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Private Unfallversicherung – Invalidität nach HWS-Distorsion

OLG Karlsruhe 9. Zivilsenat – Az.: 9 U 152/17 – Beschluss vom 28.10.2019

Der Senat erwägt eine Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 23.11.2017 – B 2 O 149/16 -. Die Parteien erhalten vor einer Entscheidung Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen.

Gründe

Die Klägerin macht Ansprüche aus einem Unfallversicherungsvertrag geltend.

Die Klägerin schloss im Jahr 2009 einen Unfallversicherungsvertrag mit der V. Aktiengesellschaft ab. Vereinbart war eine Invaliditätsleistung in Höhe von 122.500,00 €, wobei unter bestimmten Voraussetzungen eine Progression von 500 % gelten sollte. Bestandteil des Vertrages waren die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen der V. Aktiengesellschaft mit dem Stand zum 08.05.2009 sowie Besondere Bedingungen für die Unfallversicherung. In den Besonderen Bedingungen waren geregelt eine dynamische Erhöhung von Leistung und Beitrag, eine Progressionsklausel bei einem Invaliditätsgrad von mehr als 25 % und ein sogenannter Treuebonus. (Vgl. den Versicherungsschein, die AUB 2008 und die Besonderen Bedingungen in der Anlage K; die Regelung des Treuebonus liegt nicht vor.)

Bei der Beklagten handelt es sich um ein Versicherungsunternehmen, welches mit der V. Aktiengesellschaft nicht namensidentisch ist. Die Parteien gehen im Rechtsstreit übereinstimmend davon aus, dass die Beklagte für Verpflichtungen der V. Aktiengesellschaft eintrittspflichtig sei.

Am 19.01.2013 gegen 23:15 Uhr war die Klägerin im Stadtgebiet von S. Beifahrerin in einem Pkw. Infolge eisglatter Fahrbahn geriet ein entgegenkommendes Fahrzeug in einer Kurve auf die Gegenfahrbahn und prallte dort auf das bereits stehende Fahrzeug, in welchem sich die Klägerin befand. In der Folgezeit befand sich die Klägerin bei verschiedenen Ärzten in Behandlung.

Die Klägerin hat vorgetragen: Sie sei durch den Unfall erheblich verletzt worden. Sie habe insbesondere eine Verletzung der Rippen und eine HWS-Distorsion erlitten. Die Verletzungen im Bereich der Halswirbelsäule hätten zu chronischen Schmerzen geführt. Damit seien dauerhafte Bewegungseinschränkungen verbunden, so dass sie ihre frühere Tätigkeit als Inhaberin einer Gaststätte nicht mehr habe ausüben können; ihre weitere Tätigkeit in der Landwirtschaft könne sie wegen der Schmerzen und Bewegungseinschränkungen nur noch in geringem Umfang ausüben. Folge des Unfalls und der damit verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen sei zudem eine dauerhafte posttraumatische Belastungsstörung. Die Klägerin hat ausgeführt, nach den vertraglichen Vereinbarungen sei von einer unfallbedingten Gesamtinvalidität in Höhe von mindestens 30 % auszugehen. Unter Berücksichtigung der vertraglich vereinbarten Progression ergebe sich eine Invaliditätsleistung in Höhe von 68.934,37 €. Diesen Betrag hat die Klägerin erstinstanzlich nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten geltend gemacht.

Die Beklagte ist der Forderung mit verschiedenen Einwendungen entgegengetreten. Sie hat insbesondere die von der Klägerin vorgetragenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und deren Verursachung durch den Unfall bestritten. Zur Konkretisierung ihres Vorbringens hat sie sich auf ein vorgerichtliches Privatgutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. B. vom 31.12.2015 (Anlage B 2) berufen.

Das Landgericht hat zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin und zur Frage der Unfallursächlichkeit ein Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. D. eingeholt, welches eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit, beziehungsweise eine Invalidität, in Höhe von 25 % feststellte (I, 169 ff.). Die Beklagte hat zum schriftlichen Gutachten eine Stellungnahme des Privatgutachters Dr. B. vom 21.03.2017 (Anlage B 4) vorgelegt. Mit einer ergänzenden Stellungnahme vom 12.06.2017 (I, 261 ff.) hat der Sachverständige Prof. D. zu ergänzenden Fragen des Landgerichts und zu den Einwendungen des Privatgutachters Dr. B. Stellung genommen. Mit einer weiteren Stellungnahme des Privatgutachters Dr. B. vom 16.07.2017 (Anlage B 5) hat die Beklagte auf die Ergänzung des schriftlichen Gutachtens reagiert. Das Landgericht hat daraufhin im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 05.10.2017 die Klägerin persönlich angehört; in diesem Termin hat der Sachverständige Prof. Dr. D. zudem seine schriftlichen Ausführungen mündlich ergänzt und erläutert.

Private Unfallversicherung - Invalidität nach HWS-Distorsion
(Symbolfoto: Von Elnur/Shutterstock.com)

Mit Urteil vom 23.11.2017 hat das Landgericht die Beklagte zur Zahlung in Höhe von 37.465,80 € nebst Zinsen verurteilt. Im Übrigen hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Die Beklagte sei als Rechtsnachfolgerin der V. Aktiengesellschaft passiv legitimiert. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin durch den Unfall vom 19.01.2013 erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten habe. Es sei zu ligamentären und knöchernen Verletzungen im Bereich des 1. und 2. Halswirbelkörpers gekommen. Dauerhafte Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule und erhebliche Bewegungseinschränkungen seien Folge der Verletzung. Entsprechend dem Gutachten des Sachverständigen sei von einem Invaliditätsgrad von 25 % auszugehen. Daraus ergebe sich nach den vertraglichen Vereinbarungen der vom Landgericht zuerkannte Betrag. Ein höherer Leistungsanspruch stehe der Klägerin nicht zu. Denn Beeinträchtigungen der Klägerin im neurologisch-psychiatrischen Bereich seien nicht zu berücksichtigen, weil die Klägerin die vertragliche Frist von 15 Monaten zur ärztlichen Invaliditätsfeststellung wegen möglicher neurologisch-psychiatrischer Beeinträchtigungen versäumt habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten. Gestützt auf Ausführungen des von ihr beauftragten Privatgutachters Dr. B. ist die Beklagte der Auffassung, den Feststellungen des Landgerichts zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin und zur Unfallkausalität fehle eine ausreichende Grundlage. Sie hält ein neues Gutachten durch einen anderen Sachverständigen für erforderlich, ein radiologisches Zusatzgutachten, sowie gegebenenfalls auch ein neurologisches Zusatzgutachten. Es gebe keine ausreichenden Feststellungen zu den Kräften, welche bei dem Unfall vom 19.01.2013 auf den Körper der Klägerin eingewirkt hätten. Vor allem sei die Feststellung des Sachverständigen Prof. Dr. D. zu beanstanden, wonach die Klägerin bei dem Unfall eine knöcherne Verletzung der Spitze des Dens axis erlitten habe. Nach Auffassung des Privatgutachters Dr. B. lasse sich eine solche Schlussfolgerung aus den MRT-Aufnahmen vom 20.07.2013 – entgegen den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. – nicht ziehen. Soweit der Sachverständigen Prof. Dr. D. aufgrund seiner Untersuchung Feststellungen zu Bewegungseinschränkungen der Klägerin getroffen habe, sei dies nicht nachvollziehbar. Der Sachverständige habe sich – unzutreffend – vorrangig auf subjektive Schilderungen der Klägerin gestützt. Im Übrigen seien auch die Ausführungen des Sachverständigen zu einem angenommenen Invaliditätsgrad von 25 % nicht überzeugend.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil teilweise abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Sie ergänzt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Im Übrigen beantragt die Klägerin im Wege der Anschlussberufung,

die Beklagte unter Abänderung des am 23.11.2017 verkündeten Urteils des Landgerichts Konstanz, Az. B 2 O 149/16, zu verurteilen, an die Klägerin weitere 30.637,49 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit 02.02.2016 zu bezahlen, und

des Weiteren die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.054,88 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Klägerin führt aus, das Landgericht habe zu Unrecht weitere dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen auf psychologischem/psychiatrischem/ neurologischem Gebiet in Höhe von mindestens 10 % nicht berücksichtigt. Entgegen der Auffassung des Landgerichts habe die Klägerin wegen der weiteren Beeinträchtigungen keine Frist versäumt. Sie beantragt wegen dieser Beeinträchtigungen die Einholung eines zusätzlichen Sachverständigengutachtens. Außerdem stehe ihr ein Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten zu. Aufgrund einer Ermächtigung ihres Rechtschutzversicherers sei sie entgegen der Auffassung des Landgerichts berechtigt, vorgerichtliche Anwaltskosten im eigenen Namen geltend zu machen, obwohl der Rechtschutzversicherer ihr diese Kosten bereits erstattet habe.

Die Beklagten beantragt, die Anschlussberufung der Klägerin kostenpflichtig zurückzuweisen.

Wegen der teilweisen Klageabweisung verteidigt die Beklagte das Urteil des Landgerichts. Vorgerichtliche Anwaltskosten seien zudem schon deshalb nicht erstattungsfähig, weil sich die Beklagte zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Kosten nicht in Verzug befunden habe.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten dürfte voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben. Eine Entscheidung des Senats nach mündlicher Verhandlung erscheint auch im Hinblick auf die Gesichtspunkte gemäß § 522 Abs. 2 Ziffer 2, 3 und 4 ZPO nicht erforderlich. Das Landgericht hat die Beklagte zu Recht zur Zahlung einer Invaliditätsleistung in Höhe von 37.465,80 € nebst Zinsen verurteilt.

1. Die vertraglichen Voraussetzungen für eine Invaliditätsleistung liegen vor. Zwischen den Parteien dürfte ein Vertrag über eine Unfallversicherung gemäß dem vorgelegten Versicherungsschein bestehen. Zwar gibt es keinen Sachvortrag der Parteien für eine vom Landgericht angenommene Rechtsnachfolge auf Beklagtenseite. Nach Informationen aus dem Internet dürfte jedoch davon auszugehen sein, dass die Beklagte – nach einer Namensänderung – mit der V. Aktiengesellschaft identisch ist. Bei dem Verkehrsunfall vom 19.01.2013 handelt es sich um einen Unfall im Sinne von Ziffer 1.3 AUB 2008. Die Höhe der Invaliditätsleistung (142.500,00 €) beruht auf der vereinbarten dynamischen Anpassung der Versicherungsleistung. Zwischen den Parteien ist zudem außer Streit, dass die Beklagte für den Fall eines Unfalls zusätzlich einen Treuebonus von 7,5 % zugesagt hat, wobei – insoweit unstreitig – für diesen Treuebonus zumindest die nicht durch die Progression erhöhte Invaliditätsleistung maßgeblich ist.

2. Die Beklagte ist auf Grund des Unfalls vom 19.01.2013 zur Zahlung einer Versicherungsleistung auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 25 % verpflichtet.

a) Es ist der Vollbeweis (§ 286 ZPO) für eine Primärverletzung der Klägerin durch den Unfall erbracht. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat eine knöcherne Verletzung im Bereich der Spitze des Dens axis erlitten. Damit verbunden waren ligamentäre Verletzungen. Die Feststellung des Landgerichts beruht auf dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. D.. Der Sachverständige konnte die knöcherne Verletzung aufgrund der ihm vorliegenden kernspintomographischen Aufnahmen vom 26.07.2013 objektivieren. Die Verletzung passt nach den Ausführungen des Sachverständigen zur Unfallmechanik bei dem Unfall vom 19.01.2013, wobei – auch ohne quantitative Konkretisierung – von einer Kollision mit nicht unerheblicher Energie auszugehen ist. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Klägerin bereits vor dem 19.01.2013 unter entsprechenden körperlichen Beeinträchtigungen litt. Die Feststellungen des Sachverständigen korrespondieren – jedenfalls im Hinblick auf die für die Klägerin erfahrbaren Auswirkungen der Verletzung – mit den Feststellungen der ärztlichen Behandler, die von einer HWS-Distorsion auf Grund des Unfalls ausgegangen sind. (Vgl. den Notfallbericht des Sch.-B.-Klinikums vom 26.01.2013, Anlage K 3, Bericht des Dr. J. vom 26.09.2013, Anlage K 4 und Attest des Dr. Do. vom 04.03.2013, Anlage K 5). Hervorzuheben ist dabei, dass auch der von der Beklagten beauftragte Privatgutachter Dr. B. von einer durch den Unfall verursachten Primärschädigung der Klägerin ausgegangen ist. Dr. B. hat in seinem Gutachten vom 31.12.2015 (Anlage B 2) eine „HWS-Distorsion Grad I nach Erdmann und Krämer“ und eine Schädelprellung angenommen. Auch diese Feststellung wäre für eine (primäre) Gesundheitsschädigung im Sinne von Ziffer 1.3 AUB 2008 ausreichend.

b) Nach dem Beweismaß gemäß § 286 ZPO steht außerdem fest, dass die Klägerin unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die im Sinne von Ziffer 2.1.1.1 AUB 2008 als dauerhaft anzusehen sind. Aufgrund von Schmerzen ist die Funktion der Halsmuskulatur dauerhaft eingeschränkt. Dies führt dazu, dass der Klägerin dauerhaft schweres Heben nicht mehr möglich ist. Außerdem sind Tätigkeiten wie Bücken oder Über-Kopf-Arbeit eingeschränkt. Auch diese Feststellungen beruhen auf dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. D. im Zusammenhang mit verschiedenen Indizien.

Die Angaben der Klägerin zu ihren Schmerzen und den dadurch verursachten Bewegungseinschränkungen sind nach dem Gutachten des Sachverständigen plausibel. Die Angaben waren zudem nach den Feststellungen des Landgerichts glaubwürdig. Die Schmerzen und Bewegungseinschränkungen passen zu den radiologischen Feststellungen des Sachverständigen (siehe oben) und sie passen außerdem zur Auswertung weiterer Röntgenaufnahmen vom 10.09.2013, aus denen nach den gutachtlichen Ausführungen des Sachverständigen zu schließen ist, dass die ligamentäre Bandkraft im Bereich des 1. und 2. Halswirbelkörpers nachgelassen hat (vgl. die Angaben des Sachverständigen im Termin vom 05.10.2017, Seite 4, I, 347). Die Bewegungseinschränkungen ergeben sich nach dem Gutachten des Sachverständigen aus der von ihm durchgeführten Beweglichkeitsprüfung der Halswirbelsäule der Klägerin. Wegen der Schmerzen waren die aktiven Bewegungsausmaße deutlich geringer als die entsprechenden Werte bei einer passiven Prüfung. Schließlich korrespondieren die Feststellungen zu den Schmerzen der Klägerin mit den von der Klägerin eingenommenen Schmerzmitteln. Es gab weder für den Sachverständigen noch für das Landgericht Anlass, an den Angaben der Klägerin zu zweifeln. Auch der Privatgutachter Dr. B. ist in seinem Gutachten vom 31.12.2015 von einem persistierenden Schmerzsyndrom der Klägerin ausgegangen. Der Umstand, dass die Klägerin bei der Untersuchung durch Dr. B. angab, sie nehme das früher benutzte Schmerzmittel Tilidin nicht mehr, spricht nicht dagegen, dass die Klägerin nach ihren Angaben vor dem Landgericht am 05.10.2017 später wegen der erheblichen Beschwerde wieder zu diesem Schmerzmittel gegriffen hat.

c) Das Landgericht ist auf der Grundlage des gerichtlichen Sachverständigen nach dem Beweismaß gemäß § 287 ZPO zu der Feststellung gelangt, dass die dauerhaften Beeinträchtigungen der Klägerin kausal mit dem Unfallereignis vom 19.01.2013 und mit dem festgestellten Primärschaden verknüpft sind. Der Unfall war nach dem Gutachten des Sachverständigen geeignet, entsprechende dauerhafte Beeinträchtigungen hervorzurufen. Auch der Privatgutachter Dr. B. ging in seiner Stellungnahme vom 16.07.2017 (Anlage B 5) von einem Trauma der Klägerin aus, welches er als „durchaus schwerwiegend“ bewertete. Für die Frage der Kausalität ist darauf hinzuweisen, dass es keine Anhaltspunkte für eine abweichende (alternative) Ursache der Beeinträchtigungen der Klägerin gibt. Insbesondere litt die Klägerin vor dem Unfall nicht unter degenerativen Veränderungen, welche als Ursache der Beeinträchtigungen in Betracht kommen könnten. Schließlich passen die dauerhaften Beeinträchtigungen der Klägerin zu den radiologischen Feststellungen des Sachverständigen (Pseudoarthrosebildung nach einer Fraktur im Bereich der HWS mit ligamentärer Verletzungsfolge).

d) Das Landgericht hat – dem Sachverständigen folgend – einen Invaliditätsgrad von 25 % angenommen. Für den Invaliditätsgrad ist nicht die Gliedertaxe maßgeblich. Vielmehr ist darauf abzustellen, inwieweit die normale körperliche Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist, wobei ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind (Ziffer 2.1.2.2.2 AUB 2008). Der Sachverständige hat bei seiner Abschätzung die erheblichen Behinderungen der Klägerin berücksichtigt, die viele Alltagsverrichtungen nicht mehr so ausführen kann wie früher (schweres Heben, Bücken und Über-Kopf-Tätigkeiten).

Der Invaliditätsgrad wird bestätigt durch einen Vergleich mit entsprechenden Werten innerhalb der Gliedertaxe. Die Beeinträchtigungen der Klägerin lassen sich vergleichen mit den Beeinträchtigungen, die jemand erleidet, der beide Arme nur noch eingeschränkt benutzen kann. Für den Verlust eines Armes sieht die Gliedertaxe (Ziffer 2.1.2.2.1 AUB 2008) einen Invaliditätsgrad von 70 % vor. Das bedeutet, dass der Verlust von 1/5 der Funktionsfähigkeit beider Arme nach der Gliedertaxe zu einem Invaliditätsgrad von 2 x 14 = 28 % Invaliditätsgrad führen würde. Aufgrund der Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil sind die Beeinträchtigungen der Klägerin mit einer solchen Betrachtung vergleichbar. (Vgl. zu diesen Überlegungen BGH, Versicherungsrecht 2018, 345; OLG Karlsruhe – 12. Zivilsenat – Versicherungsrecht 2017, 747.)

3. Aus den Einwendungen der Beklagten ergeben sich keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Feststellungen des Landgerichts (§ 529 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO).

a) Die Beklagte stützt sich bei ihren Einwendungen im Wesentlichen auf Ausführungen des Privatgutachters Dr. B. in verschiedenen schriftlichen Stellungnahmen. Nach den vorgelegten Stellungnahmen des Privatgutachters bestehen gewisse Zweifel, ob dieser für Gutachten bei HWS-Syndromen fachlich ausreichend qualifiziert ist. Es gibt im Zusammenhang mit HWS-Syndromen eine unübersehbare Menge an medizinischer Literatur, wobei es sowohl im deutschen Bereich als auch im anglo-amerikanischen Bereich eine Vielzahl von Untersuchungen mit außerordentlich unterschiedlichen Ergebnissen und Schlussfolgerungen gibt. Unter diesen Umständen muss sich ein medizinisches Gutachten im Bereich von HWS-Syndromen auf dem Boden derjenigen Erkenntnisse bewegen, die fachlich allgemein anerkannt sind. Hingegen sind Einzeluntersuchungen, deren Ergebnisse in der Fachwelt nicht allgemein anerkannt sind, als Grundlage für ein Sachverständigengutachten nicht geeignet.

Der Privatgutachter Dr. B. geht anscheinend davon aus, dass „Distorsionen der Halswirbelsäule 1. Grades nach wenigen Wochen (längstens nach drei Monaten)“ folgenlos ausheilen (Gutachten vom 31.12.2015, Anlage B 2, Seite 23). Eine Unfallfolge im Sinne eines Dauerschadens nach stattgehabtem Trauma sei – so anscheinend die Auffassung von Dr. B. – nur bei einem „pathomorphologischen Schadenssubstrat“, welches nicht funktioneller Natur sei, möglich (Stellungnahme Dr. B. vom 21.03.2017, Anlage B 4, Seite 5). Dies entspricht nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft und nicht dem Stand der Rechtsprechung. Statistische Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen ändern nichts daran, dass auch bei einer relativ geringen Erstschädigung eine kausale Dauerfolge möglich ist, die nicht rein psychischer Natur ist (vgl. beispielsweise BGH, Versicherungsrecht 2003, 474). Der Privatgutachter Dr. B. geht im Übrigen davon aus, es sei nachgewiesen, dass eine Begleitung von Unfallopfern durch Rechtsanwälte im Durchschnitt zu einem längeren Heilungsverlauf nach HWS-Distorsionen führe (Gutachten vom 31.12.2015, Anlage B 2, Seite 25, 26). Es mag sein, dass es in der wissenschaftlichen Literatur Einzeluntersuchungen gibt, die dies schlussfolgern. Dem Senat ist jedoch nicht bekannt, dass derartige Schlussfolgerungen zum gesicherten Bestand der medizinischen Wissenschaft gehören.

b) Zu den einzelnen Kritikpunkten der Beklagten in der Berufungsbegründung:

aa) Der Unfallablauf ist im Wesentlichen unstreitig. Eine genauere Klärung der bei dem Unfall auf den Körper der Klägerin einwirkenden Kräfte ist nicht erforderlich, wenn – wie vorliegend – der medizinische Sachverständige aus seiner fachlichen Sicht eine weitergehende technische Klärung für nicht erforderlich hält (vgl. BGH, Versicherungsrecht 2003, 474; KG Berlin, VRS 115, 330).

bb) Die Angriffe der Beklagten gegen die radiologischen Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen haben keinen Erfolg. Aus den Einwendungen der Beklagten ergeben sich keine konkreten Hinweise auf Fehler, die der gerichtliche Sachverständige bei der Auswertung der ihm zur Verfügung gestellten Röntgenbilder gemacht haben könnte. Dass andere Mediziner die knöcherne Verletzung aufgrund der Bilder nicht festgestellt haben, ändert nichts. Auch der von der Beklagten beauftragte Privatgutachter Dr. B. räumt in seiner Stellungnahme vom 21.03.2017 (Seite 15) ein, dass die Detektierung einer kleineren knöchernen Verletzung gerade im Bereich der Spitze des Dens axis schwierig ist, und daher solche Verletzungen durchaus einer Detektierung (durch andere Ärzte) entgegen können.

cc) Der Senat sieht keinen Anlass, die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. D. zu den Mobilitätseinschränkungen im Bereich der HWS in Zweifel zu ziehen. Die Unterscheidung zwischen der passiven Beweglichkeit und der aktiven Beweglichkeit entspricht nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen den maßgeblichen medizinischen Standards. Der Umstand, dass für die Feststellung der aktiven Bewegungsausmaße eine Mitwirkung der Verletzten erforderlich ist, ändert daran nichts.

dd) Die Kritik der Beklagten zur Berücksichtigung von Angaben der Klägerin zu ihren Beschwerden hat keinen Erfolg. Die von der Beklagten angegebenen Beschwerden passen nach den Ausführungen des Sachverständigen und nach den Feststellungen des Landgerichts zu den objektiven Feststellungen. Im Übrigen ergeben sich auch aus der Berufungsbegründung keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin.

ee) Die Abschätzung des Invaliditätsgrads mit 25 % ist entgegen der Auffassung der Beklagten nachvollziehbar (siehe oben).

ff) Für ein ergänzendes Sachverständigengutachten im Berufungsverfahren besteht kein Anlass. Insbesondere hat der Senat keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Fachkompetenz des Sachverständigen Prof. Dr. D. bei der Auswertung von Röntgenbildern.

4. Die Forderung der Klägerin berechnet sich wie folgt:

25 % der Invaliditätssumme in Höhe   von 142.500,00 €:

35.625,00 € zuzüglich Treuebonus (7,5 %):

2.671,88 €

Summe: 38.296,88 €

Von dieser Forderung ist ein Teilbetrag in Höhe von 831,08 € abzuziehen. Wegen einer unstreitigen Forderungspfändung fehlt der Klägerin in dieser Höhe gemäß §§ 835 Abs. 1, 836 Abs. 1 ZPO die Einziehungsberechtigung. Unter Berücksichtigung dieses Abzugs verbleibt der vom Landgericht zuerkannte Anspruch in Höhe von 37.465,80 €.

5. Der Klägerin stehen auch die zuerkannten Zinsen seit dem 02.02.2016 zu. Zwar ist dem Landgericht insoweit ein Versehen unterlaufen, als das in der erstinstanzlichen Entscheidung zitierte Ablehnungsschreiben der Beklagten nicht vom 01.02.2016 datiert, sondern vom 12.02.2016 (Anlage K 15). Dies ist im Ergebnis jedoch ohne Bedeutung, da die Beklagte nach der Mahnung durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Schreiben vom 01.09.2014 (Anlage K 13) schon früher in Verzug geraten ist. Der Hinweis des Landgerichts auf eine hinausgeschobene Fälligkeit durch Ziffer 9.3 AUB 2008 (gemeint ist wohl Ziffer 9.1 AUB 2008) trifft nicht zu. Denn der in dieser Regelung genannte Abschluss eines „Heilverfahrens“ hat nichts mit der Klärung von Anspruchsvoraussetzungen durch Einholung des Privatgutachtens Dr. B. zu tun.

6. Für den Fall einer eventuellen Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte der Senat auch über die Anschlussberufung zu entscheiden. Über die damit zusammenhängenden Fragen hat der Senat bisher noch nicht beraten.

 

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