz 1 VVG hat der Versicherer, wenn der Versicherungsnehmer einen Versicherungsfall anzeigt, ihn auf vertragliche Anspruchs- und Fälligkeitsvoraussetzungen sowie einzuhaltende Fristen in Textform hinzuweisen.

Auf die gemäß § 20 Abs. I Nr. 1 Buchst. b AUB einzuhaltende Invaliditätsfeststellungsfrist hatte die Beklagte zu 2 bzw. die von ihr beauftragte Beklagte zu 1 den Kläger mit Schreiben vom 13.08.2019 (Anlage K6) hingewiesen.

Der Kläger kann nicht damit gehört werden, entgegen der Auffassung des Landgerichts sei ihm die ärztliche Feststellung der Invalidität innerhalb der Frist von 18 Monaten nach dem Unfall unter Berücksichtigung des späten Zugangs der Belehrung nicht möglich gewesen. Die Beklagte wies den Kläger im Schreiben vom 13.08.2019 (Anlage K6) ausdrücklich darauf hin, warum das ärztliche Attest des Oberarztes Dr. B. vom 12.07.2019 (Anlage K5) unzureichend sei. In dem Schreiben vom 13.08.2019 heißt es: „Eine Invalidität dem Grunde nach aufgrund des Ereignisses vom 07.03.2018 konnte der Arzt gemäß Attest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestätigen.“

Im Übrigen kann dahingestellt bleiben, ob der Hinweis vom 13.08.2019 verspätet war im Hinblick darauf, dass er erst knapp einen Monat vor Fristende am 07.09.2019 erfolgte. Bei einem verspäteten Hinweis, etwa – wie hier – gegen Ablauf der Frist gemäß den Versicherungsbedingungen, wird eine „angemessene Frist“ in Lauf gesetzt. Dem Versicherungsnehmer ist noch eine angemessene Frist nach dem Hinweis einzuräumen. Die unterschiedlichen Fristen für den Eintritt der Invalidität und deren ärztliche Feststellung sprechen dafür, diese bei 3 Monaten (bzw. hier bei 6 Monaten), jedenfalls aber nicht geringer anzusetzen (Prölss/Martin/Knappmann, aaO, VVG § 186 Rn. 5; vgl. Grimm/Kloth, aaO, AUB Ziff. 2 Rn. 43). Im Streitfall hat der Kläger aber bis heute kein Attest vorgelegt.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Revisionsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen.

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