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Verkehrsunfall – Verurteilung des Versicherungsnehmers im strafprozessualen Adhäsionsverfahren

OLG Karlsruhe – Az.: 9 U 77/17 – Urteil vom 31.10.2019

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 21.04.2017 – K 5 O 247/16 – aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den Forderungen des Herrn H. R., R. Straße, K., aus dem Urteil des Amtsgerichts Singen vom 03.09.2015 – Az: 50 Cs 53 Js 23023/14 – freizustellen.

3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den Forderungen des Herrn H. R., R. Straße, K., aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Singen vom 06.04.2016, Az: 50 Cs 53 Js 23023/14, in Höhe von 1.022,92 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 18.02.2016 freizustellen.

4. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger darüber hinaus aus dem Haftpflichtversicherungsvertrag zwischen Frau A. B. und der Beklagten, Versicherungsnummer …/583, wegen des Vorfalls vom 04.10.2014 in G. Versicherungsschutz zu gewähren.

5. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.

6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

7. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Ehefrau des Klägers, A. B., hat mit der Beklagten einen Haftpflichtversicherungs-Vertrag abgeschlossen. Nach den vertraglichen Vereinbarungen ist auch die Haftpflicht des Klägers mitversichert. Die Beklagte hat nach dem Vertrag Versicherungsschutz zu gewähren u. a. bei Schadensersatzansprüchen, die ein Dritter auf Grund einer unerlaubten Handlung der versicherten Personen geltend macht. Der Kläger verlangt im Rechtsstreit von der Beklagten die Gewährung von Versicherungsschutz für seine Haftung aus einem Vorfall vom 04.10.2014.

Am 04.10.2014 befuhr der Kläger mit seinem Pkw in G. gegen 16:30 Uhr die B …. Der Zeuge H. R. bog mit seinem Fahrrad vor dem Fahrzeug des Klägers aus einer untergeordneten Straße in die B … ein, um dort in derselben Fahrtrichtung weiterzufahren wie der Kläger. Der Kläger war der Meinung, der Zeuge H. R. habe beim Einbiegen die Vorfahrt des Klägers verletzt. Er machte dies dem Zeugen mit Gesten und – bei heruntergedrehter Seitenscheibe – mit Worten deutlich. Der Zeuge H. R. reagierte darauf, indem er – während der Fahrt, als er sich mit seinem Fahrrad links neben dem Fahrzeug des Klägers befand -, mit seiner Faust gegen die Fahrertür des klägerischen Pkw schlug. Dadurch entstand eine Beule in der Tür. In der Folgezeit versuchte der Kläger durch Gesten und durch bestimmte Fahrmanöver, den Zeugen H. R. zum Anhalten zu bewegen. Der Kläger wollte wegen der Beule an seinem Pkw Schadensersatzansprüche geltend machen. Der Zeuge H. R. setzte zunächst die Fahrt mit seinem Fahrrad fort, da er bei einem Anhalten eine weitere emotionale Eskalation der Situation befürchtete. Der Kläger fuhr schließlich mit seinem Fahrzeug ein Stück voraus, hielt an und stieg aus dem Pkw aus. Er stellte sich so auf den Gehweg, auf dem inzwischen der Zeuge H. R. fuhr, dass dieser nicht vorbeifahren konnte. Um den Zeugen anzuhalten, ergriff der Kläger den Lenker des Fahrrads und den Arm des Zeugen. Dies führte dazu, dass sowohl der Zeuge mit seinem Fahrrad als auch der Kläger stürzten. Unstreitig konnte der Zeuge H. R. bei dem Sturz seine Schuhe zunächst nicht aus den Klickpedalen des Fahrrads lösen. Weitere Einzelheiten des Geschehens sind streitig. Im Zusammenhang mit dem Geschehen erlitt der Zeuge H. R. Verletzungen, und zwar einen komplizierten Knöchelbruch im linken Fuß und einen Bruch im Bereich der Lendenwirbelsäule.

Verkehrsunfall - Verurteilung des Versicherungsnehmers im strafprozessualen Adhäsionsverfahren
(Symbolfoto: Von andriano.cz/Shutterstock.com)

Wegen des streitgegenständlichen Geschehens wurde der Kläger in einem Strafverfahren durch Urteil des Amtsgerichts Singen vom 03.09.2015 wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 40,00 € verurteilt. Im Urteil stellte das Amtsgericht aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme fest, dass die Verletzungen des Zeugen H. R. bei dem gemeinsamen Sturz des Klägers und des Zeugen entstanden seien. Insbesondere sei die Knöchelverletzung des Zeugen schlüssig dadurch erklärbar, dass sich der Zeuge während des Sturzes nicht aus den Klickpedalen des Fahrrades lösen konnte. Hingegen sei es nach der Beweisaufnahme ausgeschlossen, dass der Kläger – wie vom Zeugen angegeben – nach dem Sturz auf dem Fahrrad, unter dem sich der linke Fuß des Zeugen befand, „herumgesprungen“ sei. Der Kläger sei aus Rechtsgründen nicht berechtigt gewesen, den Zeugen H. R. wegen des vorausgegangenen Geschehens gewaltsam anzuhalten. Dass es bei dem gewaltsamen Anhalten des Zeugen zum Sturz mit der Möglichkeit von Verletzungen kommen konnte, sei für den Kläger vorhersehbar und vermeidbar gewesen. Darauf beruhe der Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung.

Der Zeuge H. R. hatte sich dem Strafverfahren als Nebenkläger angeschlossen und hatte außerdem Adhäsionsanträge gestellt. Über diese Adhäsionsanträge hat das Amtsgericht Singen im Urteil vom 03.09.2015 wie folgt entschieden:

1. Der Angeklagte wird verurteilt, an den Adhäsionskläger H. R., R. Straße, K., 2.180,40 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24.01.2015 zu zahlen.

2. Der Angeklagte wird verurteilt, an den Adhäsionskläger H. R., R. Straße, K., ein Schmerzensgeld in Höhe von 2.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinnsatz seit 24.01.2015 zu zahlen.

3. Es wird festgestellt, dass der Angeklagte verpflichtet ist, dem Adhäsionskläger H. R. sämtliche künftigen materiellen sowie nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden aus dem Schadensereignis in der H. Straße in G. vom 04.10.2014 gegen 16:30 Uhr unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von 30 % zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

4. Im Übrigen wird von einer Entscheidung abgesehen.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes und bei der Zuerkennung eines materiellen Schadensersatzanspruchs hat das Amtsgericht Singen eine Mitverschuldensquote des Zeugen H. R. von 30 % berücksichtigt. Das Mitverschulden des Zeugen ergebe sich zum einen aus der vorausgegangenen Beschädigung des Pkw des Klägers durch einen unnötig kräftigen Schlag, und zum anderen daraus, dass er weder angehalten noch gebremst habe, als sich der Kläger ihm in den Weg gestellt habe. Das Urteil des Amtsgerichts Singen im Strafverfahren ist rechtskräftig.

Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger von der Beklagten verlangt, ihm Versicherungsschutz zu gewähren wegen der Schadensersatzansprüche des Zeugen H. R. aus dem Vorfall vom 04.10.2014. Die Beklagte sei eintrittspflichtig sowohl wegen der Ansprüche, welche dem Zeugen H. R. im Urteil des Amtsgerichts Singen vom 03.09.2015 zuerkannt wurden, als auch wegen weiterer zukünftiger Schadensersatzansprüche des Zeugen. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts Singen im Strafverfahren sei von einem vorsätzlichen Handeln des Klägers auszugehen. Daher sei die Beklagte gemäß § 103 VVG nicht zur Leistung verpflichtet.

Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung mehrerer Zeugen und mit Urteil vom 21.04.2017 die Klage abgewiesen. Der Kläger habe vorsätzlich gehandelt, so dass die Beklagte gemäß § 103 VVG leistungsfrei sei. Es stehe nach der Beweisaufnahme fest, dass die Verletzungen des Zeugen H. R. nicht durch einen vom Kläger fahrlässig herbeigeführten Sturz verursacht worden seien; vielmehr seien die Verletzungen dadurch entstanden, dass der Kläger nach dem Sturz mutwillig auf dem am Boden liegenden Fahrrad, unter dem sich der Fuß des Zeugen H. R. befunden habe, herumgesprungen sei. An die abweichende Auffassung des Amtsgerichts Singen im Strafverfahren sei das Landgericht im Zivilprozess aus Rechtsgründen nicht gebunden.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Er vertritt zum einen die Auffassung, das erstinstanzliche Urteil sei aus Rechtsgründen fehlerhaft. Im Deckungsprozess bestehe eine Bindung des Gerichts an die Entscheidung des Amtsgerichts Singen, welches im Adhäsionsverfahren über den Schadensersatzanspruch des Zeugen R. entschieden habe. Wegen der bindenden Entscheidung über die zivilrechtliche Haftung gegenüber dem Zeugen H. R. könne sich die Beklagte nicht – von der Entscheidung des Amtsgerichts Singen abweichend – auf ein vorsätzliches Verhalten des Klägers berufen. Außerdem sei die Beweiswürdigung des Landgerichts aus verschiedenen Gründen fehlerhaft. Der Zeuge R. habe sich die Verletzungen, wie vom Amtsgericht Singen im Strafprozess festgestellt, beim Sturz zugezogen. Ein anschließendes „Herumspringen“ des Klägers auf dem Fahrrad habe es entgegen den Angaben des Zeugen H. R. nicht gegeben, und widerspreche den Aussagen der anderen Zeugen. Im Übrigen habe das Landgericht verkannt, dass der Kläger wegen der vorausgegangenen Sachbeschädigung des Zeugen H. R. gemäß § 127 StPO zur vorläufigen Festnahme berechtigt gewesen sei.

Der Kläger beantragt, unter Abänderung des angefochtenen Urteils

1. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von den Forderungen des Herrn H. R., R. Straße, K., aus dem Urteil des Amtsgerichts Singen vom 03.09.2015 – Az: 50 Cs 53 Js 23023/14 – freizustellen;

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger von den Forderungen des Herrn H. R., R. Straße, K., aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Singen vom 06.04.2016, Az: 50 Cs 53 Js 23023/14, in Höhe von 1.022,92 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 18.02.2016 freizustellen;

3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger darüber hinaus aus dem Haftpflichtversicherungsvertrag zwischen Frau A. B. und der Beklagten, Versicherungsnummer …/583, wegen des Vorfalls vom 04.10.2014 in G. Versicherungsschutz zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das Urteil des Landgerichts und ergänzt ihr erstinstanzliches Vorbringen. Die Entscheidung des Landgerichts sei in rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Ein vorsätzliches Verhalten des Klägers ergebe sich schon aus einer dem eigentlichen Geschehen vorausgegangenen „Verfolgungsjagd“. Es könne kein Zweifel daran bestehen, dass der Kläger dem Zeugen H. R. Verletzungen zumindest mit bedingtem Vorsatz zugefügt habe.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Die Beklagte hat dem Kläger Versicherungsschutz zu gewähren wegen der Schadensersatzansprüche, die von dem Zeugen H. R. wegen des Vorfalls vom 04.10.2014 gegen den Kläger geltend gemacht werden.

1. Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus dem Versicherungsvertrag zwischen seiner Ehefrau und der Beklagten. Die Beklagte hat Deckungsschutz zu gewähren für Schadensersatzansprüche Dritter, insbesondere gemäß §§ 823 Abs. 2 BGB, 229 StGB, also bei einer fahrlässigen Körperverletzung. Der Kläger ist als Versicherter berechtigt, die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag gegen die Beklagte geltend zu machen; denn es ist von einer Ermächtigung des Klägers durch die Ehefrau auszugehen. Die Beklagte hat einer Geltendmachung der Ansprüche aus dem Vertrag durch den Kläger nicht widersprochen. Auf die Einzelheiten der vertraglichen Vereinbarungen zur Geltendmachung von Ansprüchen aus dem Vertrag durch den Versicherten kommt es daher nicht an (vgl. zur Aktivlegitimation Prölss/Klimke, VVG, 30. Auflage 2018, § 44 VVG Rn. 25).

2. Die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Beklagten aus dem Versicherungsvertrag liegen vor. Der Kläger ist unstreitig zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen wegen einer Körperverletzung ausgesetzt. Der Versicherungsvertrag verpflichtet die Beklagte zur Leistung bei derartigen Ansprüchen Dritter.

3. Die Beklagte kann sich nicht auf einen Leistungsausschluss gemäß § 103 VVG berufen. Denn dem Schaden, welchen der Kläger dem Zeugen H. R. zugefügt hat, liegt kein vorsätzliches Verhalten zugrunde. Dies ergibt sich aus der Entscheidung des Amtsgerichts Singen im Urteil vom 03.09.2015 über die Adhäsionsanträge des Zeugen R..

a) Die Entscheidung über die Adhäsionsanträge entfaltet Bindungswirkungen im Deckungsprozess gegen den Versicherer. Dies ergibt sich aus § 406 Abs. 3 Satz 1 StPO. Die Entscheidung im Adhäsionsverfahren über Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche steht nach dieser Vorschrift einer rechtskräftigen Entscheidung in einem zivilrechtlichen Haftungsprozess gleich. Das bedeutet, dass zum einen im Verhältnis zwischen dem Geschädigten und dem Schädiger die gleichen Rechtskraftwirkungen eintreten wie nach einem zivilrechtlichen Urteil (vgl. BGH, NJW 2015, 1252). Zum anderen folgt aus der gesetzlichen Regelung in § 406 Abs. 3 Satz 1 StPO, dass die Entscheidung im Adhäsionsverfahren dieselben Wirkungen im nachfolgenden Deckungsprozess gegen seine Versicherung hat, die bei einer vorausgegangenen Entscheidung in einem Zivilprozess über den Schadensersatzanspruch des Geschädigten eingetreten wären.

Im Versicherungsrecht ist anerkannt, dass die rechtskräftige Entscheidung eines Haftpflichtprozesses grundsätzlich für den nachfolgenden Deckungsprozess bindend ist. Dabei kann dahinstehen, ob man diese Wirkung der Regelung in § 106 VVG entnimmt (vgl. Prölss/Lücke, VVG, 30. Auflage 2018, § 100 VVG Rn. 59, § 106 VVG Rn. 5), oder ob man diese Bindungswirkung generell dem Leistungsversprechen des Haftpflichtversicherers im Wege der Auslegung entnimmt (vgl. BGH, NJW 1993, 68). In jedem Fall gilt diese Bindungswirkung wegen der Regelung in § 406 Abs. 3 Satz 1 StPO auch für eine rechtskräftige Entscheidung über Schadensersatzansprüche im Adhäsionsverfahren für den nachfolgenden Deckungsprozess.

b) Allerdings gilt diese Bindungswirkung nur für diejenigen Feststellungen aus dem Haftpflichtprozess – bzw. aus dem Adhäsionsverfahren -, für welche eine sogenannte Voraussetzungsidentität vorliegt (vgl. BGH, NJW-RR 2004, 676; BGH, NJW-RR 2007, 827; Prölss/Lücke, a. a. O., § 100 VVG Rn. 60, 61). Das bedeutet, dass das Gericht im Deckungsprozess zu Gunsten des Versicherungsnehmers (bzw. des Versicherten) insoweit an die Feststellungen im vorausgegangenen Haftpflichtprozess gebunden ist, als dieselben Feststellungen auch im Haftpflichtprozess entscheidungserheblich waren. Hingegen besteht keine Bindung im Deckungsprozess an „überschießende“ Feststellungen im Haftpflichtprozess, die für die Klärung der Haftungsfrage rechtlich letztlich nicht erheblich waren. Die Voraussetzungsidentität ist vorliegend aus zwei Gründen gegeben.

aa) Für den Deckungsprozess ist grundsätzlich die schadensverursachende Pflichtverletzung maßgeblich, welche im Haftungsprozess festgestellt wurde. Der Haftpflichtversicherer kann sich im Deckungsprozess nur auf solche Ausschlusstatbestände berufen, die mit der im Haftungsprozess festgestellten Pflichtverletzung zusammenhängen. Hingegen kann sich der Haftpflichtversicherer im Deckungsprozess nicht auf solche Ausschlusstatbestände berufen, die bei einer anderen Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers in Betracht kommen, auf welche jedoch die Entscheidung im Haftungsprozess nicht gestützt wurde (vgl. BGH, NJW 2011, 610, 611). Das bedeutet für den vorliegenden Fall: Das Amtsgericht Singen hat die Haftung des Klägers bei der Entscheidung über die Adhäsionsanträge darauf gestützt, dass der Kläger (fahrlässig) einen Sturz des Zeugen H. R. verursacht hat, welcher zu den Verletzungen des Zeugen führte. Dies ist Gegenstand des Deckungsprozesses. Eine von der fahrlässigen Verursachung des Sturzes zu unterscheidende Pflichtverletzung des Klägers durch ein „Herumspringen“ auf dem Fahrrad des Zeugen hat das Amtsgericht Singen nicht festgestellt. Daher ist ein „Herumspringen“ auf dem Fahrrad nicht Gegenstand des Deckungsprozesses; die Beklagte kann im Deckungsprozess den Einwand eines vorsätzlichen Verhaltens des Klägers nicht auf einen solchen abweichenden Sachverhalt stützen.

bb) Außerdem waren die Feststellungen des Amtsgerichts Singen zum Verschulden des Klägers im Adhäsionsverfahren entscheidungserheblich. Sowohl für die Mitverschuldungsquote als auch für die Höhe des Schmerzensgeldes ist das Amtsgericht Singen von einem fahrlässigen Verhalten, und nicht von einer vorsätzlichen Tat ausgegangen. In einem derartigen Fall liegt für die Feststellung der Fahrlässigkeit in der vorausgegangenen Haftungsentscheidung einerseits und dem nachfolgenden Deckungsprozess andererseits Voraussetzungsidentität vor. Das bedeutet, dass sich ein Versicherer im Deckungsprozess nicht auf ein vorsätzliches Verhalten des Versicherten für einen Leistungsausschuss berufen kann, wenn die fahrlässige Begehungsform im Urteil über die Haftungsfrage entscheidungserheblich war. Dies ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt (vgl. grundlegend BGH, VersR 1992, 1504).

c) Entgegen der Auffassung des Landgerichts gibt es keinen rechtlichen Gesichtspunkt, der zu einer Beschränkung der Bindungswirkung führen könnte, wenn über die Haftpflichtfrage im strafprozessualen Adhäsionsverfahren entschieden wurde. Insbesondere ergibt sich eine Einschränkung der Bindungswirkung nicht aus der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.12.2012 (NJW 2013, 1163).

In der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.12.2012 ging es – entgegen dem ungenau formulierten ersten Leitsatz – nicht um den Regelfall einer Haftpflichtversicherung gemäß § 100 VVG. Vielmehr ging es in der Entscheidung um eine mögliche Bindungswirkung des Adhäsionsverfahrens für einen nachfolgenden Prozess des Geschädigten gegen einen Pflichtversicherer im Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung. In diesem Fall kommt eine Bindungswirkung gegenüber dem Pflichtversicherer wegen der speziellen Regelung für die Pflichtversicherung in § 124 VVG nicht in Betracht. Das bedeutet: Aus der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.12.2012 ergibt sich keine Einschränkung der Regelung in § 406 Abs. 3 Satz 1 StPO. Vielmehr hat der Bundesgerichtshof auch für den Bereich der Pflichtversicherung im Hinblick auf die spezielle Regelung in § 124 Abs. 1 VVG einen Gleichlauf der Wirkungen bestätigt, die sich aus einem zivilrechtlichen Urteil gegen den Schädiger einerseits und aus einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren andererseits ergeben können.

Eine abweichende Beurteilung käme nur dann in Betracht, wenn dem Versicherer durch die Bindungswirkung der Entscheidung im Adhäsionsverfahren Rechte abgeschnitten würden, die er bei einer zivilprozessualen Entscheidung über die Haftungsfrage hätte wahrnehmen können. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Entscheidung im Adhäsionsverfahren ist für die Beklagte nicht mit Nachteilen verbunden; die Beklagte stünde nicht besser, wenn die Haftungsfrage in einem vorausgegangenen Zivilprozess zwischen dem Zeugen H. R. und dem Kläger geklärt worden wäre.

Die Beklagte hatte zwar aufgrund der Besonderheiten des Strafprozesses keine Möglichkeit, sich am Strafprozess zu beteiligen, um dort Einfluss auf die Entscheidung über die Adhäsionsanträge zu nehmen. Bei einem Zivilprozess über die Haftungsfrage hätte die Beklagte jedoch keinen Vorteil gehabt. Die Beklagte hätte zwar nach den vertraglichen Vereinbarungen wohl die Möglichkeit gehabt, den Haftpflichtprozess für den Kläger zu führen. Es wäre ihr dabei jedoch verwehrt gewesen, im Haftpflichtprozess ein vorsätzliches Verhalten des Klägers geltend zu machen. Vielmehr hätte die Beklagte selbst – wenn sie einen zivilrechtlichen Haftpflichtprozess für den Kläger geführt hätte – in der Wahrnehmung der Interessen des Versicherten alles in ihren Kräften Stehende tun müssen, um eine eventuelle Haftung des Klägers wegen einer vorsätzlichen Schädigung abzuwehren (vgl. BGH, NJW 1993, 68). Wenn ein Versicherungsnehmer es im zivilprozessualen Haftpflichtprozess versäumt, dem Versicherer die Führung des Prozesses zu überlassen, ändert dies dementsprechend nichts daran, dass die Feststellung einer lediglich fahrlässigen Haftung gegenüber dem Geschädigten im Deckungsverhältnis gegenüber dem Versicherer verbindlich bleibt, so dass dieser sich nicht auf eine Leistungsfreiheit gemäß § 103 VVG berufen kann. Für die Verbindlichkeit einer Entscheidung im Adhäsionsverfahren gemäß § 406 Abs. 3 Satz 1 StPO kann nichts Anderes gelten. Ob eine Einschränkung der Bindungswirkung dann anzunehmen wäre, wenn der Versicherer geltend macht, ihm habe im Adhäsionsverfahren die Möglichkeit gefehlt, für eine Abwehr der Ansprüche des Geschädigten zu sorgen, kann dahinstehen. Denn ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben.

4. Die verschiedenen Klageanträge sind begründet. Gemäß § 100 VVG hat die Beklagte den Kläger von den bereits rechtskräftig festgestellten Ansprüchen des Zeugen H. R. freizustellen. Gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 VVG hat die Beklagte den Kläger auch von den bereits festgesetzten außergerichtlichen Kosten des Zeugen H. R. im Adhäsionsverfahren freizustellen. Ob die Leistungspflicht der Beklagten auch die Kosten der Nebenklage umfasst (vgl. zu dieser Frage Prölss/Lücke, a. a. O., § 101 VVG Rn. 11) kann dahinstehen. Denn der auf die Kosten bezogene Klageantrag betrifft nur die Kosten wegen der Adhäsionsanträge und nicht die Kosten wegen der Nebenklage. Der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet, da weitere Ansprüche des Zeugen H. R. und Dritter wegen des Vorfalls vom 04.10.2014 in Betracht kommen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713 ZPO.

6. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Der Senat weicht nicht von der vom Landgericht zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.12.2012 (BGH, NJW 2013, 1163) ab (s. o.).

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