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Lebensversicherung – Widerspruch und Rückzahlung geleisteter Versicherungsprämien

LG Mannheim, Az.: 11 O 53/16, Urteil vom 12.12.2017

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt nebst hieraus von der Beklagten gezogener Nutzungen nach Widerspruch gegen einen Lebensversicherungsvertrag sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.

Lebensversicherung – Widerspruch und Rückzahlung geleisteter Versicherungsprämien
Symbolfoto: robnroll/Bigstock

Der Kläger hat am 19.08.1998 bei der Beklagten über eine Versicherungsmaklerin einen Lebensversicherungsvertrag mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung beantragt. Bei Antragstellung wurden dem Kläger keine weiteren Unterlagen, insbesondere nicht die Versicherungsbedingungen ausgehändigt.
Nach Abklärung von Nachfragen gab die Beklagte ein Änderungsangebot hinsichtlich einer Ausschlussklausel für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung ab. Mit diesen Änderungen erklärte der Kläger sich mit Schreiben vom 14.12.1998 einverstanden.
Die Beklagte policierte sodann den Vertrag unter der Nummer 97064571 mit Versicherungsbeginn 01.12.1998 (Anlage DB 1).
Mit Schreiben vom 21.12.1998 hat die Beklagte der vom Kläger eingeschalteten Versicherungsmaklerin den Versicherungsschein nebst AVB und den Verbraucherinformationen nach § 10a VAG und einen Begleitbrief zur Weiterleitung an den Kläger übersandt (Anlage BLD 5). Der diesem Schreiben beigefügten Begleitbrief enthält auf Seite 2 oben, nach einem größeren Absatz auf Seite 1 folgende Passage:

„Sie können innerhalb einer Frist von 14 Tagen nach Erhalt des Versicherungsscheines dem Versicherungsvertrag widersprechen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs.“.

Danach enthält das Schreiben noch einen Absatz vor der Grußformel.

Im März 2001 wandte sich der Kläger an die Beklagte mit der Bitte um Ausstellung eines Ersatzversicherungsscheins.
Am 12.08.2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten Leistungen wegen Berufsunfähigkeit wegen eines im Juli 2001 erlittenen Unfalls (Anlage …)
Nach Leistungsprüfung erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 11.07.2003 den Rücktritt vom streitgegenständlichen Versicherungsvertrag wegen vorvertraglicher Anzeigepflichtverletzung über gefahrerhebliche gesundheitliche Beschwerden und ärztliche Untersuchungen kurz vor Vertragsschluss (Anlage…).
Mit Schreiben vom 09.12.2015 erklärte der Kläger den Widerspruch gegen den Versicherungsvertrag (Anlage…).
Mit Schreiben vom 23.12.2015 wies die Beklagte die Rückabwicklung des Vertrags zurück (Anlage …).
Mit Schreiben vom 21.01.2016 forderte der jetzige Prozessbevollmächtigte des Klägers die Beklagte unter nochmaliger Erklärung des Widerspruchs gegen den Versicherungsvertrag auf, sämtliche bezahlten Versicherungsbeiträge nebst einer Verzinsung von 7% p.a. an den Kläger zurückzuzahlen (Anlage…).
Mit Schreiben vom 16.02.2016 berief sich die Beklagte auf die Verwirkung des Anspruchs aufgrund der Inanspruchnahme durch den Antrag auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (Anlage …).
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, er habe keine Widerspruchsbelehrung zu dem streitgegenständlichen Vertrag erhalten. Der Zugang der von der Beklagten behaupteten Unterlagen sei ihm nicht erinnerlich. Erst im Jahr 2001 seien ihm auf seine Nachfrage der Versicherungsschein und die Versicherungsbedingungen übersandt worden. Das Policenbegleitschreiben mit der Widerspruchsbelehrung habe er dabei nicht erhalten. Die darin enthaltene Belehrung sei nicht wirksam, da sie drucktechnisch allein durch Unterstreichung und damit nicht ausreichend hervorgehoben sei. Aufgrund des großen Absatzes zwischen Seite 1 und 2 des Anschreibens überblättere der Versicherungsnehmers die zweite Seite des Anschreibens. Die Belehrung sei auch inhaltlich falsch, da der Fristlauf nur an den Erhalt des Versicherungsscheins, nicht, wie in der gesetzlichen Regelung vorgeschrieben, auch an den Erhalt der Versicherungsbedingungen und der weiteren Verbraucherinformationen geknüpft sei. Es fehle in der Belehrung der Zusatz, dass der Widerspruch schriftlich zu erfolgen habe. Die Verwendung des Begriffs „Absendung“ genüge nicht als Hinweis auf die Schriftform.
Deshalb sei der Widerspruch vom 09.12.2015 nicht verfristet.
Eine Verwirkung komme nicht in Betracht, da der Kläger ohne Belehrung keine Kenntnis von seinem Widerspruchsrecht gehabt habe und deshalb von einem wirksamen Vertrag habe ausgehen müssen. Der Leistungsantrag habe keine bestätigende Wirkung, da damit lediglich ein vertraglicher Anspruch geltend gemacht und nicht auf den Vertrag eingewirkt worden sei.
Der Kläger habe den Widerruf unmittelbar nachdem er von der Widerrufbarkeit des streitgegenständlichen Vertrags erfahren habe, erklärt. Die Beklagte habe die Situation durch ihre fehlerhafte oder fehlende Belehrung selbst herbeigeführt, weshalb es bereits an dem für die Verwirkung erforderlichen Umstandsmoment fehle.
Im Übrigen sei das Policenmodell insgesamt europarechtswidrig.
Neben den gezahlten Prämien in Höhe von 11.460,59 € seien von der Beklagten hieraus gezogene Nutzungen in Höhe von insgesamt 31.106,21 € zu zahlen. Die Eigenkapitalrendite der Beklagten sei die richtige Grundlage für die Bestimmung der Höhe der Nutzungen und habe für die Jahre 1998 bis 2015 durchschnittlich 11,67% betragen. Dieser Wert sei auch für die Jahre 2016 und 2017 anzusetzen. Zur Berechnung wird auf die Anlagen DB 8 und DB 9 Bezug genommen.
Für den Versicherungsschutz seien nur pauschal 100,– € abzuziehen, da die Beklagte ihre Kalkulation insoweit nicht offenlege.
Die Zahlung des Rückkaufswerts könne der Kläger mangels aussagekräftiger Unterlagen nicht nachvollziehen. Er könne sich daran nicht erinnern und Kontoauszüge aus dieser Zeit habe er nicht mehr.
Weder die Prämien für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung noch die Risikokosten seien anrechenbar, da der Kläger nach dem Vortrag der Beklagten keinen Versicherungsschutz genossen habe und deshalb ein anrechenbarer Vorteil ausscheide.
Die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,9 Geschäftsgebühr aus dem Gegenstandswert von 30.393,14 € schulde die Beklagte als Verzugsschadensersatz und als Schadensersatz wegen Verletzung ihrer Vertragspflichten in Form der mangelhaften Widerspruchsbelehrung. Die Höhe des Gebührensatzes sei wegen der Anwendung alter Gesetzesfassungen, der Fertigung mehrseitiger Schriftsätze nebst Anlagen, des Umfangs der zu prüfenden Unterlagen, der Durchführung schwieriger und umfangreicher Berechnungen und der Berücksichtigung der sehr umfangreichen Rechtsprechung in Widerspruchsfällen gerechtfertigt.
Der Kläger b e a n t r a g t zuletzt, die Beklagte zu verurteilen,
1. an den Kläger einen Betrag von EUR 42.108,38 nebst Zinsen in Höhe von 5-Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 16.05.2017 zu zahlen,
2. den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 2.483,77 EUR gegenüber dem Prozessbevollmächtigten des Klägers freizustellen.
Die Beklagte b e a n t r a g t, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte trägt im Wesentlichen vor, sie habe nach dem am 11.07.2003 erklärten Rücktritt vom Versicherungsvertrag im Jahr 2004 den Rückkaufswert der streitgegenständlichen Versicherung in Höhe von 3.135,25 € an den Kläger überwiesen und ferner 57,32 € Kapitalertragssteuer und Solidaritätszuschlag für den Kläger an die Finanzbehörden abgeführt.
Die in dem Policenbegleitschreiben vom 21.12.1998 erteilte Widerspruchsbelehrung sei durch Unterstreichung drucktechnisch hervorgehoben und inhaltlich nicht zu beanstanden, so dass der Widerspruch des Klägers verfristet sei. Der Kläger habe mit Schreiben vom 21.12.1998 auch sämtliche fristauslösenden Unterlagen vollständig erhalten.
Aufgrund des ex tunc wirkenden Rücktritts der Beklagten fehle es jedoch bereits an einem Vertragsverhältnis, dem widersprochen werden und aus dem dem Kläger weitere Ansprüche zustehen könnten.
Ein Rückzahlungsanspruch des Klägers scheide auch wegen Verwirkung bzw. rechtsmissbräuchlichem Verhalten des Klägers aus. Das Zeitmoment sei 17 Jahre nach Vertragsschluss und 12 Jahre nach dem Rücktritt der Beklagten gegeben. Als Umstandsmoment sei der Leistungsantrag des Klägers, der einen wirksamen Vertrag voraussetze, zu berücksichtigen.
Des Weiteren sei ein Widerspruchsrecht in analoger Anwendung des § 124 Abs.3 BGB spätestens zehn Jahre nach Vertragsschluss ausgeschlossen.
Der Kläger habe auf den streitgegenständlichen Versicherungsvertrag Prämien in Höhe von insgesamt 11.048,76 € geleistet.
Für den Fall einer Rückabwicklung des Versicherungsvertrags habe sich der Kläger den genossenen Versicherungsschutz anrechnen zu lassen, der für die Hauptversicherung mit Risikokosten in Höhe von 743,64 € zu beziffern sei. Die auf die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung entfallenen Prämien in Höhe von 4.747,62 € seien ebenfalls saldierend zu berücksichtigen. Für die Berechnung des Nutzungsersatzes seien auch die Abschluss- und Verwaltungskosten in Abzug zu bringen. Nicht die Eigenkapitalrendite, sondern die Nettoverzinsung, die sich aus den Ergebnissen der Kapitalanlagen ergebe, sei der geeignete Parameter zur Ermittlung der gezogenen Nutzungen.
Der Ansatz einer 1,9 Gebühr für vorgerichtliche Kosten sei völlig übersetzt, da das außergerichtliche Mahnschreiben ein Muster sei, das in vielen Fällen gleichlautend verwendet werde und es sich um einen Standardfall im Lebensversicherungsrecht handele. Die Aktivlegitimation des Klägers zur Geltendmachung der vorgerichtlichen Kosten bestehe nicht.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
Die Klage ist zulässig, bleibt in der Sache jedoch ohne Erfolg.
Der geltend gemachte Zahlungsanspruch steht dem Kläger unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.
Die Vertragserklärungen der Parteien entsprechen den Regelungen des sogenannten Policenmodells gemäß § 5a VVG in der Fassung vom 21.07.1994 (im Folgenden: a.F.).
Der Kläger hat einen schriftlichen Antrag auf Abschluss einer Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung gestellt. Die Beklagte hat den Antrag durch Policierung und Übersendung des Versicherungsscheins angenommen. Erst mit dem Versicherungsschein behauptet die Beklagte die Versicherungsbedingungen und die weiteren erforderlichen Verbraucherinformationen übersandt zu haben.
1.
Ein Anspruch des Klägers auf Rückzahlung auf den streitgegenständlichen Vertrag geleisteter Versicherungsprämien nebst hieraus gezogener Nutzungen ergibt sich nicht aus §§ 812 Abs.1, S.1, 818 Abs.1 BGB, da die Prämien nicht ohne Rechtsgrund gezahlt wurden.
Die Prämien wurden in den Jahren 1998 bis 2003 auf einen bestehenden Versicherungsvertrag bezahlt.
a)
Durch den von der Beklagten am 11.07.2003 erklärten Rücktritt vom Vertrag wurde dieser in ein Abwicklungsverhältnis umgewandelt. Die Rechtsfolgen des Rücktritts ergeben sich aus §§ 346ff BGB bzw. den spezialgesetzlichen Regelungen des VVG. Der Rücktritt führt indes nicht zum Entfall des Rechtsgrunds der Leistung, so dass die §§ 812ff BGB nicht anwendbar sind (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 76. Aufl.v.2017, Rn.6 vor § 346).
b)
Der streitgegenständliche Versicherungsvertrag ist auch nicht durch den vom Kläger am 09.12.2015 erklärten Widerspruch nach § 5a Abs.1 S.1. VVG a.F. unwirksam geworden.
Ob dem Kläger oder dessen Versicherungsmakler der Versicherungsschein, die Versicherungsbedingungen, die Verbraucherinformationen und das Policenbegleitschreiben, die der Versicherungsmaklerin mit Schreiben vom 21.12.1998 übersandt worden sind, zugegangen sind, kann dahinstehen, da die von der Beklagten behauptete Widerspruchsbelehrung auf Seite 2 des Policenbegleitschreibens, auch deren Zugang unterstellt, inhaltlich unzureichend war.
Bereits der fehlende Hinweis darauf, dass der Beginn der Widerspruchsfrist nicht nur an den Erhalt des Versicherungsscheins, sondern auch entsprechend der gesetzlichen Regelung des § 5a Abs.2 S.1 VVG a.F. an den Erhalt der Verbraucherinformation nach § 10a VAG und der Versicherungsbedingungen geknüpft ist, führt zur Fehlerhaftigkeit der Widerspruchsbelehrung, so dass die weiteren Streitfragen um die ausdrückliche Erwähnung der Schriftform, die das OLG Köln in seinem Urteil vom 15.08.2014, Az. I-20 U 47/14 unter Bezugnahme auf das Urteil des BGH vom 28.01.2004, Az. IV ZR 58/03, ebenfalls verlangt, und die drucktechnisch ausreichende Hervorhebung der Belehrung offen bleiben können.
Damit wurde die Widerspruchsfrist des § 5a Abs.1 S.1 VVG a.F., die erst, wenn dem Versicherungsnehmer die in § 5a Abs.2 S.1 VVG a.F. genannten Unterlagen vorliegen und dieser bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich und in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden ist, beginnt, nicht in Lauf gesetzt.

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH seit dem Urteil vom 07.05.2014, Az. IV ZR 76/11, im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19.12.2013, Az. C-209/12, ist die in § 5a Abs.2 S.4 VVG a.F. normierte Höchstfrist von einem Jahr für den Widerspruch auf Lebensversicherungsverträge wie den vorliegenden nicht anwendbar.
Dies führt im Streitfall jedoch dennoch nicht zu einem Zahlungsanspruch des Klägers, da das Berufen des Klägers auf die Vertragsunwirksamkeit nach Ansicht der Kammer jedenfalls treuwidrig ist.
Widersprüchliches Verhalten ist nach der Rechtsordnung zwar grundsätzlich zulässig und nur dann rechtsmissbräuchlich, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Eine Rechtsausübung kann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig erscheinen (vgl. BGH Urt. v. 16.7.2014, Az. IV ZR 73/13 und IV ZR 88/13 m.w.N.; BGH Urt. v. 7.5.2014, Az. IV ZR 76/11; Brand, VersR 2014, 269, 276).
Zwar ist nach der Rechtsprechung des BGH der Versicherer, der den Versicherungsnehmer fehlerhaft über sein Widerspruchsrecht belehrt hat, grundsätzlich nicht schutzwürdig, weil er die Situation, dass den Verträgen auch nach jahrelanger Vertragsdurchführung noch widersprochen werden kann, durch die nicht ordnungsgemäße Belehrung selbst herbeigeführt hat (vgl. BGH, Urt.v.07.05.2014, Az. IV ZR 76/11, BGH Urt.v.28.09.2016, Az. IV ZR 210/14). Etwas anderes kann sich aber im Einzelfall ergeben, wenn der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten den Eindruck erweckt hat, den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen, und sein nachträglicher Widerspruch deshalb ausnahmsweise treuwidrig erscheint. Insoweit reicht allerdings die „normale“ Vertragsdurchführung, sei es auch über einen längeren Zeitraum, nicht aus. Erforderlich sind vielmehr besonders gravierende Umstände (vgl. OLG Karlsruhe, Urt.v.06.12.2016, Az.12 U 137/16). Solche besonders gravierenden Umstände hat der BGH in einem Fall angenommen, in welchem der Vertrag zunächst aufgrund von Beitragsrückständen im Jahr 2000 gekündigt und rückabgewickelt, dann aber auf Bitten des Versicherungsnehmers wieder in Kraft gesetzt worden war (BGH, B.v.13.01.2016, Az. IV ZR 117/15). Weiter hat der BGH besonders gravierende Umstände in einem Fall bejaht, in welchem der Versicherungsnehmer den Versicherungsvertrag unmittelbar nach Erhalt des Versicherungsscheins und später noch einmal unter Abtretung auch der Todesfallleistung zur Kreditsicherung eingesetzt hatte und der Versicherer darüber informiert worden war (BGH, B.v.27.01.2016, Az. IV ZR 130/15).
Nach der Rechtsprechung des BGH steht indes eine Kündigung des Versicherungsvertrags durch den Versicherungsnehmer und die Rückabwicklung des Vertrags, auch viele Jahre vor Erklärung des Widerspruchs, der Möglichkeit der Ausübung des Widerspruchsrechts nicht entgegen, da der Versicherungsnehmer sein Wahlrecht zwischen Kündigung und Widerspruch mangels ordnungsgemäßer Widerspruchsbelehrung nicht sachgerecht ausüben konnte (vgl. BGH, Urt.v.16.10.2013, Az. IV ZR 52/12; BGH, Urt.v.28.09.2016, IV ZR 210/14).
Auch ein Rücktritt vom Versicherungsvertrag dürfte dem Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers nicht grundsätzlich entgegen stehen. Der Rücktritt führt zwar zur Vertragsumgestaltung in ein Abwicklungsverhältnis mit Wirkung ex tunc, so dass der ursprüngliche Vertrag, auf dessen Vernichtung der Widerspruch gerichtet ist, nicht mehr besteht.

Für das Widerrufsrecht nach §§ 312d, 355 BGB hat der BGH entschieden, dass dieses auch bei einem anfechtbaren oder nichtigen Vertrag besteht, da es der Schutzzweck des Widerrufsrechts rechtfertigt, dem Verbraucher die Möglichkeit zu erhalten, sich durch Ausübung eines an keine materiellen Voraussetzungen gebundenen, einfach auszuübenden Rechts einseitig vom Vertrag zu lösen, ohne mit dem Unternehmer in eine rechtliche Auseinandersetzung über die Nichtigkeit bzw. Anfechtbarkeit des Vertrages eintreten zu müssen, wenn nicht Treu und Glauben, § 242 BGB, etwas anderes gebietet (BGH NJW 2010, 610; OLG Karlsruhe, Urt.v.19.02.2013, Az. 12 U 151/12 ). Der Bundesgerichtshof führt in der genannten Entscheidung weiter aber auch aus, dass es in diesem Zusammenhang darum geht, dem Verbraucher die Wahl zu erhalten, ob er den Vertrag mit der Rechtsfolge der Rückabwicklung nach §§ 346ff BGB widerruft oder sich für eine Anfechtung bzw. Nichtigkeit des Vertrages mit der daraus resultierenden bereicherungsrechtlichen Abwicklung nach §§ 812ff BGB entscheidet. Das Widerrufsrecht beim Fernabsatzvertrag besteht danach neben und unabhängig von den allgemeinen Rechten, die jedem zustehen, der einen Vertrag schließt.
In dieser Entscheidung erteilt der BGH gegen diese Auffassung bestehenden dogmatischen Bedenken eine Absage. Das begriffslogische Argument, nur ein wirksamer Vertrag könne widerrufen werden, berücksichtige nicht, dass in der Zivilrechtsdogmatik seit langem anerkannt sei, dass auch nichtige Rechtsgeschäfte angefochten werden können (sog. Doppelwirkungen im Recht; BGH a.a.O m.w.N.; MüKo-BGB/Busche, 7. Aufl.v.2015, § 142 Rn 12 m.w.N.; BGH, Urt.v. 21.06.1955, Az. V ZR 53/54).
Für den Widerruf eines nichtigen Vertrags gelte unter dogmatischem Gesichtspunkt nichts anderes.
Deshalb stehen auch dem vorliegend vom Kläger erklärten Widerspruch gegen den nach dem Policenmodell geschlossenen Versicherungsvertrag, von dem die Beklagte bereits zuvor zurückgetreten ist, nach Ansicht der Kammer entgegen der Auffassung der Beklagten keine grundsätzlichen dogmatischen Bedenken entgegen.
Allerdings ergibt sich aus der Gesamtschau der oben angeführten Rechtsprechung des BGH zum Widerrufsrecht beim Fernabsatzvertrag einerseits und zum Widerrufsrecht des Versicherungsnehmers nach Kündigung andererseits, dass dieses jeweils soweit besteht, als der Schutzzweck des jeweiligen Vertragslösungsrechts es gebietet, dem Berechtigten das Wahlrecht zwischen mehreren Gestaltungsrechten zu erhalten. Ausdrücklich mit dieser Argumentation der Aufrechterhaltung des Wahlrechts des nicht ordnungsgemäß belehrten Versicherungsnehmers hat der BGH in seiner Entscheidung vom 16.10.2013, Az. IV ZR 52/12, die auch nach Kündigung des Vertrags fortbestehende Widerrufsmöglichkeit des Versicherungsnehmers begründet, die seither ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist.
Nach Ansicht der Kammer greift jedoch gerade diese Argumentation im vorliegenden Fall des über 12 Jahre vor Ausübung des Widerspruchsrechts erklärten Rücktritts des Versicherers nicht zugunsten des Versicherungsnehmers, da ein Wahlrecht des Versicherungsnehmers in Ansehung des dem Versicherer zustehenden Rücktrittsrechts für den Fall der Verletzung der vorvertraglichen Pflicht zur Anzeige gefahrerheblicher Umstände nicht in Rede steht.
Jedenfalls gebietet § 242 BGB die das Rücktrittsrecht begründenden Umstände und das aufgrund des langen Zeitraums zwischen Rücktritt und Widerspruchserklärung entstandene Vertrauen des Versicherers in die Endgültigkeit der Abwicklung des ursprünglichen Versicherungsvertragsverhältnisses in die Beurteilung der Zulässigkeit der Ausübung des Widerspruchsrechts einzubeziehen.
Daraus ergeben sich nach Auffassung des erkennenden Gerichts im Streitfall die vom BGH zur Bejahung des für die Verwirkung erforderlichen Umstandsmoments in Ansehung der vom beklagten Versicherer durch Unterlassen der ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung verursachten Situation geforderten besonders gravierenden Umstände.
Unstreitig hat der Kläger gefahrerhebliche Gesundheitsumstände vor Vertragsschluss nicht angegeben und dadurch seine vorvertragliche Anzeigepflicht verletzt. Aufgrund dieser Anzeigepflichtverletzung, die die Beklagte im Rahmen der auf Antrag des Klägers durchgeführten Leistungsprüfung ermittelt hat, ist die Beklagte vom streitgegenständlichen Versicherungsvertrag gemäß §§ 16ff VVG a.F. zurückgetreten. Das Rücktrittsrecht und die daraus resultierende Leistungsfreiheit der Beklagten hat der Kläger weder zur Zeit der Rücktrittserklärung am 11.07.2003 noch jemals danach in Frage gestellt und damit den Vorwurf der schuldhaften Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht akzeptiert. Dadurch durfte die Beklagte jedenfalls nach Auskehrung des Rückkaufswerts im Jahr 2004 in Ansehung des verstrichenen Zeitraums von weiteren 11 Jahren, die zur Verwirklichung des Zeitmoments der Verwirkung jedenfalls ausreichen, berechtigt darauf vertrauen, dass der ursprüngliche Versicherungsvertrag endgültig abgewickelt ist. Dieses Vertrauen der Beklagten, das durch die schuldhafte Verursachung der Vernichtung des ursprünglichen Versicherungsvertrags mit Wirkung ex tunc durch den Kläger selbst und die jahrelange Akzeptanz der Vertragsabwicklung seit 2004 begründet wurde, ist auch in Ansehung des von der Beklagten durch die unterlassene Widerspruchsbelehrung hervorgerufenen Fortbestands des Widerspruchsrechts schützenswert.
Darüber hinaus verliert der im Rahmen der Verwirkungsprüfung die Schutzwürdigkeit der Beklagten herabsetzende Umstand der unterlassenen ordnungsgemäßen Widerspruchsbelehrung nach Ablauf von 10 Jahren seit Abgabe der auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung des Versicherungsnehmers nach Ansicht der Kammer an Bedeutung. Hierbei ist die für die Arglistanfechtung nach § 124 Abs.3 BGB geltende Höchstfrist von 10 Jahren in den Blick zu nehmen und zu berücksichtigen, dass der Vorwurf der fehlerhaften Widerspruchsbelehrung weit weniger schwer wiegt als eine arglistige Täuschung, die den Vertragspartner in unredlicher Weise zur Abgabe einer Willenserklärung bewegt. Dies führt nach Ansicht der Kammer dazu, dass die Anforderungen an das Umstandsmoment der Verwirkung nach Ablauf von 10 Jahren seit Vertragsschluss jedenfalls wieder sinken.
Der vorliegend zwischen Vertragsschluss im Dezember 1998 und Abgabe der Widerspruchserklärung im Dezember 2015 vergangene Zeitraum von 17 Jahren führt im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung, bei der die wechselseitige Beeinflussung von Zeit- und Umstandsmoment dergestalt zu berücksichtigen ist, dass an das Umstandsmoment umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je mehr Zeit vergangen ist, zu einer weiteren Reduzierung der Bedeutung des Umstandsmoments.
Da deshalb der Widerspruch des Klägers vom 09.12.2015 wegen Verwirkung nach den Maßstäben des deutschen Rechts treuwidrig und damit unzulässig war, kommt es auf den Gesichtspunkt der Unionsrechtswidrigkeit des Policenmodells nicht mehr entscheidungserheblich an. Der aus dem nationalen Recht stammende Einwand der Verwirkung ist auch bei einem unterstellten Verstoß gegen Unionsrecht zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urt.v. 16.07.2014, Az. IV ZR 73/13).

2.
Ein Anspruch des Klägers auf Rückzahlung der auf den streitgegenständlichen Vertrag gezahlten Prämien nebst Nutzungen hieraus ergibt sich auch nicht aus § 346 Abs.1 BGB.
Zwar hat sich der streitgegenständliche Versicherungsvertrag mit der unstreitigen Rücktrittserklärung der Beklagten mit Schreiben vom 11.07.2003 mit Wirkung ex tunc in ein Abwicklungsverhältnis umgewandelt, aus dem sich grundsätzlich die beiderseitige Pflicht zur Rückgewähr empfangener Leistungen ergibt. § 20 Abs.2 S.2 VVG a.F. hat diese Rückgewährpflicht noch ausdrücklich geregelt, jedoch unter der Einschränkung einer sich aus dem VVG ergebenden abweichenden Regelung betreffend die Prämienzahlung. Diese Einschränkung normiert § 40 Abs.1 S.1 VVG in der für den im Jahr 2003 erklärten Rücktritt geltenden Fassung vom 21.07.1994 dergestalt, dass dem Versicherer für den Fall der Aufhebung des Vertragsverhältnisses durch Rücktritt wegen Obliegenheitsverletzung die Prämie bis zum Schluss der Versicherungsperiode, in der er von der Obliegenheitsverletzung Kenntnis erlangt hat, gebührt.
Darüber hinaus regelt jedoch § 176 VVG a.F. für den Fall des Rücktritts des Versicherers von einem Versicherungsvertrag, für den der Eintritt der Verpflichtung gewiss ist, damit für den Fall des streitgegenständlichen Kapitallebensversicherungsvertrags die Pflicht des Versicherers zur Zahlung des Rückkaufswerts.
Die Auszahlung des Rückkaufswerts im Jahr 2004 steht zur Überzeugung der Kammer fest. Die von der Beklagten vorgelegte Bestätigung ihrer Bank, den Überweisungsauftrag auf das Konto des Klägers erhalten und den Datensatz der Zahlung bestätigen zu können (Anlage BLD 13), genügt in der Zusammenschau mit der Tatsache, dass der Kläger zu keinem Zeitpunkt nach der Rücktrittserklärung der Beklagten die fehlende Auszahlung des Rückkaufswerts moniert hat, dass keine vernünftigen Zweifel daran bestehen, dass der zugunsten des Klägers erteilte Überweisungsauftrag auch ausgeführt wurde.
Da der Hauptanspruch des Klägers unbegründet ist, bestehen auch die geltend gemachten Nebenansprüche nicht.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs.1 ZPO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S.1, S.2 ZPO.

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