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Unfallversicherung – Versicherungsschutz bei psychischen Beeinträchtigungen nach einem Unfall

OLG Koblenz 10. Zivilsenat – Az.: 10 U 109/10 – Urteil vom 28.01.2011

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil der 16. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz vom 14. Januar 2010 teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin darf die Vollstreckung durch eine Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des aufgrund des Urteils gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung eine Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen aufgrund eines Vertrages über eine Unfallversicherung.

Die Klägerin hat bei der Beklagten einen Vertrag über eine private Unfallversicherung abgeschlossen. Versicherte Person ist der Sohn der Klägerin, A. B.. Dem Vertrag liegen die AUB 2002 der Beklagten zugrunde. Die Invaliditätsgrundsumme beträgt 100.000 €, vereinbart ist eine progressive Invaliditätsstaffel von 300% und eine Unfallrente von 500 € monatlich, sofern der Invaliditätsgrad mindestens 50% beträgt.

Unfallversicherung - Versicherungsschutz bei psychischen Beeinträchtigungen nach einem Unfall
(Symbolfoto: Von EugeneEdge/Shutterstock.com)

Der Sohn der Klägerin erlitt am 18. Mai 2004 im Alter von 17 Jahren einen schweren Motorradunfall, bei dem er sich eine drittgradige offene Ober- und Unterschenkelfraktur links mit einem erheblichen Weichteildefekt, sowie eine Partialläsion des Nervus peroneus communis links und des Nervus suralis links zuzog. Nach mehrwöchiger umfangreicher stationärer Heilbehandlung wurde der Versicherte am 9. Juni 2004 aus dem X.krankenhaus entlassen, musste jedoch in der Zeit vom 8. bis 16. Juli 2004 wegen einer Entzündung mit Verdacht auf Osteomelitis nochmals stationär behandelt werden. Auch in der Folgezeit war der Heilungsverlauf mit Komplikationen verbunden, die sich mit Unterbrechungen bis Februar 2006 hinzogen. Weiterhin befand der Sohn der Klägerin in dem genanten Zeitraum sich in begleitend durchgeführten ambulanten Behandlungen wegen der Nervenverletzung und wegen einer insgesamt streitigen posttraumatischen Belastungsstörung, deren Verdachtsdiagnose zuerst am 23. Juli 2004 durch den Arzt Dr. C. (Arzt für Neurologie und Psychiatrie) gestellt worden war.

Nachdem die Klägerin fristgerecht gegenüber der Beklagten den Anspruch auf Invaliditätsleistungen angemeldet hatte, zahlte die Beklagte zunächst einen Vorschuss von 10.000 € sowie zum 17. April 2007 eine weitere Invaliditätsentschädigung von 35.000 €. Zum Ablauf des dritten Unfalljahres holte die Beklagte verschiedene ärztliche Stellungnahmen ein zur Frage des akuten Gesundheitszustandes der versicherten Person und zu verbleibenden Unfallfolgen. Es ergab sich eine dauernde Invalidität mit einer Funktionseinschränkung des linken Beines von 6/10 Beinwert. Daraufhin zahlte die Beklagte am 14. August 2007 weitere 14.000 €.

Noch vor Klagezustellung zahlte die Beklagte nach anwaltlicher Geltendmachung rückwirkend ab Mai 2004 eine Unfallrente in Höhe von 20.500 € und erbringt seit dem 10. Oktober 2007 vierteljährlich für längstens 10 Jahre seit dem Unfalltag die weiteren Rentenzahlungen. Daraufhin hat die Klägerin ebenfalls noch vor Klagezustellung die teilweise Klagerücknahme bezüglich der Unfallrentenforderung erklärt.

Die Klägerin hat vorgetragen: Die aufgrund des Motorradunfalls vom 18. Mai 2004 entstandenen Verletzungsfolgen der versicherten Person bewirkten eine Invalidität, die mit 8/10 Beinwert zu bemessen sei. Ferner leide der Versicherte in Folge dieses Unfalls an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die eine psychische Beeinträchtigung mit einem Invaliditätsgrad von 15% bewirke. Die Beklagte könne sich insoweit nicht auf die Ausschlussfrist nach Ziffer 2.1.1.1 der AUB 2002 berufen, da diese Klausel gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB verstoße. Außerdem sei der Beklagten die Berufung auf diese Ausschlussfrist nach Treu und Glauben verwehrt, da die psychische Belastungsstörung von dem von ihr beauftragten Gutachter D. festgestellt worden sei. Unter Berücksichtigung der von der Beklagten geleisteten Zahlungen errechne sich bei einer Gesamtinvalidität von 71% (= 138% entsprechend der Progression 300) noch eine Invaliditätsentschädigung von 79.000 €.

Die Klägerin hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 79.000 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14. August 2007 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen: Eine höhere Invaliditätsentschädigung als die von ihr bereits gezahlten 59.000 € könne die Klägerin wegen der unfallbedingten Verletzungen der versicherten Person nicht beanspruchen. Der Invaliditätsgrad betrage 6/10 Beinwert für das linke Bein. Sie bestreite, dass die versicherte Person an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder an einer sonstigen unfallbedingten psychischen Störung leide. Außerdem seien derartige Unfallfolgen wegen Ziffer 2.1.1.1 AUB 2002 verfristet, da die behaupteten psychischen Leiden nicht binnen 15 Monaten nach dem Unfall ärztlich festgestellt worden seien. Die Äußerungen in dem Gutachten D. müsse sich die Beklagte nicht zurechnen lassen, da dieser nur mit der Erstellung eines neurologischen Gutachtens, nicht aber mit der Erstellung des psychiatrischen Gutachtens beauftragt worden sei.

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme der Klage mit einem Betrag von 37.000 € teilweise stattgegeben. Es hat die Verletzungsfolgen mit einem Beinwert von 6/10 bewertet. Es hat darüber hinaus aber für die Invaliditätsentschädigung eine psychische Störung berücksichtigt, die mit einem Invaliditätsgrad von 15% bewertet wurde, und hierzu entschieden, dass der Kläger an einer psychischen Störung leide, die mit einem Invaliditätsgrad von 15% zu bewerten sei und dass die Beklagte sich nach Treu und Glauben nicht auf die Ausschlussklausel nach Ziffer 2.1.1.1. AUB 2002 berufen könne, weil sie sich das Verhalten des von ihr vorgerichtlich beauftragten Sachverständigen D. zurechnen lassen müsse. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.

Die Beklagte trägt vor: Die Klägerin könne aufgrund der psychischen Störung keine Invaliditätsleistung verlangen. Zum einen sei schon nicht objektiv festgestellt, dass innerhalb des ersten Jahres nach dem Unfall die psychische Störung dazu geführt habe, dass ein Dauerschaden zu erwarten gewesen sei. Auch habe die Klägerin die Frist von 15 Monaten zur Geltendmachung einer Invaliditätsleistung aufgrund einer psychischen Störung nicht eingehalten. Hierbei handele es sich um eine Ausschlussfrist. Weiterhin gehe das Landgericht auch fehlerhaft davon aus, dass die Beklagte sich auf den Ablauf der Frist zur ärztlichen Feststellung nach Treu und Glauben nicht berufen könne. Bei dieser Frist handele es sich um eine objektive Anspruchsvoraussetzung. Der von ihr beauftragte Sachverständige D. habe zu einer psychischen Störung zwar Stellung genommen, jedoch sei er hierzu von der Beklagten nicht beauftragt gewesen. Dass er über seinen Auftrag hinaus zu einem posttraumatischen Belastungssyndrom Stellung genommen habe, führe nicht zu einem widersprüchlichen und treuwidrigen Verhalten der Beklagten. Zu Unrecht habe das Landgericht weiter ausgeführt, dass der Ausschlusstatbestand der Ziffer 5.2.6. AUB nicht gegeben sei. Darunter fielen alle Gesundheitsschäden, bei denen ein adäquater Kausalzusammenhang mit körperlichen Traumata nicht nachzuweisen sei. Bei dem Sohn der Klägerin sei nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. E. eine ausgesprochen ungewöhnliche Entwicklung in Bezug auf die psychische Störung eingetreten. Diese sei damit gerade keine praktisch unvermeidbare Begleiterscheinung der organischen Schädigung. Es handele sich um eine psychische Reaktion, die nicht zuverlässig kalkuliert werden könne.

Die Beklagte beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor: Das Landgericht habe sachverständig beraten eigene Feststellungen zu dem beim Sohn der Klägerin vorliegenden Dauerschaden getroffen. Der Sachverständige E. habe auch bestätigt, dass bei dem Sohn der Klägerin die psychische Dauerfolge bereits im ersten Jahr nach dem Unfall eingetreten gewesen sei.

Es treffe nicht zu, dass sie die Frist zur Geltendmachung der Invalidität nicht eingehalten habe. Erstinstanzlich sei unstreitig gewesen, dass sie die Invaliditätsleistungen gegenüber der Beklagten rechtzeitig angemeldet habe. Ohne Rechtsfehler sei das Landgericht auch davon ausgegangen, dass sich die Beklagte nicht auf eine verspätete ärztliche Feststellung der Invalidität berufen könne. Der von der Beklagten beauftragte Gutachter Dr. D. habe ausdrücklich und umfassend zu den psychischen Leiden des Sohnes der Klägerin Stellung genommen. Es sei deshalb davon auszugehen, dass der Gutachtenauftrag des Dr. D. auch die psychische Situation des Sohnes der Klägerin umfasst habe, so dass es falsch sei, wenn die Beklagte vortrage, der Gutachter sei generell zur Feststellung psychischer Störungen nicht beauftragt worden. Der Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens der Beklagten sei eindeutig erfüllt. Dies gelte ausdrücklich auch für die Frist zur Geltendmachung der Invalidität. Die von Dr. D. im Auftrag der Beklagten durchgeführte Untersuchung sei für den Sohn der Klägerin sehr belastend gewesen. Der Versicherer müsse sich bei Einschalten eines Arztes zur Wahrnehmung der Aufgaben des Versicherers dessen Handlungen voll zurechnen lassen. Auch hier gelte, dass das Risiko des Fehlverhaltens des Vertreters der Vertretene trage.

Das Landgericht habe zutreffend auch ein Eingreifen der Ausschlussklausel der Ziffer 5.2.6 der Versicherungsbedingungen ausdrücklich verneint. Das Landgericht habe festgestellt, dass gerade keine rein psychogene Reaktion vorliege. Das Landgericht habe ausführlich und nachvollziehbar begründet, warum es dem erschöpfenden Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen folge. Dies sei nicht anzugreifen. Die Grundlage der depressiven Störung des Sohnes der Klägerin bilde hier eindeutig dessen körperliche Beeinträchtigung. Es liege damit eindeutig eine dauerhafte organische Ursache der psychischen Erkrankung vor. Im übrigen macht die Klägerin geltend, die Klausel Ziffer 5.2.6 der einschlägigen AUB sei intransparent, da vorliegend zwei alternative Auslegungsmöglichkeiten bestünden und nach der einen Möglichkeit Versicherungsschutz zu gewähren sei. In diesem Fall sei die dem Versicherungsnehmer günstige Auslegungsalternative heranzuziehen.

Wegen aller weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Die Klägerin kann aufgrund des zwischen den Parteien bestehenden Versicherungsvertrages keine Versicherungsleistung für die bei ihrem Sohn aufgrund des Unfalls und der dabei erlittenen Verletzungen und ihren Folgen, wie der zurückbleibenden, durchaus als entstellend anzusehenden Narben, aufgetretenen mittelgradigen depressiven Störung mit Körperbildstörung verlangen. Eine Berücksichtigung dieser Beeinträchtigung ist gemäß Ziffer 5.2.6 der AUB 2002 (Bl. 25 ff. d. A.) der Beklagten ausgeschlossen. Weiterhin bestehen Bedenken, ob das Vorliegen der formellen Anspruchsvoraussetzungen gemäß Ziffer 2.1.1.1 AUB 2002 angenommen werden kann.

Gemäß Ziffer 2.1.1.1 AUB 2002 ist Voraussetzung für die Invaliditätsleistung, dass die Invalidität innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten ist und innerhalb von 15 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt und vom Versicherungsnehmer bei der Beklagten geltend gemacht worden ist.

Unstreitig hat die Klägerin ihr Begehren nach Invaliditätsentschädigung innerhalb der Frist von 15 Monaten nur auf die körperlichen Beeinträchtigungen ihres Sohnes gestützt. Dass auch aufgrund psychischer Beeinträchtigungen eine Invalidität gegeben sein könnte, wurde erst durch das von der Beklagten in Auftrag gegebene Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. vom 25. Juni 2007 festgestellt, also mehr als 3 Jahre nach dem Unfall und lange nach Ablauf der Frist von 15 Monaten. Das Landgericht ist hier der Auffassung, der Beklagten sei es nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf Ziffer 2.1.1.1 der AUB 2002 zu berufen. Sie müsse sich vielmehr das Verhalten des von ihr vorgerichtlich beauftragten Sachverständigen D., der in seinem Gutachten, ohne dazu konkret beauftragt worden zu sein, auch zu der Frage einer psychischen Gesundheitsstörung wegen eines posttraumatischen Belastungssyndroms Stellung genommen habe, zurechnen lassen. Die Beklagte habe sich das Gutachten auch in diesen Punkten zu eigen gemacht, da sie den gutachterlichen Äußerungen entnommen habe, dass eine Dauerhaftigkeit der Prognose eines posttraumatischen Belastungssyndroms nicht feststellbar sei.

Diese Auffassung vermag der Senat nicht zu teilen. Der Versicherer handelt dann treuwidrig, wenn er gegenüber dem Versicherungsnehmer zu erkennen gegeben hat, dass er auf die Einhaltung der Frist keinen Wert legt, und ihn deshalb davon abhält, rechtzeitig die erforderlichen Feststellungen treffen zu lassen. Davon kann vorliegend nicht die Rede sein. Nachdem bereits kurz nach dem Unfall der Verdacht auf das Vorliegen psychischer Beeinträchtigungen aufgekommen war (Dr. C., 23. Juli 2004), hatte die Klägerin hinreichend Zeit, auch diese Beeinträchtigung ärztlich feststellen zu lassen, ohne dass die Beklagte sie hier in irgendeiner Weise behindert hätte. Die Klägerin und ihr Sohn haben jedoch nichts unternommen, eine unfallbedingte Invalidität aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung definitiv ärztlich feststellen zu lassen. Die Feststellung durch Dr. D. erfolgte lange nach Fristablauf im Rahmen eines Gutachterauftrages mit einer anderen Zielrichtung ohne Auftrag durch die Beklagte, die damit auch nicht den Anschein erweckt hatte, sie wolle sich wegen der psychischen Beeinträchtigungen nicht auf die Frist des 2.1.1.1 AUB 2002 berufen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach welcher die Berufung auf den Fristablauf treuwidrig ist, wenn der Versicherer in Kenntnis abgelaufener Fristen ein Gutachten verlangt, greift nicht ein. Die Beklagte hat das Gutachten eingeholt im Hinblick auf die Funktionsbeeinträchtigung bezüglich des geschädigten Beines, nicht aber im Hinblick auf etwaige psychische Beeinträchtigungen. Es kann dem Versicherer bei einem Sachverhalt wie dem hier vorliegenden nicht als Verstoß gegen Treu und Glauben angelastet werden, wenn er sich auf den lange zurückliegenden Fristablauf beruft. Der Umstand, dass der von der Beklagten wegen einer anderen Beeinträchtigung, bezüglich welcher die Beklagte in das Prüfungsverfahren eingetreten ist, beauftragte Sachverständige den ihm erteilten Auftrag überschreitet und lange nach Fristablauf erstmals Feststellungen bezüglich einer weiteren Beeinträchtigung trifft, muss sich die Beklagte weder zurechnen lassen noch ist er geeignet, ihr Verhalten als treuwidrig erscheinen zu lassen, wenn sie sich gegenüber den hierauf gestützten Ansprüchen der Klägerin auf den Fristablauf und damit darauf beruft, dass die Anspruchsvoraussetzungen bezüglich dieses neuen Anspruchs nicht gegeben sind.

Damit scheitert die Klage im Hinblick auf den vom Landgericht noch zuerkannten Betrag schon am Fehlen der formellen Anspruchsvoraussetzungen, nämlich am Fehlen der fristgerechten ärztlichen Invaliditätsfeststellung. Sie ist aber auch deshalb unbegründet, weil die Beklagte nicht verpflichtet ist, für die psychische Beeinträchtigung eine Invaliditätsentschädigung zu zahlen.

Nach Ziffer 5.2.6 AUB 2002 besteht kein Versicherungsschutz für krankhafte Störungen infolge psychischer Reaktionen, auch wenn diese durch einen Unfall verursacht sind.

Die genannte Klausel der Versicherungsbedingungen ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht unwirksam. Sie ist in gleicher Weise auszulegen, wie der Bundesgerichtshof dies für die inhaltlich gleiche Bestimmung des § 2 IV AUB 94 entschieden hat (Urteil vom 23.6.2004 – IV Z 130/03). Es ist auch hier abzustellen auf den Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsschaden und seiner Ursache. Kann die krankhafte Störung nur mit ihrer psychogenen Natur erklärt werden, will der Versicherer keinen Versicherungsschutz übernehmen. Psychogen bedeutet, dass der Zustand vor allem auf psychische Bedingungen, d. h. die Art und Weise der Erlebnisverarbeitung, zurückzuführen ist (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage, Stichwort: psychogen). Führt dagegen eine organische Schädigung unmittelbar zu einem psychischen Leiden, löst dies den Ausschlusstatbestand nicht aus, da diese seelischen Beschwerden nicht, wie die Klausel dies wörtlich verlangt, ihrerseits auf psychischen Reaktionen beruhen, sondern physisch hervorgerufen sind, wie z. B. die Veränderung der Psyche bei einer hirnorganischen Verletzung (so auch BGH Urteil vom 29.9.2004 – Az: IV Z 233/03). Der Umstand, dass die tatsächliche Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Klausel im Einzelnen schwierig und für medizinische Laien nicht ohne weiteres einsichtig sein kann, führt nach Auffassung des Senats nicht zu ihrer Bewertung als untransparent im Sinn von § 305 c Abs. 2 BGB.

Von dem Ausschluss erfasst werden demgegenüber alle Gesundheitsstörungen, die auf einer psychischen Reaktion beruhen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Reaktion auf den Unfall selbst, um eine solche auf die entweder im Laufe des Heilungsprozesses auftretenden Beschwerden und Leiden oder auch um eine Reaktion auf nach Abschluss des Heilungsprozesses verbleibende Behinderungen handelt. Treten nach einem Unfall, der organische Schädigungen mit sich brachte, in der Folgezeit psychische Beeinträchtigungen auf, so muss geklärt werden, ob der krankhafte Zustand seine Ursache in der organischen Schädigung hat oder letztlich auf einer psychischen Reaktion beruht. Es reicht nicht aus, wenn nach einer körperlichen Schädigung in der Folge psychische Probleme auftreten (Burmann/Heß, Psychische Erkrankungen, r + s 2010, 403 ff.).

Eine Auslegung des Inhalts, dass psychische Reaktionen auf körperliche Verletzungen dann im Rahmen der Unfallversicherung zu entschädigen sind, wenn sie aufgrund der Schwere des Unfalls und der dabei erlittenen Körperschäden verständlich und nachvollziehbar sind (so z.B. OLG Hamm, r + s 2006,428), wird durch die angeführte Versicherungsbedingung nicht gedeckt. Auch dann, wenn es nachvollziehbar ist, dass auf der Grundlage der erlittenen Verletzungen eine Depression oder eine sonstige psychische Störung entstanden ist, handelt es sich doch nicht um eine unmittelbare Folge der körperlichen Verletzung, sondern um eine erst aufgrund einer psychischen Reaktion eingetretene weitere Störung, deren Eintritt von der psychischen Verarbeitung des Unfalls und seiner physischen Folgen abhängt und damit nicht zwangsläufig mit der körperlichen Verletzung verbunden ist, sondern sich nur im Falle einer Fehlverarbeitung des Traumas und seiner Folgen einstellt. Damit gehören auch die „nachvollziehbaren und verständlichen“ psychischen Reaktionen zu den Unfallfolgen, für die Versicherungsschutz nicht gewährt wird.

Für die Frage, ob bei der Bemessung der Invaliditätsentschädigung auch die psychische Beeinträchtigung des Sohnes der Klägerin zu berücksichtigen ist, ist zu prüfen, ob ein unmittelbarer Zusammenhang mit der körperlichen Beeinträchtigung, d. h. der Verletzung seines Beines mit verbleibender Funktionsbeeinträchtigung, besteht oder ob sich die psychische Beeinträchtigung in der Folgezeit als Reaktion auf die körperliche Verletzung, den verzögerten Heilungsverlauf oder die verbleibende körperliche Beeinträchtigung entwickelt hat.

Nach den auf das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. E. vom 28. Januar 2009 gestützten Feststellungen des Landgerichts ist bei dem Sohn der Klägerin als Folge des Unfalls eine psychische Beeinträchtigung in Form einer mittelgradig depressiven Störung, verbunden mit einer Anpassungsstörung in Form einer massiven Körperbildstörung als Dauerfolge verblieben.

Derartige psychische Beeinträchtigungen beruhen in aller Regel auf einer Reaktion auf das Unfallgeschehen und seine Folgen. Zwar kann eine Depression auch unmittelbar durch ein Trauma ausgelöst werden, z. B. bei einer schwerwiegenden Verletzung des zentralen Nervensystems (Burmann/Heß aaO S. 404). Eine derartige Verletzung ist beim Sohn der Klägerin jedoch nicht festgestellt worden. Eine Anpassungsstörung ist hauptsächlich durch Depressivität und Angst, einem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, Unsicherheit und Unfähigkeit, sowie einer eingeschränkten Lebenstüchtigkeit im Alltag gekennzeichnet. Für das Eintreten der Anpassungsstörung ist weniger das äußere Ereignis als vielmehr das Erleben der Veränderung ausschlaggebend. Das Krankheitsbild wird herkömmlich als reaktive Depression bezeichnet. Ihm liegen häufig tiefgreifende Kränkungen und Selbstwertkrisen zu Grunde, wobei die individuelle Prädisposition hinsichtlich Vulnerabilität bei dem möglichen Auftreten und der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle spielt (Burmann/Heß aaO S. 404). Dies alles weist darauf hin, dass diese Beeinträchtigung nicht unmittelbar durch eine körperliche Verletzung hervorgerufen wird, sondern sich erst aufgrund einer psychischen Reaktion auf den Unfall oder die Verletzungsfolgen einstellt.

Diese Wertung wird auch unterstützt durch die Darlegungen in dem Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. E. vom 28.1.2009, in dem er ausführt, dass die neben der Depression bestehende Körperbildstörung nicht die eingetretenen Veränderungen durch das Unfallereignis meine, sondern das Erleben des Probanden, der sich in seiner Körperlichkeit so gestört fühlt, dass er glaubt, dass ihn Menschen und insbesondere Frauen, wenn sie nur sein Bein sähen, als Person und Mann grundsätzlich ablehnen. Hier zeigt sich deutlich eine Fehlverarbeitung der durch den Unfall eingetretenen Beinverletzung. Wenn der Sachverständige weiter ausführt, die Ausgestaltung der Symptomatik mit ängstlich-depressiver Zurückgezogenheit und massiver Körperbildstörung sei unmittelbar auf den Unfall zurückzuführen, so zeigt er doch nicht auf, dass die beim Sohn der Klägerin eingetretenen psychischen Beeinträchtigungen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den erlittenen körperlichen Verletzungen stehen. Soweit der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 23.5.2009 ausführt, die psychische Erkrankung könne nicht mit ihrer psychogenen Natur im Sinne einer Reaktion erklärt werden, so ist dies angesichts seiner sonstigen Ausführungen, insbesondere auch bei seiner Anhörung vor dem Landgericht, aus denen sich eindeutig ergibt, dass bei dem Sohn der Klägerin eine ungewöhnliche Verarbeitung seiner Verletzungen vorliegt, nicht nachvollziehbar.

Zusammenfassend lässt sich sagen: der psychischen Erkrankung des Sohnes der Klägerin liegen zwar der Unfall und die dabei erlittenen Verletzungen sowie insbesondere auch die bei der Beinverletzung zurückgebliebenen, als entstellend empfundenen Narben zugrunde, so dass es ohne den Unfall mit seinen Folgen wahrscheinlich nicht zu der psychischen Erkrankung gekommen wäre. Diese stellte sich jedoch nicht zwangsläufig ein, wie sich aus der Angabe des Sachverständigen Dr. E. bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens ergibt, dass etwa nur 50% der Unfallopfer Anpassungsstörungen haben, sondern ergab sich in erster Linie aufgrund der individuellen Prädisposition des Sohnes der Klägerin, die zu einer Fehlverarbeitung des Unfalls und seiner Folgen führte, so dass sich daraus die vom Sachverständigen festgestellte ungewöhnliche Entwicklung der psychischen Erkrankung ergab, die sich bei anderen Unfallopfern mit vergleichbaren Schäden nicht ergibt. Damit beruht diese Beeinträchtigung auf einer psychischen Reaktion und ist deshalb gemäß 5.2.6. der AUB 2002 bei der Bemessung der Invaliditätsentschädigung nicht zu berücksichtigen.

Da das Landgericht somit der Klägerin fehlerhaft wegen der psychischen Störung, die der Unfall bei ihrem Sohn hervorgerufen hat, eine Invaliditätsentschädigung zugesprochen hat, ist auf die Berufung der Beklagten das angefochtene Urteil schon aus diesem Grund teilweise abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen gemäß § 543 Abs. 2 ZPO n. F. nicht gegeben sind.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 37.000 € festgesetzt.

 

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