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Reiserücktrittsversicherung – Leistungsausschluss für bestehende Krankheiten und deren Folgen

AG München, Az.: 159 C 5087/16, Urteil vom 30.08.2016

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 823,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.05.2015 sowie weitere 147,56 € zu zahlen.

2. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Beschluss

Der Streitwert wird auf 823,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Leistungen aus einer Reiserücktrittsversicherung.

Der Kläger ist Inhaber einer L. … und über diese bei der Beklagten reiserücktrittversichert. Bei der Versicherung handelte es sich um eine Gruppenversicherung, der die als Anlage B 1 vorgelegten Versicherungsbedingungen zugrunde liegen. Gemäß dieser Versicherungsbedingungen hat der Kläger im Schadensfall einen Selbstbehalt von 10 % der Stornokosten, mindestens aber 100 € selbst zu tragen.

Reiserücktrittsversicherung - Leistungsausschluss für bestehende Krankheiten und deren Folgen
Symbolfoto: Von n_defender /Shutterstock.com

Gem. Ziffer 3.4.2 a) der Versicherungsbedingungen sind (u. a.) versicherte Gründe Tod, schwerer Unfall oder unerwartet schwere Erkrankung der versicherten Person. Gemäß Ziff. 3.5.3 der Versicherungsbedingungen besteht keine Leistungspflicht für bei Reisebuchung bestehende Krankheiten und deren Folgen. Wegen der näheren Einzelheiten der Versicherungsbedingungen wird auf Anlage B 1 Bezug genommen.

Der Kläger buchte für sich und seine Ehefrau am 23.11.2014 eine Reise in der Zeit vom 9.2. ‒ 23.2.2015 zum Preis von 2196 €.

Seit 2006 leidet der Kläger an einer nicht akuten kompensierten Niereninsuffizienz. Diese Niereninsuffizienz war jahrelang unauffällig und ohne Beschwerdeerscheinungen, so dass der Kläger zahlreiche Reisen ohne Probleme durchführte.

Im Dezember 2014 litt der Kläger an einer Kälteangina, aufgrund derer er sich in der Zeit vom 17.12. ‒ 19.12.2014 zum Zwecke der Katheterung im Krankenhaus befand. Wegen Bluthochdrucks am 2.1.2015 rief der Kläger den Notarzt, der die Einlieferung ins Krankenhaus veranlasste. Dort wurde festgestellt, dass der Kreatininwert nochmals gestiegen war und ihm wurde abgeraten, die gebuchte Reise anzutreten.

Aufgrund dessen stornierte der Kläger die Reise. Es wurde eine Stornogebühr in Höhe von 923 € erhoben.

Mit Schadensmeldung vom 2.2.2015 meldete der Kläger den Schaden der Beklagten, die mit Schreiben vom 9.4.2015 eine Leistungspflicht ablehnte.

Mit Anwaltsschreiben vom 16.4.2015 wurde die Beklagte nochmals erfolglos unter Fristsetzung zum 30.4.2015 zur Leistung aufgefordert.

Der Kläger behauptet, seine Vorerkrankung sei kein vorhersehbarer, erwartbarer Auslöser für den medizinisch angezeigte Reiserücktritt gewesen. Unerwartete Komplikationen hätten zur Verschlechterung der Niereninsuffizienz geführt.

Der Kläger beantragt: Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 823,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem 2.5.2015 sowie 147,56 € an vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, Klageabweisung.

Sie ist der Ansicht, dass das Risiko der Vorerkrankung wirksam ausgeschlossen sei und nur neu aufgetretene Erkrankungen Versicherungsschutz genießen. Daher sei unerheblich, ob die Verschlechterung für den Kläger unerwartet war.

Das Gericht hat den Kläger persönlich angehört.

Wegen der näheren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften vom 17.05.2016 (Bl. 20/22) und vom 9.8.2016 (Bl. 36/38) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Versicherungsleistung in Höhe von 823 € gemäß § 328 BGB in Verbindung mit dem Versicherungsvertrag. Der Kläger ist als Inhaber einer L. … gem. Ziff. 3.2. der Versicherungsbedingungen versicherte Person einer bei der Beklagten unterhaltenen Reiserücktrittsversicherung.

Der Versicherungsfall ist gemäß Ziff. 3.4.2 a) in Verbindung mit Ziff. 3.4.1 b) der Versicherungsbedingungen eingetreten, da dem Kläger wegen einer unerwartet schweren Erkrankung der Reiseantritt nicht zugemutet werden konnte, denn er befand sich unmittelbar vor dem geplanten Reiseantritt im Krankenhaus. Die Ärzte hatten ihm vom Reiseantritt abgeraten.

Unerwartet ist eine Erkrankung im Rahmen einer Reiserücktrittskostenversicherung dann, wenn sie auch bei Bestehen einer (chronischen) Vorerkrankung, wenn es sich nicht um eine zwingende und vorhersehbare Folge der letztgenannten handelt. Durfte danach der Versicherungsnehmer einer solchen Versicherung vernünftigerweise die Reise buchen, weil mit einer akuten Verschlechterung nicht zu rechnen war, besteht Versicherungsschutz (vgl. AG Kassel Urteil vom 19.12.2012, …). „Unerwartet” in diesem Sinne bedeutet nicht, dass die Erkrankung nach Reisebuchung und Versicherungsabschluss völlig neu entstehen muss (vgl. AG München, Urteil vom 20.10.2011, …). Der Verlauf der chronischen Niereninsuffizienz beim Kläger war jahrelang stabil. Bei der Verschlechterung Anfang des Jahres 2015 handelte es sich somit nicht um eine zwingende Zustandsverschlechterung, sondern wurde durch ein zufälliges Akutereignis ausgelöst und stellt damit eine unerwartete Erkrankung im Sinne der Versicherungsbedingungen der Beklagten dar. Dass sich die Niereninsuffizienz 2013 dergestalt verschlechterte, dass der Kreatininwert gestiegen war, ändert daran ebenfalls nichts. Denn der Verlauf der Erkrankung war nach wie vor stabil.

Die Leistungspflicht ist nicht gemäß Ziffer 3.5.3. der Versicherungsbedingungen ausgeschlossen. Danach besteht zwar keine Leistungspflicht für bei Reisebuchung bestehende Krankheiten und deren Folgen. Zum Zeitpunkt der Reisebuchung war der Kläger bereits an der chronischen Niereninsuffizienz erkrankt, so dass diese eine bestehende Krankheit im Sinne der Versicherungsbedingungen darstellt. Diese Klausel ist jedoch zur Überzeugung des Gerichts gemäß § 307 BGB unwirksam, da die Regelungen, die Allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB darstellen, die Versicherten entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen kann. Dabei ist im Regelfall auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und auch auf seine Interessen abzustellen. Liegt ‒ wie hier ‒ ein Gruppenversicherungsvertrag vor, so kommt es daneben auch auf die Verständnismöglichkeiten durchschnittlicher Versicherter und ihrer Interessen an (vgl. BGH Urteil vom 10.12.2014, …).

Die Klausel differenziert zum Einen nicht zwischen der versicherten Person bekannten und unbekannten Vorerkrankungen, so dass gemäß § 305 Abs. 2 BGB bei Anwendung der verwenderfeindlichsten Auslegung zu Lasten der Beklagten auch der versicherten Person unbekannte Vorerkrankungen bei Reisebuchung vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind. Zum Anderen würde die Klausel Ziffer 3.4.2. der Versicherungsbedingungen, wonach Versicherungsschutz bei Auftreten einer unerwartet schweren Erkrankung besteht, unterlaufen. Mit der Beschränkung auf unerwartete Erkrankungen werden zum Teil Vorerkrankungen des Versicherten ausgeschlossen. Die Rechtsprechung hält diese Klausel in Bezug auf die Vereinbarkeit mit dem gesetzlichen Leitbild der §§ 19 ff. VVG für wirksam, jedoch mit der Einschränkung, dass bei der Auslegung von Versicherungsbedingungen, die zum Schutz des Versicherers vor vorvertraglichen Risiken das Leistungsversprechen auf Krankheiten beschränken, deren Eintritt „unerwartet” war, auf die subjektive Sicht des Versicherungsnehmers oder der versicherten Person abzustellen ist, da andernfalls die nach der gesetzlichen Konzeption des Versicherungsvertrages dem Versicherer obliegende Gefahrtragung unzulässig auf den Versicherungsnehmer übertragen würde (vgl. LG Duisburg, Urteil vom 12.10.2012, …).

Nach dem in den §§ 19 ff. VVG vorgesehenen System müsste der Versicherer Vorerkrankungen erfragen und sich dann im Rahmen seiner Risikoprüfung darüber schlüssig werden, ob überhaupt oder mit welchen Abänderungen er den Antrag des Versicherungsnehmers annimmt. Die Erfragung und die Beurteilung gefahrerheblicher Umstände ist nach diesem Leitbild, von dem zum Nachteil des Versicherungsnehmers nicht abgewichen werden darf (§ 32 VVG), dem Versicherer zugewiesen. Von diesem Leitbild wird abgewichen, wenn der Versicherer bei Vertragsschluss jede Risikoprüfung unterlässt und sie damit letztlich auf einen Zeitpunkt nach Eintritt des Versicherungsfalls verlagert. Da seine fiktive Reaktion bei Angaben von Erkrankungen bei Vertragsschluss nicht sicher festgestellt werden kann, lässt sich auch nicht feststellen, dass nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers von der gesetzlichen Regel abgewichen wird (vgl. Prölss/Martin, VVG 29. Aufl, VB-Reiserücktritt 2008 Ziff. 2 Rdnr. 8).

Nach diesen Grundsätzen ist die streitgegenständliche Klausel Ziffer 3.5.3 der Versicherungsbedingungen als unzulässige Gefahrtragungsregel wegen unangemessener Benachteiligung der Versicherten gem. § 307 Abs. 2 BGB unwirksam.

Die Leistungspflicht der Beklagten ist damit nicht wirksam ausgeschlossen.

Eine andere Beurteilung lässt auch nicht die Tatsache zu, dass es sich vorliegend um eine Gruppenversicherung handelt, die besonders günstig angeboten wird.

Unter Berücksichtigung des Selbstbehalts von mindestens 100,00 € ergibt sich somit ein Zahlungsanspruch in Höhe von 823 €.

Die Zinsforderung ergibt sich aus §§ 328 Abs. 1, 280 Abs. 2, 286 Abs. 1, 288 BGB, 308 ZPO.

Der Kläger hat weiterhin gem. §§ 328 Abs. 1, 280 Abs. 2, 286 Abs. 2 Nr. Nr. 3 BGB Anspruch auf Erstattung seiner vorgerichtlich entstandenen Anwaltskosten, da sich die Beklagte mit Zugang des Ablehnungsschreibens vom 9.4.2015 im Verzug befindet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung übe die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Der Streitwert wurde gem. §§ 3 ZPO, 63 Abs. 2 GKG festgesetzt.

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