Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Gerichtsurteil stärkt Rechte von Versicherungsnehmern: Verlassen des Unfallorts führt nicht automatisch zum Verlust des Versicherungsschutzes
- Der Fall: Unfallflucht und die Folgen für den Versicherungsschutz
- Amtsgericht wies Klage zunächst ab – Versicherung legte Berufung ein
- Landgericht Berlin bestätigt: Kein Anspruch der Versicherung – Kausalitätsgegenbeweis entscheidend
- Kausalitätsgegenbeweis: Pflichtverletzung muss Schadenursächlich sein
- Zeugenbeobachtung und Polizeieinsatz entkräften Kausalität
- Keine Arglist des Versicherungsnehmers erkennbar – Individuelle Umstände zählen
- Stresssituation nach Unfall und Zeugenrisiko sprechen gegen Arglist
- Bedeutung des Urteils für Betroffene: Versicherungsschutz bleibt in vielen Fällen erhalten
- Kausalitätsgegenbeweis als Schutzmechanismus für Versicherungsnehmer
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Benötigen Sie Hilfe?
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was bedeutet „Obliegenheitsverletzung“ im Versicherungsrecht und wie hängt sie mit einem Verkehrsunfall zusammen?
- Was ist der „Kausalitätsgegenbeweis“ und wie kann er mir helfen, wenn meine Versicherung die Leistung verweigert?
- Wann spricht man von „Arglist“ im Zusammenhang mit einer Obliegenheitsverletzung und welche Auswirkungen hat das auf meinen Versicherungsschutz?
- In welchen Fällen kann die Versicherung trotz Unfallflucht die Schadensregulierung ablehnen?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: LG Berlin
- Datum: 10.05.2023
- Aktenzeichen: 46 S 58/22
- Verfahrensart: Berufungsverfahren im Versicherungsrecht
- Rechtsbereiche: Versicherungsrecht, Verkehrsrecht
- Beteiligte Parteien:
- [Klägerin]: Versicherer, der Ansprüche gegen den Versicherungsnehmer geltend macht, weil angenommen wird, dieser habe seine vertraglichen Obliegenheiten verletzt, indem er sich unerlaubt vom Unfallort entfernt haben soll.
- [Beklagter]: Versicherungsnehmer, dessen Verhalten – auch bei unterstelltem unerlaubten Entfernen vom Unfallort – durch Zeugenaussagen, polizeiliches Eingreifen und den Kausalitätsgegenbeweis als rechtlich unbedenklich bewertet wurde.
- Um was ging es?
- Sachverhalt: Die Klägerin legte Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Mitte ein, das ihre Forderungen im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall abwies. Es ging um den Vorwurf, der Versicherungsnehmer habe sich unerlaubt vom Unfallort entfernt und damit gegen seine versicherungsvertraglichen Obliegenheiten verstoßen.
- Kern des Rechtsstreits: Es war zu klären, ob trotz eines unterstellten unerlaubten Verlassens des Unfallortes Ansprüche der Klägerin gegen den Versicherungsnehmer bestehen – insbesondere im Hinblick auf den Kausalitätsgegenbeweis und den Vorwurf einer arglistigen Verletzung der Aufklärungsobliegenheit.
- Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Berufung der Klägerin wurde zurückgewiesen, das ursprüngliche Urteil des Amtsgerichts bestätigt und die Revision nicht zugelassen. Beide Urteile sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
- Begründung: Das Gericht wies darauf hin, dass der Kausalitätsgegenbeweis zugunsten des Versicherungsnehmers wirksam eintritt. Selbst wenn unterstellt wird, dass er sich unerlaubt vom Unfallort entfernt hat, fehlt ein Nachweis für eine Arglistige Verletzung der Aufklärungsobliegenheit – insbesondere angesichts der umstände, wonach Zeugen den Unfall beobachteten und die Polizei unverzüglich eingeschaltet wurde.
- Folgen: Das Urteil bestätigt den bisherigen Rechtsstand, der Klägerin werden die Kosten des Berufungsverfahrens auferlegt und das Urteil bleibt ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Fall vor Gericht
Gerichtsurteil stärkt Rechte von Versicherungsnehmern: Verlassen des Unfallorts führt nicht automatisch zum Verlust des Versicherungsschutzes

Das Landgericht Berlin hat in einem aktuellen Urteil (Az.: 46 S 58/22) die Rechte von Versicherungsnehmern gestärkt. Im Kern des Rechtsstreits stand die Frage, ob ein Versicherungsnehmer seinen Versicherungsschutz verliert, wenn er sich nach einem Verkehrsunfall unerlaubt vom Unfallort entfernt. Das Gericht entschied zugunsten des beklagten Versicherungsnehmers und wies die Berufung der klagenden Versicherung zurück. Dieses Urteil setzt ein wichtiges Signal und verdeutlicht, dass nicht jede vermeintliche Pflichtverletzung automatisch zum Verlust des Versicherungsschutzes führt.
Der Fall: Unfallflucht und die Folgen für den Versicherungsschutz
Dem Urteil lag ein Verkehrsunfall zugrunde, bei dem der beklagte Versicherungsnehmer beteiligt war. Nach dem Unfall entfernte sich der Beklagte vom Unfallort, was den Tatbestand der unerlaubten Entfernung vom Unfallort gemäß § 142 Strafgesetzbuch (StGB) erfüllen könnte – umgangssprachlich als Unfallflucht bekannt. Die klagende Versicherung argumentierte daraufhin, dass der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten gegen seine vertraglichen Obliegenheiten verstoßen habe und somit keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen habe.
Amtsgericht wies Klage zunächst ab – Versicherung legte Berufung ein
Bereits das Amtsgericht Mitte hatte die Klage der Versicherung abgewiesen. Die Versicherung legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landgericht Berlin ein, um die Entscheidung der Vorinstanz überprüfen zu lassen. Das Landgericht hatte nun zu entscheiden, ob die Argumentation der Versicherung stichhaltig ist und der Versicherungsnehmer tatsächlich seinen Anspruch auf Versicherungsleistungen verwirkt hat.
Landgericht Berlin bestätigt: Kein Anspruch der Versicherung – Kausalitätsgegenbeweis entscheidend
Das Landgericht Berlin bestätigte die Entscheidung des Amtsgerichts und wies die Berufung der Versicherung zurück. Das Gericht stellte klar, dass dem Versicherungsnehmer trotz des möglichen Verstoßes gegen seine Obliegenheiten – die unerlaubte Entfernung vom Unfallort – keine Leistungskürzung oder Leistungsfreiheit der Versicherung zusteht. Entscheidend für diese Beurteilung war der sogenannte Kausalitätsgegenbeweis gemäß § 28 Absatz 3 Satz 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG).
Kausalitätsgegenbeweis: Pflichtverletzung muss Schadenursächlich sein
Der Kausalitätsgegenbeweis besagt, dass eine Versicherung nur dann von ihrer Leistungspflicht befreit ist, wenn die Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers ursächlich für die Feststellung des Versicherungsfalls oder die Höhe des Schadens war. Einfacher ausgedrückt: Die Pflichtverletzung muss einen konkreten Nachteil für die Versicherung verursacht haben, beispielsweise die Aufklärung des Unfallhergangs erschwert oder die Schadenshöhe beeinflusst haben.
Zeugenbeobachtung und Polizeieinsatz entkräften Kausalität
Im vorliegenden Fall argumentierte das Landgericht, dass der Kausalitätsgegenbeweis zugunsten des Beklagten greift. Der entscheidende Punkt war, dass der Unfall von einem Zeugen beobachtet und dieser den Vorfall umgehend der Polizei gemeldet hatte. Die Polizei erschien daraufhin am Unfallort und befragte den Beklagten in einem nahegelegenen Café. Das Gericht stellte fest, dass der Geschehensablauf identisch gewesen wäre, selbst wenn der Beklagte selbst die Polizei verständigt hätte.
Keine Arglist des Versicherungsnehmers erkennbar – Individuelle Umstände zählen
Die Versicherung argumentierte weiterhin, dass der Versicherungsnehmer arglistig gehandelt habe, was den Kausalitätsgegenbeweis ausschließen würde (§ 28 Absatz 3 Satz 2 VVG). Arglist liegt vor, wenn der Versicherungsnehmer bewusst und gewollt zum Nachteil der Versicherung handelt. Das Gericht wies jedoch auch diesen Einwand zurück. Die Beweislast für Arglist liegt beim Versicherer.
Stresssituation nach Unfall und Zeugenrisiko sprechen gegen Arglist
Das Landgericht betonte, dass ein Verkehrsunfall oft eine Stresssituation darstellt, in der Unfallverursacher nicht primär an ihre Versicherung denken. Zudem berücksichtigte das Gericht, dass der Beklagte mit der Beobachtung durch Zeugen rechnen musste und sich in der Nähe des Unfallorts aufhielt. Dies spreche gegen ein zielgerichtetes Verhalten, um die Interessen der Versicherung zu schädigen. Die pauschale Annahme von Arglist bei unerlaubtem Entfernen vom Unfallort sei laut Bundesgerichtshof unzulässig; vielmehr sei eine Einzelfallbetrachtung erforderlich.
Bedeutung des Urteils für Betroffene: Versicherungsschutz bleibt in vielen Fällen erhalten
Dieses Urteil des Landgerichts Berlin hat erhebliche Bedeutung für Versicherungsnehmer. Es stellt klar, dass das unerlaubte Entfernen vom Unfallort nicht in jedem Fall automatisch zum Verlust des Versicherungsschutzes führt. Versicherungen können sich in solchen Fällen nicht pauschal auf eine Obliegenheitsverletzung berufen, um Leistungen zu verweigern. Vielmehr müssen sie nachweisen, dass die Pflichtverletzung tatsächlich kausal für die Schadensfeststellung oder -höhe war.
Kausalitätsgegenbeweis als Schutzmechanismus für Versicherungsnehmer
Der Kausalitätsgegenbeweis dient somit als wichtiger Schutzmechanismus für Versicherungsnehmer. Er verhindert, dass Versicherungen unberechtigt Leistungen kürzen oder verweigern, wenn eine formale Pflichtverletzung zwar vorliegt, aber keine tatsächlichen Auswirkungen auf den Versicherungsfall hat. Versicherungsnehmer sollten sich daher im Falle einer Leistungsablehnung durch ihre Versicherung aufgrund einer vermeintlichen Obliegenheitsverletzung nicht vorschnell geschlagen geben und ihre Rechte prüfen lassen. Dieses Urteil stärkt die Position von Versicherungsnehmern und fordert eine differenziertere Betrachtung von vermeintlichen Pflichtverletzungen durch Versicherungen ein.
Die Schlüsselerkenntnisse
Eine Pflichtversicherung kann Leistungen nicht automatisch verweigern, wenn ein Versicherungsnehmer den Unfallort verlässt, solange dieser nachweisen kann, dass sein Verhalten die Schadenregulierung nicht negativ beeinflusst hat (Kausalitätsgegenbeweis). Arglistiges Handeln, das eine Leistungsverweigerung rechtfertigen könnte, muss von der Versicherung konkret bewiesen werden und erfordert eine gezielte Schädigungsabsicht. Besonders relevant ist, dass die emotionale Ausnahmesituation eines Unfalls berücksichtigt wird und nicht jedes unerlaubte Entfernen vom Unfallort automatisch als arglistig gilt.
Benötigen Sie Hilfe?
Versicherungsschutz in schwierigen Situationen
Insbesondere wenn sich der Verlauf eines Unfalls unklar gestaltet und Fragen zum Versicherungsschutz aufkommen, ist es verständlich, wenn Sie sich in einer Zwickmühle befinden. Häufig erschweren vermeintliche Pflichtverletzungen den Blick auf Ihre Möglichkeiten, wobei auch individuelle Umstände eine wesentliche Rolle spielen.
Unsere Kanzlei unterstützt Sie dabei, Ihre Situation objektiv zu bewerten und gemeinsam die relevanten Aspekte Ihres Falles sorgfältig zu prüfen. Mit einer transparenten Analyse Ihrer Rechte schaffen wir die Grundlage, um Unklarheiten zu beseitigen und potenzielle Risiken gezielt zu adressieren.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was bedeutet „Obliegenheitsverletzung“ im Versicherungsrecht und wie hängt sie mit einem Verkehrsunfall zusammen?
Im Versicherungsrecht sind Obliegenheiten „Verpflichtungen minderer Art“, die der Versicherungsnehmer einhalten muss. Anders als bei regulären rechtlichen Pflichten kann man nicht zur Einhaltung gezwungen werden, aber die Verletzung dieser Obliegenheiten kann erhebliche rechtliche Nachteile mit sich bringen.
Definition und Arten von Obliegenheiten
Obliegenheiten sind vertraglich festgelegte Verhaltensregeln, die Sie als Versicherungsnehmer beachten müssen, um Ihren vollen Versicherungsschutz zu erhalten. Man unterscheidet zwischen:
- Primären Obliegenheiten: Diese gelten vor Eintritt eines Versicherungsfalls, wie die Meldung von Gefahrenerhöhungen oder die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften.
- Sekundären Obliegenheiten: Diese werden nach Eintritt eines Versicherungsfalls relevant, wie die unverzügliche Anzeigepflicht oder die Pflicht zur Schadensminderung.
Im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen sind besonders wichtige Obliegenheiten:
- Die Anzeigepflicht des Unfalls bei der Versicherung innerhalb einer bestimmten Frist (meist eine Woche)
- Die Pflicht, am Unfallort zu bleiben und die notwendigen Daten auszutauschen
- Die Mitwirkungspflicht bei der Feststellung des Schadens
- Die Schadenminderungspflicht, also alles zu tun, um den Schaden so gering wie möglich zu halten
Folgen einer Obliegenheitsverletzung
Die Konsequenzen einer Obliegenheitsverletzung hängen vom Grad des Verschuldens ab:
- Bei vorsätzlicher Verletzung ist der Versicherer vollständig leistungsfrei.
- Bei grob fahrlässiger Verletzung kann der Versicherer die Leistung entsprechend der Schwere des Verschuldens kürzen (Quotenregelung).
- Bei einfach fahrlässiger Verletzung bleibt der Versicherungsschutz in der Regel bestehen.
Wenn Sie beispielsweise nach einem Verkehrsunfall Fahrerflucht begehen, stellt dies eine schwerwiegende Obliegenheitsverletzung dar. In einem konkreten Fall wurde eine Beklagte verurteilt, ihrer Versicherung 2.500 € zurückzuzahlen, weil sie nach einem Unfall weiterfuhr, obwohl sie den Zusammenstoß bemerkt hatte.
Besonderheiten bei der Kfz-Haftpflichtversicherung
In der Kfz-Haftpflichtversicherung gibt es eine wichtige Ausnahme: Selbst bei einer Obliegenheitsverletzung zahlt die Versicherung zunächst an den Geschädigten, kann aber vom Versicherungsnehmer Regress fordern. Dieser Regress ist bei einer Obliegenheitsverletzung vor dem Versicherungsfall auf maximal 5.000 € begrenzt.
Die Relevanzrechtsprechung als Schutz für Versicherungsnehmer
Nach der sogenannten Relevanzrechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Sie sich als Versicherungsnehmer darauf berufen, dass Ihre Obliegenheitsverletzung für den Versicherer keine tatsächlichen negativen Folgen hatte. Dies ist möglich, wenn:
- Der Verstoß auf einem minder schweren Verschulden basiert
- Keine ernsthafte Gefährdung für die Versicherung bestand
- Sie über die Obliegenheit nicht ausreichend informiert wurden
Das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) wurde 2008 reformiert und hat das frühere „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ abgeschafft. Heute muss ein kausaler Zusammenhang zwischen der Obliegenheitsverletzung und dem Schaden bestehen, damit der Versicherer leistungsfrei wird.
Wenn Sie in einen Verkehrsunfall verwickelt sind, sollten Sie daher unbedingt Ihre vertraglichen Obliegenheiten einhalten: Bleiben Sie am Unfallort, melden Sie den Schaden rechtzeitig Ihrer Versicherung und wirken Sie bei der Schadensermittlung mit. So vermeiden Sie den Verlust Ihres Versicherungsschutzes und mögliche Regressforderungen.
Was ist der „Kausalitätsgegenbeweis“ und wie kann er mir helfen, wenn meine Versicherung die Leistung verweigert?
Der Kausalitätsgegenbeweis ist ein rechtliches Instrument, mit dem Sie als Versicherungsnehmer die Leistungsverweigerung Ihrer Versicherung abwenden können, wenn Ihnen eine Obliegenheitsverletzung (wie z.B. Unfallflucht) vorgeworfen wird.
Grundprinzip des Kausalitätsgegenbeweises
Wenn Sie eine vertragliche Pflicht (Obliegenheit) verletzt haben, kann Ihre Versicherung die Leistung verweigern oder kürzen. Mit dem Kausalitätsgegenbeweis können Sie jedoch nachweisen, dass Ihre Pflichtverletzung keinen Einfluss auf folgende Aspekte hatte:
- Die Feststellung des Versicherungsfalls
- Das Ob und den Umfang der Leistungspflicht der Versicherung
Die gesetzliche Grundlage hierfür findet sich in § 28 Abs. 3 Satz 1 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG).
Wie Sie den Kausalitätsgegenbeweis führen können
Der Kausalitätsgegenbeweis ist anspruchsvoll, da Sie eine negative Tatsache beweisen müssen. Sie müssen darlegen, dass Ihrer Versicherung durch Ihr Verhalten keinerlei Feststellungsnachteile entstanden sind. Dies können Sie auf folgende Weise tun:
- Ausräumen möglicher Nachteile: Zeigen Sie, dass alle relevanten Informationen trotz Ihrer Pflichtverletzung vollständig erfasst wurden.
- Widerlegung konkreter Behauptungen: Warten Sie ab, welche spezifischen Nachteile die Versicherung geltend macht, und widerlegen Sie diese dann.
Praktisches Beispiel bei Unfallflucht
Wenn Sie nach einem Unfall die Unfallstelle verlassen haben (Unfallflucht), können folgende Umstände für einen erfolgreichen Kausalitätsgegenbeweis sprechen:
- Die Polizei hat kurz nach dem Unfall alle relevanten Informationen aufgenommen.
- Es wurden Zeugenaussagen und eine umfassende Dokumentation des Schadens gesichert.
- Der Unfallhergang war eindeutig und konnte auch ohne Ihre sofortige Anwesenheit am Unfallort festgestellt werden.
- Bei einer zeitnahen polizeilichen Kontrolle wurden keine Auffälligkeiten (z.B. Alkoholisierung) festgestellt.
Wichtige Einschränkung: Die Arglist-Klausel
Beachten Sie: Der Kausalitätsgegenbeweis ist nicht möglich, wenn Sie die Obliegenheit arglistig verletzt haben (§ 28 Abs. 3 Satz 2 VVG). Eine arglistige Verletzung liegt vor, wenn Sie bewusst und in der Absicht gehandelt haben, die Versicherung zu täuschen oder ihr Feststellungsnachteile zuzufügen.
Typische Schwierigkeiten beim Kausalitätsgegenbeweis
Bei Unfallflucht argumentieren Versicherungen häufig, dass ihnen Feststellungsnachteile entstanden sind, weil:
- Keine Feststellungen zur möglichen Alkoholisierung oder Drogenbeeinträchtigung des Fahrers mehr möglich waren.
- Die Umstände des Unfalls (z.B. nächtlicher Unfall ohne Fremdeinwirkung) auf eine mögliche Fahruntüchtigkeit hindeuten könnten.
- Die Gefahr bestand, dass durch Nachtrunk oder Nachkonsum auf das Alkohol- oder Drogenlevel im Blut Einfluss genommen wurde.
Wenn Sie diese Argumente entkräften können, stehen Ihre Chancen auf einen erfolgreichen Kausalitätsgegenbeweis gut.
Praktische Vorgehensweise
Wenn Ihre Versicherung die Leistung verweigert oder Regress fordert:
- Bewahren Sie Ruhe und zahlen Sie nicht sofort.
- Sammeln Sie Beweise, die zeigen, dass der Versicherung keine Nachteile entstanden sind.
- Dokumentieren Sie alle Umstände des Unfalls und der nachfolgenden Ereignisse.
- Formulieren Sie schriftlich, warum Ihre Pflichtverletzung keinen Einfluss auf die Leistungspflicht der Versicherung hatte.
Der Kausalitätsgegenbeweis ist ein starkes Instrument, um ungerechtfertigte Leistungsverweigerungen abzuwehren, insbesondere wenn die Versicherung routinemäßig Regress fordert, obwohl die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind.
Wann spricht man von „Arglist“ im Zusammenhang mit einer Obliegenheitsverletzung und welche Auswirkungen hat das auf meinen Versicherungsschutz?
Arglist im Versicherungsrecht bezeichnet eine vorsätzliche und bewusste Täuschung oder das Verschweigen wichtiger Informationen durch den Versicherungsnehmer, um den Versicherer zu täuschen und einen ungerechtfertigten Vorteil zu erlangen. Dies kann sowohl bei verbalen als auch bei nonverbalen Obliegenheitsverletzungen vorkommen, wie z.B. bei der Anzeige von Gefahrerhöhungen oder bei der Schadensmeldung.
Was sind die Auswirkungen auf den Versicherungsschutz?
Wenn eine arglistige Obliegenheitsverletzung nachgewiesen wird, kann der Versicherer vollständig leistungsfrei werden, was bedeutet, dass er keine Zahlungen leisten muss. Dies gilt unabhängig davon, ob die Verletzung kausal für den Schaden war oder nicht. Die Beweislast für eine arglistige Obliegenheitsverletzung liegt beim Versicherer.
Beispiele für arglistige Obliegenheitsverletzungen:
- Falsche Angaben: Ein Versicherungsnehmer gibt vorsätzlich falsche Informationen über den Zustand oder die Nutzung des versicherten Gegenstandes an, um einen höheren Versicherungsschutz oder eine höhere Entschädigung zu erhalten.
- Verschweigen relevanter Informationen: Der Versicherungsnehmer verschweigt absichtlich relevante Informationen, die den Versicherungsschutz beeinflussen könnten, wie vorbestehende Schäden oder Risiken.
In einem solchen Fall kann der Versicherer den Vertrag anfechten oder zurücktreten, was bedeutet, dass der Vertrag als von Anfang an nichtig gilt. Es ist wichtig zu beachten, dass die Beweislast für die Arglist beim Versicherer liegt, und er muss nachweisen, dass der Versicherungsnehmer vorsätzlich und mit betrügerischer Absicht gehandelt hat.
In welchen Fällen kann die Versicherung trotz Unfallflucht die Schadensregulierung ablehnen?
Bei einer Unfallflucht kann Ihre Versicherung unter bestimmten Umständen die Schadensregulierung verweigern oder einschränken. Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab, die im Einzelfall geprüft werden müssen.
Obliegenheitsverletzung und ihre Folgen
Wenn Sie nach einem Unfall den Unfallort verlassen, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen, begehen Sie eine Obliegenheitsverletzung gegenüber Ihrer Versicherung. Diese kann zur Leistungsfreiheit führen, wenn:
- Die Verletzung vorsätzlich erfolgte
- Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Unfallflucht und der Feststellung des Versicherungsfalls oder dem Umfang der Leistungspflicht besteht
Entscheidend ist dabei, ob Ihre Versicherung durch die Unfallflucht in ihren Feststellungsmöglichkeiten beeinträchtigt wurde. Kann die Versicherung nachweisen, dass sie durch Ihr Verhalten Nachteile bei der Schadensermittlung hatte, darf sie die Leistung verweigern oder kürzen.
Unterschiedliche Auswirkungen je nach Versicherungsart
Die Konsequenzen einer Unfallflucht unterscheiden sich je nach Versicherungsart:
Kfz-Haftpflichtversicherung: Sie muss zunächst den Schaden des Unfallgegners regulieren, kann aber anschließend Regress bei Ihnen nehmen. Dieser ist in der Regel auf maximal 5.000 Euro begrenzt. Die Versicherung kann Ihnen auch kündigen.
Kaskoversicherung: Bei einer Unfallflucht erlischt in der Regel der Kaskoschutz vollständig. Das bedeutet, dass weder Ihre Vollkasko- noch Ihre Teilkaskoversicherung für Schäden an Ihrem eigenen Fahrzeug aufkommt.
Rechtsschutzversicherung: Diese darf bei einer Unfallflucht ebenfalls die Zahlungen verweigern. Möchten Sie sich einen Anwalt nehmen, müssen Sie die Kosten selbst tragen.
Ausnahmen: Wann die Versicherung trotz Unfallflucht zahlen muss
Es gibt Situationen, in denen die Versicherung trotz Unfallflucht nicht leistungsfrei wird:
- Wenn Sie den Kausalitätsgegenbeweis erbringen können. Das bedeutet, Sie müssen nachweisen, dass Ihre Unfallflucht keinen Einfluss auf die Feststellung des Versicherungsfalls oder den Umfang der Leistungspflicht hatte.
- Wenn Sie nach einer kurzzeitigen „Panikreaktion“ nachträglich kooperieren und bei der Aufklärung mitwirken. Das Amtsgericht Oldenburg hat in einem Urteil entschieden, dass nicht jede Unfallflucht automatisch als arglistige Obliegenheitsverletzung gewertet werden kann.
- Wenn die Unfallflucht aus einer Überforderungssituation heraus geschah und Sie später umfassend bei der Aufklärung kooperiert haben, ohne dass die Absicht bestand, die Schadensregulierung zu behindern.
Besondere Fallkonstellationen
Posttraumatischer Schock: Ein vermeintlicher Schockzustand nach dem Unfall wird von Gerichten nur dann als Entschuldigung anerkannt, wenn klare Beweise für eine tatsächliche Bewusstseinsstörung vorliegen. Das Saarländische Oberlandesgericht hat in einem Urteil vom 31. Juli 2024 entschieden, dass ein behaupteter „posttraumatischer Schock“ nicht automatisch vor den versicherungsrechtlichen Folgen einer Unfallflucht schützt.
Fremder Fahrer: Wenn jemand anderes mit Ihrem Fahrzeug einen Unfall verursacht und Fahrerflucht begeht, reguliert Ihre Versicherung den Schaden des Geschädigten, nimmt aber den Fahrer in Regress. Als Halter können Sie eigene Leistungen vom Fahrer zurückfordern.
Gestohlenes Fahrzeug: Bei einem Unfall mit einem gestohlenen Fahrzeug müssen Sie als Halter nicht für den Schaden haften. Ihre Versicherung wird in der Regel die Schäden regulieren und die Leistungen vom Täter zurückverlangen, ohne dass Sie hochgestuft werden oder andere Nachteile haben.
Wenn Sie in einen Unfall verwickelt werden, ist es daher immer ratsam, am Unfallort zu bleiben und Ihre Versicherung umgehend zu informieren, um Ihren Versicherungsschutz nicht zu gefährden.
Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung ersetzen kann. Haben Sie konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren – wir beraten Sie gerne.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Obliegenheit
Eine Obliegenheit im Versicherungsrecht ist eine vertragliche Nebenpflicht des Versicherungsnehmers, die zwar nicht einklagbar ist, deren Verletzung aber dennoch Rechtsnachteile nach sich ziehen kann. Im Gegensatz zu einer echten Rechtspflicht kann die Versicherung die Erfüllung einer Obliegenheit nicht erzwingen, aber bei Nichtbeachtung Leistungen kürzen oder verweigern. Die rechtliche Grundlage findet sich in §§ 28, 29 Versicherungsvertragsgesetz (VVG).
Beispiel: Nach einem Verkehrsunfall hat der Versicherungsnehmer die Obliegenheit, am Unfallort zu bleiben und der Versicherung den Schaden zeitnah zu melden. Die Verletzung dieser Obliegenheit kann grundsätzlich zur Leistungsfreiheit der Versicherung führen.
Kausalitätsgegenbeweis
Der Kausalitätsgegenbeweis ist ein rechtliches Instrument, das einem Versicherungsnehmer ermöglicht, trotz Obliegenheitsverletzung seinen Versicherungsschutz zu behalten. Er muss dazu nachweisen, dass die Verletzung weder für die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht ursächlich war. Die gesetzliche Grundlage findet sich in § 28 Abs. 3 VVG.
Beispiel: Ein Autofahrer verlässt kurz den Unfallort, kehrt aber zurück, während Zeugen und Polizei noch anwesend sind. Wenn alle relevanten Unfallinformationen festgehalten werden konnten, kann er den Kausalitätsgegenbeweis führen, da seine kurzzeitige Abwesenheit die Schadensermittlung nicht beeinträchtigt hat.
Arglistige Verletzung der Aufklärungsobliegenheit
Eine arglistige Verletzung der Aufklärungsobliegenheit liegt vor, wenn der Versicherungsnehmer bewusst und gezielt falsche Angaben macht oder wichtige Informationen verschweigt, um die Versicherung zu täuschen und sich dadurch einen unberechtigten Vorteil zu verschaffen. Im Gegensatz zu bloßer Fahrlässigkeit setzt Arglist eine vorsätzliche Täuschungsabsicht voraus. Gemäß § 28 Abs. 3 VVG entfällt bei arglistigem Handeln die Möglichkeit des Kausalitätsgegenbeweises.
Beispiel: Ein Versicherungsnehmer behauptet, zum Unfallzeitpunkt nüchtern gewesen zu sein, obwohl er stark alkoholisiert war, und versucht, entsprechende Beweise zu vernichten, um die Versicherungsleistung zu erhalten.
Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort
Das unerlaubte Entfernen vom Unfallort („Fahrerflucht“) bezeichnet das rechtswidrige Verlassen einer Unfallstelle, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen. Es stellt nach § 142 StGB eine Straftat dar und kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe geahndet werden. Im Versicherungsrecht kann dies als Obliegenheitsverletzung gewertet werden, führt aber nicht automatisch zum Verlust des Versicherungsschutzes.
Beispiel: Ein Autofahrer verursacht einen Parkplatzschaden und fährt weg, ohne seine Kontaktdaten zu hinterlassen oder die Polizei zu rufen, obwohl ein erheblicher Sachschaden entstanden ist.
Berufungsverfahren
Ein Berufungsverfahren ist ein Rechtsmittelverfahren, in dem eine Partei das Urteil eines untergeordneten Gerichts durch ein höherinstanzliches Gericht überprüfen lässt. Diese zweite Instanz kann das erstinstanzliche Urteil bestätigen, abändern oder aufheben. Die Berufung muss innerhalb bestimmter Fristen eingelegt werden und ist nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Die rechtliche Grundlage findet sich in den §§ 511-541 ZPO.
Beispiel: Die Versicherung verliert vor dem Amtsgericht und legt Berufung zum Landgericht ein, um die Entscheidung anzufechten und eine neue Beurteilung des Falls zu erreichen.
Vorläufige Vollstreckbarkeit
Die vorläufige Vollstreckbarkeit bezeichnet die Möglichkeit, ein Urteil bereits vor seiner Rechtskraft zu vollstrecken, also durchzusetzen. Das Gericht kann anordnen, dass ein Urteil ohne oder gegen Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist. Dies ermöglicht dem Gläubiger, seine Ansprüche bereits durchzusetzen, bevor das Urteil rechtskräftig wird. Die gesetzliche Grundlage findet sich in den §§ 708-713 ZPO.
Beispiel: Das Landgericht weist die Berufung der Versicherung zurück und erklärt das Urteil für vorläufig vollstreckbar, sodass der Versicherungsnehmer seine Ansprüche sofort durchsetzen kann, auch wenn die Versicherung noch die Möglichkeit hätte, Revision einzulegen.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 142 StGB (Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort): Dieser Paragraph im Strafgesetzbuch regelt das unerlaubte Entfernen vom Unfallort. Es ist strafbar, wenn man sich nach einem Unfall im Straßenverkehr entfernt, ohne die Feststellung der Personalien und des Unfallhergangs zu ermöglichen. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht unterstellt hier, dass der Beklagte sich möglicherweise unerlaubt vom Unfallort entfernt hat, was grundsätzlich eine Pflichtverletzung darstellen würde.
- § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG (Kausalitätsgegenbeweis): Diese Regelung im Versicherungsvertragsgesetz besagt, dass eine Versicherung nicht leisten muss, wenn eine Obliegenheit (Pflicht) verletzt wurde, aber diese Verletzung nicht ursächlich für den Schadenfall war. Der Versicherungsnehmer kann beweisen, dass der Schaden auch ohne die Pflichtverletzung entstanden wäre. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht argumentiert, dass selbst wenn der Beklagte eine Pflicht verletzt hätte, indem er sich entfernte, dies nicht ursächlich für den entstandenen Schaden war, da der Unfall ohnehin durch einen Zeugen gemeldet wurde.
- § 28 Abs. 3 Satz 2 VVG (Arglist): Diese Ausnahmebestimmung besagt, dass der Kausalitätsgegenbeweis nicht gilt, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit arglistig verletzt hat. Arglist bedeutet hierbei, dass der Versicherungsnehmer bewusst und gewollt zum Nachteil der Versicherung gehandelt hat. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht verneint Arglist beim Beklagten. Es wird argumentiert, dass ein Unfall eine Stresssituation ist und das Entfernen vom Unfallort nicht zwangsläufig mit der Absicht verbunden sein muss, die Versicherung zu schädigen, insbesondere da Zeugen den Unfall beobachtet hatten.
- Versicherungsvertragliche Obliegenheiten: Versicherungsverträge enthalten Pflichten für Versicherungsnehmer, sogenannte Obliegenheiten. Eine typische Obliegenheit nach einem Verkehrsunfall ist es, am Unfallort zu bleiben und die notwendigen Feststellungen zu ermöglichen sowie den Schaden der Versicherung zu melden. | Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht geht davon aus, dass der Beklagte möglicherweise gegen seine vertraglichen Pflichten verstoßen hat, indem er sich vom Unfallort entfernte, prüft aber, ob dies rechtliche Konsequenzen hat.
Das vorliegende Urteil
LG Berlin – Az.: 46 S 58/22 – Urteil vom 10.05.2023
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