Skip to content

Rücktritt Berufsunfähigkeitsversicherung – Nachweis falscher Angaben zu Vorerkrankungen

LG Karlsruhe – Az.: 6 O 375/10 – Urteil vom 13.05.2011

1. Es wird festgestellt, dass die private Berufsunfähigkeitsversicherung der Klägerin bei der Beklagten mit der Versicherungsnummer 4.1 635 63.26 nicht durch den Rücktritt der Beklagten vom 28. Mai 2010 beendet worden ist, sondern darüber hinaus zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung des Bestehens eines Versicherungsvertragsverhältnisses über eine private Berufsunfähigkeitsversicherung.

Am 16. August 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten den Abschluss einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung. Im Versicherungsschein ist unter anderem für den Leistungsfall der Berufsunfähigkeit eine monatliche Rente in Höhe von EUR 750,00 vereinbart, sowie die Befreiung von der Beitragspflicht.

Im Antragsformular, das der Versicherungsvermittler J. ausfüllte, ist die Frage 3

„Sind Sie in den letzten 5 Jahren wegen Krankheiten, Beschwerden oder Störungen untersucht, beraten oder behandelt worden hinsichtlich: Herz, Kreislauf, innere Organe, Harnwege, Bluthochdruck, Atmungsorgane, Gefäße, Drüsen, Gehirn, Nerven, Psyche, Blut, Zucker, Stoffwechsel, Krebs, Tumore, Knochen, Gelenke, Wirbelsäule, Muskeln, Augen, Ohren, Haut, Allergien, Infektionen, Verletzungen, Alkohol- oder Drogenkonsum?“

ebenso verneint, wie die folgenden Fragen vier bis sieben zu nicht behandelten Beschwerden, bestehende körperliche Beeinträchtigungen oder den Bezug von Rente aus gesundheitlichen Gründen.

Im März 2009 wurde die Klägerin auf Veranlassung ihres Arbeitgebers, der Bundeswehr, wegen voller Erwerbsminderung verrentet. Deshalb beantragte sie am 23. April 2010 bei der Beklagten rückwirkend ab dem 10. November 2008 Leistungen wegen Berufsunfähigkeit.

Wegen dieses Antrags holte die Beklagte zur Leistungsprüfung bei der Krankenkasse Auskünfte ein. Mit Schreiben vom 06. Mai 2010 teilte die BKK und mit Schreiben vom 10. Mai 2010 die AOK der Beklagten u.a. folgende Behandlungen und Erkrankungen der Klägerin mit:

14.9. bis 23.9.2005    krank geschrieben wegen depressiver Episode

13.6. bis 14.6.2005  krank geschrieben wegen Deformation der Wirbelsäule und des Rückens

vom 5.6.2003 bis 3.8.2006  Behandlungen und krank geschrieben in insgesamt neunzehn Fällen  eintägig und mehrtägig, wegen Migräne.

Auf die Berichte (AH 57 – 61 und 63 – 81) wird im Übrigen Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 28. Mai 2010, der Klägerin zugestellt am 31. Mai 2010, erklärte die Beklagte Rücktritt vom Versicherungsvertrag wegen dieser Behandlungen und Erkrankungen (AH 5/7).

Die Klägerin trägt vor, der Vermittler J. sei von ihr über Krankheiten beim Ausfüllen des Antragsformulars informiert worden. Sie habe mitgeteilt, in den letzten Jahren keine Krankheiten, Störungen oder Beschwerden gehabt zu haben, die eine längere Behandlung erforderlich gemacht hätten. Sie sei wegen verschiedener Kleinigkeiten bei ihrem Hausarzt gewesen. Ihr sei mitgeteilt worden, sie müsse kleinere Erkrankungen wie z.B. Behandlungen wegen Migräne nicht angeben. Der bei dem Gespräch anwesende Hausarzt, Dr. H., habe verschiedene Behandlungen wie HWS, Migräne oder die depressive Episode erläutert. Der Vermittler J. habe daraufhin erwidert, dass nur länger andauernde Erkrankungen angegeben werden müssten.

Die depressive Episode sei auf eine abgebrochene Schwangerschaft zurückzuführen. Das BWS-Syndrom sei eingerenkt worden und sei ebenso wie die Migräneerkrankungen nur eine Bagatellerkrankung gewesen.

Die Klägerin beantragt: festzustellen, dass die private Berufsunfähigkeitsversicherung der Klägerin bei der Beklagten mit der Versicherungsnummer 4.1 635 63.26 nicht durch den Rücktritt der Beklagten vom 28. Mai 2010 beendet worden ist, sondern darüber hinaus zu unveränderten Bedingungen fortbesteht.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie trägt vor, die Klägerin habe die im Vertragsformular gestellten Fragen in Kenntnis des Vorliegens anzeigepflichtiger Umstände falsch beantwortet. Daher sei die Beklagte wirksam gem. §§ 16, 17 VVG vom Vertrag zurückgetreten. Bei den Vorerkrankungen der Klägerin handele es sich um gefahrerhebliche Umstände im Sinne des § 16 VVG. Hätte die Klägerin angegeben, dass sie aufgrund einer depressiven Episode behandelt wurde, so wäre den Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung zurückgestellt, bzw. verweigert worden. Die Kenntnis der Behandlung wegen Rückenschmerzen hätte zu einem Aufschlag von 25 % geführt, die Behandlungen wegen Migräne hätten aufgeklärt werden müssen.

Das Gericht hat verhandelt am 15. März 2011, in dieser Verhandlung die Klägerin angehört und die Zeugen J. und Dr. H. vernommen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist in vollem Umfang begründet.

I.

Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, festgestellt zu bekommen, dass ihre private Berufsunfähigkeitsversicherung bei der Beklagten mit der Versicherungsnummer 4.1 635 63.26 nicht durch deren Rücktritt vom 28. Mai 2010 beendet worden ist, sondern darüber hinaus zu unveränderten Bedingungen fortbesteht. Die Beklagte hat nicht nachzuweisen vermocht, dass die Klägerin bei Antragstellung ihre Verpflichtung zur Anzeige gefahrerheblicher Umstände verletzt hat.

Unerheblich ist, dass der Agent J. im Antragsformular die Frage nach Vorerkrankungen verneinte. Es kommt allein auf die mündlichen Erklärungen der Klägerin an. Bei Entgegennahme eines Antrags auf Abschluss eines Versicherungsvertrages steht der Antragstellerin der empfangsbevollmächtigte Vermittlungsagent des Versicherers, bildlich gesprochen, als dessen Auge und Ohr gegenüber. Was ihm mit Bezug auf die Antragstellung gesagt und vorgelegt wird, ist dem Versicherer gesagt und vorgelegt worden, auch wenn der Agent es nicht in das Formular aufgenommen hat (§§ 43 Nr. 1 VVG a.F., 166 Abs. 1 BGB).

Der Nachweis einer Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht oder einer arglistigen Täuschung seitens des Antragstellers obliegt dem Versicherer. Der Nachweis falscher Angaben des Versicherungsnehmers lässt sich nach der Auge- und Ohr-Rechtsprechung, wenn – wie hier – der Agent das Formular ausgefüllt hat, allein mit dessen Inhalt nicht erbringen, sofern der Versicherungsnehmer substantiiert behauptet, die Fragen des Agenten mündlich richtig beantwortet zu haben. In diesem Fall muss der Versicherer beweisen, dass der Versicherungsnehmer diesen mündlich nicht zutreffend unterrichtet hat. Das gilt auch insoweit, als der Versicherungsnehmer ergänzende Angaben unterlässt, weil der Agent ihn über die in den schriftlichen Antrag aufzunehmenden Tatsachen falsch unterrichtet bzw. durch einschränkende Bemerkungen zu den Fragen verdeckt, was auf die jeweilige Frage anzugeben und in das Formular aufzunehmen ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Oktober 2001, IV ZR 6/01, in VersR 2001, 1541 unter II 1 a m. w. N.;). Beweisen muss der Versicherer auch, dass der Agent die angeblich falsch beantworteten Fragen überhaupt gestellt hat (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juli 2005, IV ZR 161/03, in RuS 2005, 10).

Regelmäßig wird der Versicherer den ihm obliegenden Beweis durch die Vernehmung des Agenten zu führen versuchen. Das Ausfüllen von Antragsformularen gehört zu den Kernaufgaben des Versicherungsagenten, die im Hinblick auf die rechtliche Tragweite derartiger Angaben besonders wichtig sind. Wenn ein Zeuge hierzu glaubhaft aussagt, dass er sich diesbezüglich immer daran halte, alles Mitgeteilte festzuhalten, und dies nachvollziehbar damit begründet, dass die Gesundheitsprüfung nicht seine Sache sei, so kann dies nicht von vorneherein als denkgesetzlich ausgeschlossen betrachtet werden (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 09. November 2005, 5 U 50/05, in VersR 2006, 681 und hierzu mit kritischen Ergänzungen über die Erfahrungen bei der Vernehmung von Versicherungsagenten: OLG Karlsruhe, Urteil vom 18. Mai 2010, 12 U 20/09, in VuR 2010, 319, recherchiert bei juris).

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin die Antragsfrage nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden nicht objektiv unrichtig beantwortet.

Die Klägerin hat in der Klageschrift, in ihrer Replik, nachdem die Beklagte sich in der Klageerwiderung ausdrücklich auf die Rücktrittsgründe berufen hat, und in der Anhörung am 15. März 2011 (Protokoll Seiten 2 und 3, AS 79/81) substantiiert dargelegt, wie sie den Agenten J. über Vorerkrankungen der Migräne, der HWS und eine depressiven Episode selbst und durch ihren anwesenden Hausarzt, den Zeugen Dr. H., informierte bzw. zu informieren versuchte, der Agent J. jedoch auf diese Hinweise zur Beantwortung der vorformulierten Fragen einschränkend erklärte, es seien nur schwere bzw. länger andauernde Behandlungen darzulegen und in das Formular aufzunehmen.

Demzufolge oblag es der Beklagten, nunmehr den Nachweis zu führen, dass die Vorerkrankungen nicht nur überhaupt nicht mitgeteilt wurden, sondern auch, dass der Agent J. diese Einschränkungen nicht vorgegeben hat. Dieser Nachweis ist der Beklagten nicht gelungen.

Der Zeuge J., Vermögensberater der Klägerin, der als Agent der Beklagten auch die streitgegenständliche Berufsunfähigkeitsversicherung vermittelte, hat ergiebige Angaben gemacht, indem er erklärte, er habe konkrete Erinnerungen an die fünf Jahre zurückliegende Beratung, ihm seien lediglich die Angaben ihm gegenüber gemacht worden, die er in die entsprechenden Anträge aufgenommen habe. Es handele sich bei der Frage drei zur Berufsunfähigkeitsversicherung quasi um die „Knackpunktfrage“, weshalb er besondere Sorgfalt auf das zweimalige Vorlesen lege; erläuternde Angaben habe er nicht gemacht. Grund oder Interesse daran, Angaben der ihm seit den neunziger Jahren bekannten Klägerin zu Vorerkrankungen nicht aufzunehmen, habe er nicht. Er habe auch zu den Beratungen Gesprächsnotizen gefertigt, aus denen sich nicht Ungewöhnliches ergebe (vgl. Anlage 2 zum Protokoll – AS. 111). Selbst einen Schnupfen hätte er, wäre er angegeben worden, aufgenommen.

Demgegenüber hat der Zeuge Dr. H., Hausarzt der Klägerin und seit zehn Jahren ihr Lebensgefährte, ebenso ergiebig ausgeführt, dass der Zeuge J. über die Vorerkrankungen der Klägerin informiert worden sei. Er habe extra seine Krankenakte mit sich geführt, um keine der Krankheiten auszulassen oder zu übersehen. Diese Krankenakte sei, wie der Zeuge u.a. durch entsprechende Gestik eines Durchblätterns nachvollziehbar darlegte, gemeinsam im Einzelnen durchgesprochen worden. Der Vermittler J. habe aber erklärt, es müssten nur Erkrankungen von mehr als drei Tagen oder chronische Erkrankungen mitgeteilt werden; ebenso bräuchten einmalige Ereignisse oder nicht gravierende Erkrankungen wie die depressive Episode nicht aufgenommen werden.

Bei den insoweit einander widersprechenden Angaben der Zeugen fallen aber auch Gemeinsamkeiten auf. So hat der Zeuge J. gegenüber der Versicherung in dem von ihm beantworteten Fragebogen (Anlage 1 zum Protokoll – AS 107/109) angegeben, dass am 14. August 2006 die Berufsunfähigkeitsversicherung angesprochen und am 16. August 2006 das Formular ausgefüllt wurde (AS. 103). In der Vernehmung schilderte der Zeuge ebenso diesen unterbrochenen Ablauf (Protokoll Seite 5 – AS. 85), den der Zeuge Dr. H. wiederum im Kern bestätigte (Protokoll Seite 9 – AS. 93). Unterschiedlich ist die Schilderung insoweit, als der Zeuge Dr. H. die Besprechung und das Ausfüllen auf den ersten Termin festlegte, der Zeuge J. jedoch auf den Folgetermin. Beiden Aussagen ist jedoch gemeinsam, dass diese geteilte Beratung weder schriftsätzlich vorgetragen war, noch von der Klägerin in ihrer Anhörung vom 15. März 2011 geschildert wurde.

Für die Glaubwürdigkeit des Zeugen Dr. H. spricht insbesondere auch, dass er offen zugab, sämtliche Schriftsätze – die der Klägerin sogar in ihrem Entwurfsstadium – zu kennen.

Bei den Angaben des Zeugen J. fällt auf, dass er sich über den Beratungsablauf im Jahr 2006 Notizen gemacht hatte, auf die er sich für das Gericht ersichtlich ebenso abstützte, wie auf seine zuvor gegenüber der Beklagten gemachten Angaben (Anlage 1 zum Protokoll – AS. 101 – 111). Bei dieser handschriftlichen Notiz handelt es sich jedoch offensichtlich nicht um ein Protokoll des gesamten Gesprächsverlaufs, sondern lediglich um stichwortartige Bemerkungen, die sich auf die Beratertätigkeit in Vermögensangelegenheiten beziehen. Darüber, dass z.B. das Antragsformular zur Berufsunfähigkeitsversicherung mit den dortigen Gesundheitsfragen nicht von der Klägerin ausgefüllt wurde, sondern durch den Zeugen selbst und, dass er sämtliche Fragen hierzu angeblich wegen der überragenden Bedeutung der Beantwortung für das gesamte Versicherungsverhältnis zweimal vorgelesen haben will, wie er es in der Vernehmung bekundete (vgl. Protokoll Seite 5 – AS. 85), findet sich keinerlei Eintragung, obwohl die Bedeutung gerade dieser Umstände dem langjährig in der Versicherungsbranche tätigen Zeugen J. bestens bekannt sein müsste. Demzufolge hat der handschriftliche Notizzettel des Zeugen zu der Frage, was Inhalt der Beratungen und Angaben der Klägerin zu Vorerkrankungen gewesen sein soll, für das Gericht keine Bedeutung.

In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass bei dem Fragenkatalog der Beklagten vom 22. Februar 2011 an den Zeugen J. die dort bereits gestellten Fragen die in den wechselseitigen Schriftsätzen aufgeworfenen Probleme und Einwände der Klägerin bereits umfassend darstellen, d.h. der Zeuge auf die im Gerichtstermin zu erwartenden Fragen vorbereitet war. Dieser Fragenkatalog ging an den Zeugen J. auch nicht bereits im Zusammenhang mit der Kündigung des Versicherungsvertrages aufgrund angeblich fehlerhafter Angaben der Klägerin im Jahr 2006, was angesichts der Bemühungen der Beklagten um eine Aufklärung des Sachverhalts vor der Kündigung zu erwarten gewesen wäre bzw. nahe gelegen hätte. Vielmehr wurden durch die Beklagte dem Zeugen die Fragen erst dann zur Beantwortung aufgegeben, nachdem das Gericht Termin bestimmt und den Zeugen geladen hatte; die Terminsbestimmung ging der Beklagten am 08. Februar 2011 zu (AS. 65), der Fragebogen stammt vom 22. Februar 2011. Es spricht immerhin für den Zeugen J., dass er die insoweit durch die Beklagte gesicherte Vorbereitung auf den Termin nicht verheimlichte, sondern dem Gericht sogleich offenbarte. Nicht desto trotz kommt dem Zeugen J. hinsichtlich seiner Objektivität und seines Erinnerungsvermögens keine höhere Bedeutung zu als dem Zeugen Dr. H., dem Lebensgefährten der Klägerin, der alle Schriftsätze der Akte bereits vor dem Termin kannte.

Zu beachten ist weiterhin, dass der Zeuge J. den Fragebogen nicht durch die Klägerin ausfüllen ließ und auch trotz mehrtägiger Unterbrechung der Beratungen nicht zur Beantwortung überließ. Wenn die Beantwortung dieser Fragen von so überragender Bedeutung für die Versicherung sind, so ist es nahe liegend, dem Versicherungsnehmer die Zeit zu belassen, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen und in aller Ruhe selbst zu beantworten. Warum der Versicherungsagent hier auch das Ausfüllen so komplexer und bedeutender Fragen nicht dem Kunden überlässt, sondern selbst „die Feder führte“, erschließt sich dem Gericht, auch nach der Befragung des Zeugen J., nicht.

Mit dem Ausfüllen des Fragebogens zu Vorerkrankungen bleibt der Versicherungsagent, der Zeuge J., auch quasi „Herr des Verfahrens“. Wer z.B. in allgemeinen Umfrageaktionen der Bevölkerung die Fragen stellt und den Fragebogen ausfüllt, wer in Interviews fragt und das Mikrofon hält, wer in der Verhandlung die Fragen stellt und das Protokoll diktiert – in all diesen Situationen drängt sich zwangsläufig die Rolle der Verfahrensleitung auf. Ob und inwieweit zu der Verfahrensleitung auch die Erläuterung der Fragen und die Einschränkung der Antworten gehört, kann nicht generell, sondern nur nach den Umständen des Einzelfalls beantwortet werden. Bei einer im Jahr 2006 damals 43jährigen Antragstellerin, die bei der Bundeswehr in einem Materialdepot im Bereich der Verpackung arbeitete, ist es nahezu ausgeschlossen, dass eine solche Person über fünf Jahre hinweg noch nicht einmal einen Schnupfen gehabt haben soll, den der Zeuge J. nach seinem Bekunden, wäre er ihm mitgeteilt worden, auf jeden Fall notiert hätte (vgl. Protokoll Seite 7 – AS. 89). Die Frage drei stellt dabei umfassend auf fast jede Art der Untersuchung, Beratung oder Behandlung wegen nahezu jeder Krankheit, Beschwerde oder Störung des menschlichen Körpers in den letzten fünf Jahren vor Antragstellung ab. Dass eine 43jährige, berufstätige Frau diese Frage generell mit Nein beantwortet, ist ebenso nicht zu erwarten bzw. wäre im höchsten Maße ungewöhnlich. Vor diesem Hintergrund ist von Bedeutung, dass der Zeuge Dr. H., der Hausarzt, bei der Befragung zugegen war. Dass dieser Zeuge bei diesen Fragen geschwiegen hätte, kann sich das Gericht nach dem persönlichen Eindruck, den es von dem Zeugen Dr. H. gewonnen hat, nicht vorstellen. Vielmehr ist wahrscheinlicher, dass es bei diesen Fragen zu Nachfragen gegenüber und Erläuterungen durch den „Herrn des Verfahrens“ kam. Solche Nachfragen und Erläuterungen hat aber gerade der Zeuge J. bei seiner Vernehmung vollständig in Abrede gestellt (vgl. Protokoll Seite 5 und 7, AS. 85 und 89).

Daraus, dass die Klägerin erst im Schriftsatz vom 2. März 2011 näher auf die Vorwürfe der Beklagten in deren Klageerwiderung einging, können – auch wenn die Beklagte dies als vermeintlichen Widerspruch so einfordert (vgl. Schriftsatz vom 4. Mai 2011 – AS. 139/141) – keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden. Es ist zunächst Sache der darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten die Gründe für den Rücktritt darzulegen. Erst daraufhin hatte die Klägerin substantiiert zu erwidern, warum diese angeblichen Gründe nicht greifen. Dass sie hierzu teilweise bereits in der Klage quasi vorab vorgetragen hat, kann ihr nunmehr nicht zum Nachteil gereichen. Dies gilt insbesondere, da es ein seit jeher anerkannter Grundsatz des Prozessrechts ist, dass eine Partei, die eine ihr nachteilige Behauptung von sich aus ohne entsprechende Behauptung des Gegners aufstellt, sich gefallen lassen muss, dass diese Behauptung auch zu ihren Ungunsten verwertet wird (sog. ungünstiges Parteivorbringen). Nach dem Beibringungsgrundsatz entscheiden die Parteien darüber, welchen Tatsachenstoff sie dem Gericht unterbreiten wollen. Hieraus folgt auch, dass das Gericht der Urteilsfindung keinen Sachverhalt zugrunde legen darf, der für eine Partei günstiger ist, als sie ihn selbst – und die Gegenpartei – vorgetragen haben (vgl. BGH, Urt. vom 29. Oktober 1973, II ZR 73/72, in VersR 1974, 160). Anders wäre der Parteivortrag im Rahmen der Beweiswürdigung nur zu berücksichtigen, wenn zum Beispiel echte Widersprüche vorlägen (vgl. dazu auch RGZ 86, 143 und 331; BGH, Urt. vom 29. Oktober 1973, a.a.O.), die eine Partei ihren Vortrag wechselt (vgl. BAG, Urteil vom 4. Dezember 1985, 5 AZR 656/84 in NZA 1986, 289) oder erst nach langer Zeit auf bis dahin vermeintlich unstreitigen Vortrag reagiert, d.h. ihrer prozessualen Förderungspflicht nur unzureichend nachkommt. Keine dieser besonderen Umstände liegt hier vor.

Unter Berücksichtigung dieser insgesamt nicht widerspruchslos miteinander zu vereinbarenden Zeugenaussagen lässt sich ohne Rücksicht auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen, die nicht angezweifelt werden kann, nicht mit der erforderlichen Sorgfalt feststellen, dass die Klägerin die Antragsfrage nach Krankheiten, Störungen oder Beschwerden objektiv unrichtig beantwortet hat. Anhaltspunkte dafür, dass allein die Angaben des von der Beklagten benannten Zeugen J. zutreffend sind, haben sich für das Gericht nicht ergeben.

Aus oben dargelegten Gründen war der Klage daher in vollem Umfang stattzugeben.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit rechtfertigt sich aus §§ 709, 108 ZPO.

Hinweis: Informationen in unserem Internetangebot dienen lediglich Informationszwecken. Sie stellen keine Rechtsberatung dar und können eine individuelle rechtliche Beratung auch nicht ersetzen, welche die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles berücksichtigt. Ebenso kann sich die aktuelle Rechtslage durch aktuelle Urteile und Gesetze zwischenzeitlich geändert haben. Benötigen Sie eine rechtssichere Auskunft oder eine persönliche Rechtsberatung, kontaktieren Sie uns bitte.

Unsere Hilfe im Versicherungsrecht

Egal ob Ihre Versicherung die Zahlung verweigert oder Sie Unterstützung bei der Schadensregulierung benötigen. Wir stehen Ihnen zur Seite.

 

Rechtsanwälte Kotz - Kreuztal

Wissenswertes aus dem Versicherungsrecht

Urteile aus dem Versicherungsrecht

Unsere Kontaktinformationen

Rechtsanwälte Kotz GbR

Siegener Str. 104 – 106
D-57223 Kreuztal – Buschhütten
(Kreis Siegen – Wittgenstein)

Telefon: 02732 791079
(Tel. Auskünfte sind unverbindlich!)
Telefax: 02732 791078

E-Mail Anfragen:
info@ra-kotz.de
ra-kotz@web.de

Rechtsanwalt Hans Jürgen Kotz
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Rechtsanwalt und Notar Dr. Christian Kotz
Fachanwalt für Verkehrsrecht
Fachanwalt für Versicherungsrecht
Notar mit Amtssitz in Kreuztal

Bürozeiten:
MO-FR: 8:00-18:00 Uhr
SA & außerhalb der Bürozeiten:
nach Vereinbarung

Für Besprechungen bitten wir Sie um eine Terminvereinbarung!