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Versicherungsschutz für Gesundheitsschädigung durch Immuntherapie

OLG Zweibrücken – Az.: 1 U 73/18 – Urteil vom 08.05.2020

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 16.5.2018, Az. 3 O 355/17, wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Dieses und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren wird auf 77.300 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger begehrt von der Beklagten Versicherung Leistungen aus einer Unfallversicherung wegen eines behaupteten Impfschadens.

Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine private Unfallversicherung. Auf den Versicherungsschein vom 10.1.2013 (Anlage K1, BI. 9 ff. d.A.) und die Änderungsmitteilung der Beklagten vom 13.11.2015 (Anlage B1, BI. 130 ff. d.A.) wird Bezug genommen. Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (BI. 174 ff. d.A., nachfolgend: AUB 2012) zugrunde.

Der Kläger leidet unter schubförmig verlaufender multipler Sklerose. Aus diesem Grund wurden ihm seit dem Jahr 2007 Infusionen mit dem Medikament Tysabri verabreicht, das den Wirkstoff Natalizumab enthält.

Der Kläger erhielt (wohl) am 18.3.2017 eine Infusion mit Natalizumab. Im Anschluss hieran kam es bei ihm zunächst zu einem akuten Schwankschwindel und einer Gangverschlechterung sowie zu einer merkbaren Schwächung der Beine sowie zu Gleichgewichts- und Konzentrationsstörungen. Am 31.3.2016 wurde er mit diesen Symptomen ins Krankenhaus eingewiesen. Dort wurde eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) in Form einer entzündlichen flächigen Läsion im Bereich des linken Kleinhirns diagnostiziert. Er befand sich bis zum 9.4.2016 in stationärer Behandlung der neurologischen Klinik in … . Am 22.5.2016 kam es als Folge der PML zu einer linksseitigen Volllähmung. Daraufhin begab er sich bis zum 22.6.2016 erneut in stationäre Behandlung in die neurologische Klinik in … . Anschließend begab er sich in stationäre Behandlung der neurologischen Fach- und Rehabilitation Klinik … in … . Er leidet unter starken Gleichgewichtsstörungen, kann sich nicht mehr selbst versorgen und ist zwischenzeitlich in Pflegestufe 3 eingestuft. Die Beeinträchtigungen sind bleibend.

Der Kläger übersandte der Beklagten mit Schreiben vom 25.4.2017 (Anlage K 9, BI. 99 ff. d.A.) einen Unfallbericht, in dem der Unfallhergang als „Infektionserkrankung durch Schutzimpfung“ geschildert wird, und machte Leistungen aus der streitgegenständlichen Unfallversicherung geltend. Mit ärztlichem Erstbericht … vom 8.5.2017 (BI. 102 d.A.) wurde die Möglichkeit einer dauernden Invalidität festgestellt. Die Beklagte lehnte Leistungen aus der Unfallversicherung mit der Begründung ab, Gesundheitsschäden durch medizinische oder sonstige Eingriffe am Körper der versicherten Person und Gesundheitsschäden durch Heilmaßnahmen seien vom Versicherungsschutz ausgeschlossen (Anlage K 10, BI. 103 d.A.).

Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen, dass ein bedingungsgemäßer Impfschaden vorliege. Die Immuntherapie mit Natalizumab sei mit einer Impfung gleichzusetzen. Die durch die PML eingetretene Invalidität als Folge der Immuntherapie betrage mindestens 35 % und sei dauerhaft, da die infektionsbedingten Läsionen und Vernarbungen des linken Kleinhirns bleibend seien. Aus dem Versicherungsvertrag stehe ihm daher eine Unfallrente ab März 2016 und eine Kapitalleistung in Höhe von 9.150 €, zusammen mit den aufgelaufenen rückständigen Renten bis Dezember 2017 29.880 €, zu

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn beginnend mit dem 1.1.2018 und fällig jeweils am 1. Tag der Folgemonate bis zum Ende des Monats, in dem eine nach Ziffer 9.4 der AUB 2012 der Beklagten vorgenommene ärztliche Neubemessung ergeben hat, dass der unfallbedingte Invaliditätsgrad unter 35 % gesunken ist, eine Invaliditätsrente in jeweils folgender Höhe zu zahlen:

in der Zeit von Januar bis einschließlich Dezember 2018 monatlich 1.015 €;

in den Folgejahren eine Rente, die sich jeweils ab Jahresbeginn ausgehend vom Vorjahresbetrag mindestens um 5 % erhöht, jeweils aufgerundet auf den nächsten durch volle 5 € teilbaren Betrag, wobei die jährliche Erhöhung endet, sobald er das 65. Lebensjahr vollendet oder aber ein Betrag von 3.500 € pro Monat erreicht ist;

2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 29.880 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen;

3. die Beklagte zu verurteilen, an die …, vertreten durch ihre Geschäftsführerin …, vorgerichtliche Kosten in Höhe von 1.474,89 € zu zahlen.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, dass kein versichertes Ereignis vorliege. Es sei keine Schutzimpfung gegeben. Es handele sich um eine Gesundheitsschädigung, die durch eine medizinische Behandlung der multiplen Sklerose verursacht worden sei. Es liege eine Heilmaßnahme vor, die unter den Ausschluss gemäß Ziffer 5.2.3 AUB 2012 falle. Infusionen im Rahmen einer längeren Immuntherapie stellten keine Schutzimpfungen dar. Bei den gesundheitlichen Folgen handele es sich um Folgen der Grunderkrankung des Klägers. Es sei nicht ersichtlich, dass es aufgrund eines versicherten Ereignisses bzw. der Immuntherapie zu einer Invalidität gekommen sei. Es liege keine Kausalität vor. Im Versicherungsvertrag sei weder eine Erhöhung der Rentenleistungen noch eine einmalige Kapitalleistung vereinbart.

Das Landgericht hat den Kläger informatorisch angehört und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Gabe von Natalizumab zur Behandlung der bestehenden multiplen Sklerose als Heilmaßnahme im Sinne der Ausschlussklausel der Ziffer 5.2.3 AUB 2012 anzusehen sei. Ein Impfschaden im Sinne der Ziffer 5.2.4.4 AUB 2012 liege nicht vor. Infusionen mit Natalizumab zur Therapie einer bestehenden multiplen Sklerose stelle keine Schutzimpfung dar. Unter den Begriff der Schutzimpfung würden nur solche Impfungen fallen, die dazu dienen, eine mögliche Krankheit im Voraus zu verhindern oder das Immunsystem auf eine zukünftige Krankheit vorzubereiten.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seine erstinstanzlichen Ansprüche in vollem Umfang weiterverfolgt.

Er trägt vor, das Landgericht habe fehlerhaft angenommen, dass Schutzimpfungen aus Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers nur den Schutz vor noch nicht eingetretenen Krankheiten umfassen würden. Eine Schutzimpfung sei die Herbeiführung einer Antigen-Antikörper-Reaktion zur Verhinderung des Ausbruchs einer noch nicht eingetretenen oder aber der Ausweitung einer bereits eingetretenen Krankheit, wobei die Impfung bei bereits eingetretenen Erkrankungen üblicherweise in Form der passiven Immunisierung erfolge. Viele Impfungen würden eingesetzt, wenn die Krankheit im Körper selbst bereits zur Entstehung gelangt sei (z.B. Tollwutimpfung). Der verständige Versicherungsnehmer gelange daher keinesfalls zu der Schlussfolgerung, dass eine Impfung begrifflich nur der Verhinderung eines Krankheitsausbruchs diene. Zum Begriff der Schutzimpfung gehöre auch jene, die durch körpereigene und an Antikörper angebundene Antigene die Zerstörung von Immunzellen deaktivieren und so den Ausbruch der Krankheit im Gehirn verhindern würden. Das entspreche der Wirkungsweise des streitgegenständlich verwendeten Wirkstoffes Natalizumab. Der in den Bedingungen der Beklagten verwendete Begriff der Schutzimpfung sei ohne nähere Definition einer zweifelsfreien Auslegung nicht zugänglich, so dass die Voraussetzungen des § 305c Abs. 2 BGB erfüllt seien. Zweifel gingen danach zu Lasten der Beklagten. Vom Begriff der Schutzimpfung sei die Immunisierung zur Verhinderung des Ausbruchs einer noch nicht eingetretenen Erkrankung, die Immunisierung zur Verhinderung der Ausweitung einer bereits bestehenden Krankheit und die Immunisierung durch monoklare Antikörper im Rahmen von Autoimmunerkrankungen umfasst.

Wenn man von einer Unwirksamkeit der Klausel Ziffer 5.2.4.4 AUB 2012 gemäß § 307 Abs. 1 BGB ausginge, sei der Begriff der Schutzimpfung entsprechend einer medizinischen Definition zugrunde zu legen.

Der Kläger beantragt, das Endurteil des Landgerichts Frankenthal vom 16.5.2018, Az. 3 0 355/17, aufzuheben und die Beklagte kostenpflichtig zu verurteilen,

1. an ihn beginnend mit dem 1.1.2018 und fällig jeweils am 1. Tag der Folgemonate bis zum Ende des Monats, in dem eine nach Ziffer 9.4 der AUB 2012 der Beklagten vorgenommene ärztliche Neubemessung ergeben hat, dass der unfallbedingte Invaliditätsgrad unter 35 % gesunken ist, eine Invaliditätsrente in jeweils folgender Höhe zu zahlen:

in der Zeit von Januar bis einschließlich Dezember 2018 monatlich 1.015 €;

in den Folgejahren eine Rente, die sich jeweils ab Jahresbeginn ausgehend vom Vorjahresbetrag mindestens um 5 % erhöht, jeweils aufgerundet auf den nächsten durch volle 5 € teilbaren Betrag, wobei die jährliche Erhöhung endet, sobald er das 65. Lebensjahr vollendet oder aber ein Betrag von 3.500 € pro Monat erreicht ist;

2. an ihn 29.880 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen;

3. an die …, vorgerichtliche Kosten in Höhe von 1.474,89 € zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die landgerichtliche Entscheidung nach Maßgabe der Berufungserwiderung vom 6.7.2018 (BI. 303 bis 305 d.A.).

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutenachtens; hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 1.10.2019 Bezug genommen (Bl. 324 d.A.).

II.

Die Berufung ist unbegründet. Bei dem streitgegenständlichen Geschehen handelt es sich nicht um einen versicherten Impfschaden, für den die Beklagte Leistungen erbringen müsste. Dementsprechend schuldet die Beklagte auch nicht den Ersatz vorgerichtlich entstandener Rechtsanwaltskosten.

1. Ein Anspruch des Klägers auf Invaliditätsleistungen setzt einen bedingungsgemäßen Unfall voraus. Ein solcher liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet (Ziffer 1.3 AUB 2012). Kein Versicherungsschutz besteht für medizinische oder sonstige Eingriffe am Körper der versicherten Person und für Heileingriffe (Ziffer 5.2.3 AUB 2012). Impfschäden, die durch „Schutzimpfungen“ hervorgerufen sind, sind allerdings mitversichert (Ziffer 5.2.4.4 AUB 2012). Impfschäden werden definiert als „eine über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehende Gesundheitsschädigung“. Die Schutzimpfung muss gesetzlich vorgeschrieben oder angeordnet oder von einer zuständigen Behörde empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen oder sonst ärztlich empfohlen und durchgeführt worden sein.

a) Es wurden medizinische Eingriffe in den Körper des Klägers im Sinne der Ziffer 5.2.3 AUB 2012 vorgenommen. Ein Eingriff in diesem Sinn ist jede äußere physische Einwirkung auf die körperliche Integrität (Bruck/Möller/Leverenz, WG, 9. Aufl., AUB 2008 Rn. 24 mwN). Diese muss zudem zu einer Substanzverletzung des Körpers führen oder eine Beeinträchtigung der körperlichen Funktion bezwecken (Prölss/Martin/Knappmann, WG, 30. Aufl., AUB 2010 Rn. 55a; BGH VersR 2001, 227; BGH VersR 2014, 59). Beide Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger leidet an multipler Sklerose. Aufgrund ärztlichen Rats sind ihm seit 2007 Infusionen mit Natalizumab verabreicht worden. Hierbei wurde ein Zugang zum Blutkreislauf des Klägers durch Stiche in dessen Venen geschaffen. Natalizumab ist ein monoklonaler Antikörper, der die für die Entzündung im Gehirn verantwortlichen körpereigenen Zellen daran hindert, in das Gehirn einzudringen, was vor einem schubweisen Ausbrechen der Erkrankung schützt.

b) Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich bei der zur Anwendung gebrachten Immuntherapie nicht um eine bedingungsgemäße Schutzimpfung im Sinne der Ziffer 5.2.4.4 AUB 2012; sie ist einer Impfung auch nicht gleichzusetzen.

Der Begriff der Schutzimpfung wird in den Bedingungen weder definiert noch durch Regelbeispiele veranschaulicht. Er ist auslegungsfähig und -bedürftig. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (BGH, Urt. v. 10.04.2019 – IV ZR 59/18, juris Rn. 17 mwN). Grundsätzlich unbeachtlich ist demnach die Legaldefinition der Schutzimpfung im Sinne von § 2 Nr. 9 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG).

Nach allgemeinem Sprachgebrauch handelt es sich bei einer (Schutz-)Impfung um die Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer (übertragbaren) Krankheit zu schützen. Sie dient der Aktivierung des Immunsystems gegen spezifische Stoffe (Quelle: Wikipedia). Vergleichbar hierzu lautet die Beschreibung der (Schutz-)Impfung im Brockhaus wie folgt: „Künstliche Erzeugung einer spezifischen Immunität gegenüber bakteriellen oder viralen Infektionskrankheiten, die bei rechtzeitiger Anwendung den Ausbruch der Krankheit verhindert oder zu einem stark abgeschwächten Verlauf führt“.

Kennzeichnend für eine Schutzimpfung ist demnach die Aktivierung des Immunsystems bzw. die (künstliche) Erzeugung einer Immunität zur Vorbeugung einer Infektionskrankheit. In der Medizin werden im Wesentlichen die aktive und die passive Impfung unterschieden. Bei der aktiven Impfung wird das Immunsystem zur Bildung einer erregerspezifischen Immunkompetenz angeregt, ohne die Infektionskrankheit selbst durchmachen zu müssen. Hierzu dienen Lebend- oder Totimpfstoffe. Nach Eindringen des Impfstoffs in den Körper werden seine Eiweiße (Proteine) und/oder Zuckermoleküle durch im Blut zirkulierende und/oder gewebsständige immunkompetente weiße Blutkörperchen als körperfremde Antigene erkannt. Es folgt die primäre Immunantwort durch erregerspezifische Prägung immunkompetenter Lymphozyten in Form langlebiger Gedächtniszellen. Kommt es zur Infektion, so erkennen die Gedächtniszellen am eingedrungenen Erreger die Antigene des früheren Impfstoffes und bewirken, dass Antikörper produziert und eine zelluläre Abwehr gebildet wird. Bei der passiven Impfung wird dem Empfänger Immunserum injiziert, das in hoher Konzentration Antikörper gegen den Krankheitserreger enthält.

Wenngleich die passive Impfung keine Impfung im medizinischen Sinne ist, da das eigene Immunsystem bei dieser Art der „Impfung“ nicht selbst Antikörper herstellt, so ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch auch diese Form der Impfung unter den Begriff der Schutzimpfung im Sinne der Bedingungen zu subsumieren. Denn auch durch sie soll eine Infektionskrankheit vermieden werden. Ob dies nun durch die Gabe von spezifischen Antikörpern oder, wie bei der aktiven Impfung, durch die Gabe von geschwächten Krankheitserregern, erreicht werden soll, spielt nach dem maßgebenden Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers keine Rolle. Nachdem der Begriff der Schutzimpfung in den Bedingungen nicht näher erläutert wird, gehen Zweifel, ob passive Impfungen (neben aktiven Impfungen) zu den bedingungsgemäßen Schutzimpfungen gehören, jedenfalls zu Lasten der Beklagten (§ 305c Abs. 2 BGB).

Die beim Kläger angewendete Therapie entspricht weder der aktiven noch der passiven Impfung. Vielmehr handelt es sich um eine therapeutische Heilmaßnahme, die nach Ziffer 5.2.3 AUB 2012 keinem Versicherungsschutz unterliegt. Zum einen war der Kläger vor der Gabe der Antikörper bereits unstreitig an multipler Sklerose erkrankt. Die Gabe der Antikörper diente danach nicht der Vermeidung der Erkrankung selbst oder der Abschwächung des Verlaufs der Erkrankung, sondern im Ergebnis der mit ihr verbundenen Symptome, der Schübe. Zum anderen wurde der Kläger bereits über Jahre hinweg mit Natalizumab behandelt. Demgegenüber handelt es sich bei (passiven) Schutzimpfungen – was dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer aufgrund der verbreiteten Tetanusimpfungen durchaus geläufig ist – um eine einmal anzuwendende Notfallmaßnahme, nachdem sich der Betreffende einem Krankheitserreger (ungewollt) ausgesetzt hat. Letztlich und vor allem wirkt Natalizumab immunsuppressiv, indem es das Einwandern weißer Blutkörper in das Zentralnervensystem verhindert. Dies stellt indes das Gegenteil einer Immunisierung durch Impfung dar; hier geht es gerade um die Stärkung des körpereigenen Abwehrsystems.

2. Die Immuntherapie des Klägers stellt auch dann keine (Schutz-)Impfung dar bzw. ist einer solchen gleichzusetzen, wenn man – zugunsten des Klägers – die Begriffsbestimmungen und Beurteilungen nicht aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers, sondern auf der Grundlage medizinischer Fachkenntnisse vornimmt.

Der Senat hat hierzu ein Gutachten bei dem Sachverständigen … eingeholt. Dieser hat dargelegt und begründet, dass auch aus ärztlicher Sicht die beim Kläger eingesetzte Immuntherapie keine Impfung darstellt. Nach seinen Ausführungen wird die Schutzimpfung durch zwei Kriterien gekennzeichnet: (1) das Hervorrufen einer Immunantwort in Form von Antikörpern, und (2) der Schutz gegen pathogene Mikroorganismen. Die Verabreichung von Natalizumab erfüllt keines der beiden Kriterien. Der Kläger leidet an multipler Sklerose. Hierbei handelt es sich um eine chronische autoimmune Entzündung des Gehirns und des Rückenmarks, bei der das Immunsystem körpereigene Zellen und Substanzen angreift. Die Behandlung erfolgt deshalb mit immunmodulatorischen und immunsuppressiven Medikamenten, namentlich mit dem Wirkstoff Natalizumab. Der Wirkstoff verhindert bzw. reduziert das Eindringen von weißen Blutkörperchen in den Nervenwasserraum und verhindert bzw. reduziert damit Entzündungen in diesem Bereich. Damit werden indes auch Blutkörper, die Krankheitserreger bekämpfen, am Eindringen in das Zentrale Nervensystem gehindert. Das kann zu Infektionen führen, die bei einem intakten Immunsystem nicht möglich wären. Hierzu kam es bei dem Kläger; nachgewiesen wurde bei ihm ein Befall mit JC-Viren. Damit aber stellt die Immuntherapie beim Kläger das Gegenteil einer Schutzimpfung dar, denn es werden keine Antikörper angeregt, gebildet oder zugesetzt.

Es war nicht geboten, den Sachverständigen weiter anzuhören. Die mit Schriftsatz vom 5.11.2019 formulierte erste Frage des Klägers hat der Sachverständige eindeutig und unmissverständlich dahingehend beantwortet, dass der Wirkstoff Natalizumab das Eindringen von weißen Blutkörperchen in das Zentrale Nervensystem verhindert bzw. dämpft; anders als bei Schutzimpfungen wird damit das Immunsystem des Patienten indes nicht gestärkt, sondern geschwächt. Auch die zweite Frage hat der Sachverständige eindeutig und unmissverständlich dahingehend beantwortet, dass die Verabreichung von Natalizumab mit einer Schutzimpfung nicht zu vergleichen ist, sondern im genauen Gegensatz dazu gerade auf eine Dämpfung des körpereigenen Immunsystems abzielt. Soweit es dem Kläger um Wertungen aus der Laiensphäre geht, namentlich darum, wie ein medizinischer Laie eine „Schutzimpfung mit umgekehrtem Vorzeichen“ bezeichnen würde, handelt es sich nicht um eine dem medizinischen Sachverständigenbeweis zugängliche Frage. Weitere Fragen hat der Kläger im Termin der mündlichen Verhandlung vom 22.4.2020 nicht formuliert.

3. Bei der Regelung der Ziffer 5.2.4.4 AUB 2012 handelt es sich nicht um eine mehrdeutige Regelung i.S.v. § 305c Abs. 2 BGB. Indes ist auch dann nicht von einem Impfschaden auszugehen, wenn man bei der Auslegung des Begriffs „Impfung“ nicht den Verständnishorizont eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers, sondern von ärztlichem Spezialwissen ausgeht. Der Senat geht ebenfalls davon aus, dass die von der Beklagten verwendete Klausel keine unangemessene Benachteiligung von Versicherungsnehmern i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB darstellt, weil die Klausel klar und unmissverständlich ist. Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass im Falle einer Unwirksamkeit der Wiedereinschlussklausel (Ziffer 5.2.4.4 AUB 2012) ohnehin die Ausschlussregelung der Ziffer 5.2.3 AUB 2012 greifen würde, demnach Gesundheitsschäden durch medizinische oder sonstige Eingriffe bzw. Heilmaßnahmen nicht versichert sind.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO; die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Begründeter Anlass zur Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) besteht nicht. Es liegt eine Einzelfallentscheidung vor und der Senat weicht nicht von höchstrichterlicher oder obergerichtlicher Rechtsprechung ab.

5. Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren beruht auf § 48 Abs. 1 Satz 1 GKG und berücksichtigt für den Antrag auf Zahlung einer Rente gemäß § 9 ZPO die bei Klageeinreichung im Oktober 2017 bereits fälligen Beträge und für die laufenden Rentenzahlungen den im maßgeblichen Zeitraum höchsten Jahresbetrag von 1.175 € (vergleiche dazu BGH, Beschluss vom 23. 5. 2017 – II ZR 169/16).

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