Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Verkehrssicherungspflicht: Gerichtsurteil zu Baustellensicherung und Haftung
- Der Fall vor Gericht
- Baufirma muss 8.000 Euro Schmerzensgeld nach Sturz auf mangelhaft gesicherter Baustelle zahlen
- Unzureichend gesicherte Höhenunterschiede im Gehweg
- Schwere Verletzungen durch den Sturz
- Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Baufirma
- Schmerzensgeld und Haushaltsführungsschaden
- Gerichtliche Bewertung der Verkehrssicherung
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Welche Verkehrssicherungspflichten müssen Baufirmen bei Gehwegbaustellen erfüllen?
- Wer haftet bei Unfällen auf mangelhaft gesicherten Baustellen?
- Wie wird die Höhe des Schmerzensgeldes bei Baustellenunfällen bemessen?
- Welche Rolle spielt ein Mitverschulden bei Baustellenunfällen?
- Welche Schadensersatzansprüche bestehen neben dem Schmerzensgeld?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landgericht Tübingen
- Datum: 13.08.2019
- Aktenzeichen: 5 O 304/18
- Verfahrensart: Zivilverfahren, Schadensersatzklage
- Rechtsbereiche: Schadensersatzrecht, Verkehrssicherungsrecht
Beteiligte Parteien:
- Klägerin: Eine Frau, die Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Sturzes auf einer Baustelle verlangt. Sie argumentiert, dass die Beklagte ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt habe, indem sie beim Baustellenbereich keine ausreichende Warnung aufgestellt hat.
- Beklagte: Ein Bauunternehmen, das Bauarbeiten im Auftrag der Deutschen Telekom AG durchführte. Die Beklagte bestreitet eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht und behauptet, dass der Bereich verkehrssicher gewesen sei, und die Klägerin hätte mit schlechten Lichtverhältnissen rechnen müssen.
Um was ging es?
- Sachverhalt: Die Klägerin stürzte auf einem Gehweg in einem Baustellenbereich, wo die Beklagte Glasfaserkabel verlegte. Der Gehweg war durch den fehlenden Belag uneben, was nach Ansicht der Klägerin zur mangelhaften Verkehrssicherung führte. Durch den Sturz erlitt die Klägerin schwere Verletzungen, die ihre Mobilität stark einschränkten.
- Kern des Rechtsstreits: War die Beklagte verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen wie Warnschilder auf die Gefahrenstelle hinzuweisen, um ihrer Verkehrssicherungspflicht zu genügen?
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Klage wurde überwiegend zugunsten der Klägerin entschieden. Die Beklagte wurde verurteilt, Schadensersatz und Schmerzensgeld zu zahlen. Allerdings wurde der Mitverschuldensanteil der Klägerin auf 50 % festgelegt.
- Begründung: Die Beklagte hat ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, da sie es versäumt hat, vor dem abrupten Ende der Deckschicht zu warnen. Eine einfache Maßnahme wie eine Warnbarke hätte die Gefahr eines Sturzes reduzieren können. Auch wenn die Beklagte die Bauvorschriften eingehalten haben mag, hat sie nicht ausreichend auf die tatsächlichen Gefahren hingewiesen.
- Folgen: Die Beklagte muss an die Klägerin Schadensersatz und Schmerzensgeld zahlen, wobei sie 50 % der Kosten selbst tragen muss. Die Klägerin bekommt zudem zukünftige Schadensersatzansprüche anerkannt. Die gerichtlichen Kosten werden überwiegend der Beklagten auferlegt.
Verkehrssicherungspflicht: Gerichtsurteil zu Baustellensicherung und Haftung
Die Verkehrssicherungspflicht ist eine grundlegende Verantwortung, die sowohl Bauunternehmer als auch Eigentümer von Grundstücken verpflichtet, angemessene Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen. Besonders bei Baustellen ist eine sorgfältige Baustellensicherung unerlässlich, um die Sicherheit von Passanten und Fahrzeugen zu gewährleisten. Versäumnisse in der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften können nicht nur zu Unfällen führen, sondern auch rechtliche Konsequenzen in Form von Schadensersatzforderungen nach sich ziehen.
Im Rahmen von Baustellenmanagement sind klare Regelungen zur Baustellensicherung und zur Einrichtung von Sicherheitseinrichtungen erforderlich. Verletzungen dieser Pflichten können als Ordnungswidrigkeit geahndet werden und haben potenziell schwerwiegende Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit. In den folgenden Abschnitten wird ein konkreter Fall vorgestellt, der die Thematik der Verkehrssicherungspflichtverletzung bei der Sicherung einer Baustelle beleuchtet und die rechtlichen Grundlagen analysiert.
Der Fall vor Gericht
Baufirma muss 8.000 Euro Schmerzensgeld nach Sturz auf mangelhaft gesicherter Baustelle zahlen

Die Klägerin erlitt am 7. Dezember 2015 gegen 17:30 Uhr einen schweren Sturz auf einem Gehweg in M., wo die beklagte Baufirma Glasfaserkabel verlegte. Das Landgericht Tübingen verurteilte das Bauunternehmen nun zur Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz.
Unzureichend gesicherte Höhenunterschiede im Gehweg
Die Beklagte hatte im Auftrag der Deutschen Telekom AG Glasfaserkabel verlegt und dafür den Gehwegbelag auf einer Breite von etwa 65 Zentimetern entfernt. Während im Bereich vor dem Veranstaltungsgebäude bereits die komplette Tragschicht und Deckschicht wieder aufgebracht waren, fehlte nach etwa 20 Metern in Richtung Friedhof die Deckschicht. An dieser Stelle bestand eine scharfe senkrechte Kante zwischen der neu aufgebrachten Tragschicht und dem ursprünglichen Gehweg.
Schwere Verletzungen durch den Sturz
Die damals 72-jährige Klägerin stürzte aufgrund des unerwarteten Höhenunterschieds und schlug mit Hüfte und Oberschenkel auf der Längskante des Belags auf. Sie erlitt einen Trümmerbruch am rechten Oberschenkel, der operativ mit einem Oberschenkelnagel versorgt werden musste. Nach dreiwöchigem Klinikaufenthalt folgte eine vierwöchige Rehabilitation. Die Klägerin ist seither auf einen Rollator angewiesen und kann nur noch kurze Strecken gehen. Durch die Verkürzung des Schenkelhalses leidet sie unter dauerhaften Schmerzen und ist in ihrer Mobilität stark eingeschränkt.
Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Baufirma
Das Gericht sah eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte, da sie den Fußgängerverkehr nicht ausreichend vor dem abrupten Ende der Deckschicht gewarnt hatte. Eine einfache Warnbarke mit Blinklicht hätte nach Ansicht des Gerichts ausgereicht. Die genaue Höhe des Absatzes – ob 2-3 oder 4-6 Zentimeter – war dabei nicht entscheidend. Vielmehr berücksichtigte das Gericht die Form der Unebenheit, deren Erkennbarkeit, die Bedeutung des Weges sowie die schlechten Lichtverhältnisse.
Schmerzensgeld und Haushaltsführungsschaden
Das Landgericht sprach der Klägerin unter Berücksichtigung eines 50-prozentigen Mitverschuldens ein Schmerzensgeld von 8.000 Euro zu. Zusätzlich muss die Beklagte einen monatlichen Haushaltsführungsschaden von 182,69 Euro sowie die vorgerichtlichen Anwaltskosten erstatten. Die Geschädigte hatte vor dem Unfall etwa 37,5 Wochenstunden Hausarbeit geleistet und ist nun dabei zu 25 Prozent eingeschränkt. Das Gericht stellte auch fest, dass die Beklagte verpflichtet ist, künftige materielle Schäden aus dem Unfall zu 50 Prozent zu ersetzen.
Gerichtliche Bewertung der Verkehrssicherung
Das Gericht betonte, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorgebeugt werden könne. Jedoch müsse ein Bauunternehmer diejenigen Sicherheitsvorkehrungen treffen, die ein verständiger und gewissenhafter Angehöriger der Branche für notwendig halte. Da der Gehweg vom Veranstaltungsgebäude zum Friedhof führte und entsprechend frequentiert war, bestand eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Die fehlende Warnung vor dem unvermittelten Ende des fertigen Gehwegs wog besonders schwer, da Fußgänger nach dem bereits fertiggestellten Teilstück von einer durchgehenden Asphaltierung ausgehen durften.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Urteil zeigt, dass Bauunternehmen bei Gehwegarbeiten eine besondere Verkehrssicherungspflicht haben und für unzureichend gesicherte Höhenunterschiede haften. Bei Verletzung dieser Pflicht müssen sie Schadensersatz und Schmerzensgeld zahlen, wobei ein Mitverschulden der geschädigten Person berücksichtigt werden kann. Die Entscheidung macht deutlich, dass besonders bei schlechten Lichtverhältnissen eine angemessene Absicherung oder Warnung vor Gefahrenstellen erforderlich ist.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Wenn Sie auf einer Baustelle durch mangelhafte Absicherung zu Schaden kommen, haben Sie gute Chancen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Sie müssen dafür nachweisen, dass die Gefahrenstelle nicht ausreichend gesichert oder gekennzeichnet war. Auch bei einem möglichen Mitverschulden, etwa durch unvorsichtiges Gehen, können Sie Ihre Ansprüche teilweise durchsetzen. Die Entschädigung umfasst dabei nicht nur die unmittelbaren Behandlungskosten, sondern auch Folgeschäden wie Einschränkungen im Haushalt. Bei schweren Verletzungen mit dauerhaften Folgen können Sie zudem eine Feststellungsklage für zukünftige Schäden einreichen.
Sichere Gehwege, sichere Ansprüche
Dieses Urteil verdeutlicht, wie wichtig eine umfassende Verkehrssicherungspflicht für Bauunternehmen ist. Unfälle durch mangelhafte Absicherung können weitreichende Folgen haben – sowohl für Betroffene als auch für die Verantwortlichen. Gerade bei Personenschäden sind die rechtlichen und finanziellen Konsequenzen oft komplex. Wir helfen Ihnen, Ihre Rechte zu verstehen und Ihre Ansprüche effektiv durchzusetzen, damit Sie sich auf Ihre Genesung konzentrieren können.
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Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Welche Verkehrssicherungspflichten müssen Baufirmen bei Gehwegbaustellen erfüllen?
Baufirmen tragen eine Verkehrssicherungspflicht, wenn sie Gehwegbaustellen einrichten. Diese Pflicht umfasst alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um Gefahren für Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer zu minimieren. Die rechtlichen Grundlagen ergeben sich aus der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO), den Richtlinien für die Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen (RSA 21) sowie allgemeinen Haftungsregelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).
Zentrale Anforderungen an die Sicherung von Gehwegbaustellen
- Gefahrenstellen absichern und kennzeichnen:
- Baustellen müssen durch Absperrschranken, Bauzäune oder ähnliche Vorrichtungen gesichert werden, um Abstürze in Baugruben oder andere Gefahren zu verhindern.
- Warnleuchten und gut sichtbare Markierungen sind bei Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnissen erforderlich.
- Barrierefreiheit sicherstellen:
- Gehwege sollten möglichst in voller Breite erhalten bleiben. Falls dies nicht möglich ist, gelten Mindestbreiten: 1,30 m, in kurzen Engstellen mindestens 1,00 m, damit auch Rollstuhlfahrer oder Personen mit Kinderwagen passieren können.
- Stufen und Schwellen sind zu vermeiden. Falls unvermeidbar, müssen sie mit Rampen oder Kontrastelementen gemäß DIN-Normen ausgestattet werden.
- Alternative Wegeführung:
- Ist der Gehweg nicht nutzbar, müssen sichere Umleitungen oder Notwege eingerichtet werden. Diese sollten auf derselben Straßenseite verlaufen, um unnötige Querungen zu vermeiden.
- Besondere Rücksicht auf gefährdete Gruppen:
- Auf blinde, sehbehinderte, mobilitätseingeschränkte Personen sowie Kinder ist besonders zu achten. Dies kann durch taktile Bodenleitsysteme oder zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen erfolgen.
- Regelmäßige Kontrollen:
- Die Baustelle muss regelmäßig auf Sicherheitsmängel überprüft werden. Schäden an Absperrungen oder Kennzeichnungen sind sofort zu beheben.
- Beleuchtung und Sichtbarkeit:
- Baustellenbereiche müssen bei Dunkelheit ausreichend beleuchtet sein, insbesondere an Notwegen und Querungen.
Beispiele für typische Sicherungsmaßnahmen
- Ein Gehweg wird durch eine Baustelle blockiert: Die Baufirma richtet einen provisorischen Notweg ein, der durch Absperrschranken von der Fahrbahn getrennt ist.
- Eine Baugrube befindet sich nahe einem Gehweg: Warnschilder und Beleuchtung weisen Fußgänger frühzeitig auf die Gefahr hin.
Haftung bei Pflichtverletzungen
Kommt es aufgrund mangelhafter Sicherung zu Unfällen, haftet die Baufirma für entstandene Schäden. Ein Beispiel ist der Sturz über eine ungesicherte Asphaltkante bei einer Gehwegbauarbeit. Hier wurde die Baufirma haftbar gemacht, da sie keine angemessenen Maßnahmen ergriffen hatte.
Die Einhaltung dieser Verkehrssicherungspflichten ist entscheidend, um Unfälle zu vermeiden und rechtliche Konsequenzen zu verhindern.
Wer haftet bei Unfällen auf mangelhaft gesicherten Baustellen?
Bei Unfällen auf mangelhaft gesicherten Baustellen können mehrere Parteien gleichzeitig haftbar sein. Der Bauherr trägt als Initiator des Bauvorhabens die grundsätzliche Verkehrssicherungspflicht und haftet deliktisch für Schäden, die durch Verletzung dieser Pflicht entstehen.
Haftung des Bauunternehmers
Der Bauunternehmer ist in erster Linie für die Sicherheit der Baustelle verantwortlich. Wenn Sie als Bauunternehmer tätig sind, müssen Sie notwendige und zumutbare Vorkehrungen treffen, um Schäden zu verhindern. Diese Pflicht gilt auch an arbeitsfreien Tagen und umfasst die regelmäßige Kontrolle der Sicherheitseinrichtungen.
Übertragung der Verantwortung
Der Bauherr kann seine Verkehrssicherungspflicht auf einen sorgfältig ausgewählten Unternehmer übertragen. Allerdings wandelt sich diese Pflicht dann in eine Überwachungspflicht um. Eine nachlässige oder unterbliebene Kontrolle der Baustelle durch den Auftraggeber kann zur Mithaftung im Schadensfall führen.
Besonderheiten bei der Haftung
Bei Verstößen gegen Sicherheitsvorschriften können mehrere Parteien als Gesamtschuldner haften. Ein Warnschild mit der Aufschrift „Betreten auf eigene Gefahr“ oder „Eltern haften für ihre Kinder“ entbindet nicht von der Haftung.
Wenn Sie als Geschädigter einen Unfall auf einer Baustelle erleiden, können Sie bei Verletzung der Unfallverhütungsvorschriften vom sogenannten „Beweis des ersten Anscheins“ profitieren. Der Gerüstbauer oder Bauunternehmer muss dann nachweisen, dass der Unfall auch bei ordnungsgemäßer Sicherung passiert wäre.
Wie wird die Höhe des Schmerzensgeldes bei Baustellenunfällen bemessen?
Die Bemessung des Schmerzensgeldes bei Baustellenunfällen richtet sich nach § 253 BGB und erfolgt unter Berücksichtigung der konkreten Lebensbeeinträchtigungen des Geschädigten.
Grundlegende Bemessungskriterien
Bei der Festsetzung der Schmerzensgeldhöhe stehen die erlittenen Lebensbeeinträchtigungen im Verhältnis zu anderen Umständen immer an erster Stelle. Maßgebliche Faktoren sind dabei das Ausmaß der Schmerzen, deren Intensität und Dauer sowie mögliche Folgeschäden.
Besonderheiten bei Baustellenunfällen
Bei Unfällen auf Baustellen ist zu unterscheiden, ob es sich um einen Arbeitsunfall handelt. Bei Arbeitsunfällen besteht nur in Ausnahmefällen ein Schmerzensgeldanspruch, nämlich wenn ein vorsätzliches Handeln vorliegt.
Wenn der Unfall hingegen auf eine Verletzung der Verkehrssicherungspflichten zurückzuführen ist, können weitreichendere Ansprüche bestehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Baustelle nicht ordnungsgemäß abgesichert war oder Warnschilder fehlten.
Konkrete Bemessungsfaktoren
Die Höhe des Schmerzensgeldes wird durch folgende Aspekte bestimmt:
- Schwere der Verletzungen und deren Folgen
- Dauer der Behandlung und Heilungsverlauf
- Grad des Verschuldens des Verantwortlichen
- Dauerhafte körperliche oder psychische Beeinträchtigungen
- Vermögensverhältnisse der beteiligten Parteien
Kleine Verletzungen wie Kratzer oder blaue Flecken ohne langfristige Beeinträchtigungen begründen dabei keinen Anspruch. Bei schweren Verletzungen mit dauerhaften Folgen kann das Schmerzensgeld dagegen erheblich ausfallen.
Welche Rolle spielt ein Mitverschulden bei Baustellenunfällen?
Mitverschulden ist ein zentraler Begriff im deutschen Schadensrecht und spielt eine bedeutende Rolle bei der Schadensregulierung nach Baustellenunfällen. Wenn Sie oder jemand, den Sie kennen, auf einer Baustelle einen Unfall erlitten hat, ist es wichtig zu verstehen, wie Mitverschulden die Anspruchshöhe beeinflussen kann.
Definition und Grundlagen
Mitverschulden gemäß § 254 BGB bedeutet, dass der Geschädigte selbst durch sein Verhalten zum Schaden beigetragen hat. Dies kann die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie den Umfang des zu leistenden Ersatzes beeinflussen. Die Verantwortung für den Schaden wird dann zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten aufgeteilt, was als Quotelung bezeichnet wird.
Auswirkungen auf die Schadensregulierung
- Aufteilung des Schadens: Wenn ein Mitverschulden des Geschädigten festgestellt wird, wird der Schaden entsprechend der Verantwortung aufgeteilt. Zum Beispiel könnte der Schädiger für 75% des Schadens haften, während der Geschädigte 25% selbst tragen muss.
- Verkehrssicherungspflicht: Wenn ein Bauunternehmer oder Bauherr seine Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem er beispielsweise keine ausreichende Absturzsicherung oder andere Sicherheitsmaßnahmen trifft, kann dies zu einer Haftung führen. Allerdings kann ein Mitverschulden des Geschädigten diese Haftung mindern oder sogar ausschließen.
Beispiele aus der Praxis
- Fehlende Absturzsicherung: Ein Bauunternehmer hat keine ausreichende Absturzsicherung für Dacharbeiten getroffen. Ein Arbeiter stürzt und verletzt sich. Wenn der Arbeiter jedoch die fehlende Sicherung kannte und dennoch die Arbeiten aufnahm, könnte dies als Mitverschulden gewertet werden, was die Haftung des Bauunternehmers mindert.
- Verkehrssicherungspflichtverletzung: Ein Bauherr hat die Verkehrssicherungspflicht verletzt, indem er keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen für die Baustelle getroffen hat. Ein Passant wird durch ein ungesichertes Baugerüst verletzt. Wenn der Passant jedoch eine Warnung ignorierte oder sich bewusst in eine Gefahrenzone begab, könnte dies als Mitverschulden gewertet werden.
Rechtliche Grundlagen
- § 254 BGB: Dieser Paragraf regelt das Mitverschulden und wie es bei der Schadensregulierung berücksichtigt wird.
- §§ 823 ff. BGB: Diese Paragraphen legen die Grundlage für die deliktische Haftung bei Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.
- BGH-Urteile: Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Urteilen klargestellt, dass bei unklaren Verhältnissen am Unfallort die Zweifel zu Lasten des Verkehrssicherungspflichtigen gehen.
Handlungsschritte
Wenn Sie oder jemand, den Sie kennen, in einen Baustellenunfall verwickelt sind, sollten Sie:
- Dokumentation: Alle Umstände des Unfalls genau dokumentieren, einschließlich Fotos, Zeugenaussagen und Berichte.
- Rechtsberatung: Eine rechtliche Beratung in Anspruch nehmen, um die eigenen Rechte und Pflichten zu klären.
- Schadensminderung: Sofortige Maßnahmen zur Schadensminderung ergreifen, um weitere Schäden zu vermeiden.
- Ansprüche geltend machen: Schadensersatzansprüche gegen den Verantwortlichen geltend machen, wobei das Mitverschulden berücksichtigt wird.
Durch das Verständnis des Mitverschuldens können Sie besser abschätzen, wie sich dies auf Ihre Ansprüche auswirken könnte und welche Schritte Sie unternehmen sollten, um Ihre Rechte zu wahren.
Welche Schadensersatzansprüche bestehen neben dem Schmerzensgeld?
Bei einer Verkehrssicherungspflichtverletzung, wie sie bei der mangelhaften Sicherung einer Baustelle vorkommen kann, haben Sie als Geschädigter Anspruch auf verschiedene Schadensersatzleistungen neben dem Schmerzensgeld. Diese zusätzlichen Ansprüche können oft einen erheblichen Teil der Gesamtentschädigung ausmachen.
Materielle Schäden
Zunächst können Sie den Ersatz aller materiellen Schäden geltend machen. Dazu gehören:
- Behandlungskosten: Sämtliche Kosten für ärztliche Behandlungen, Medikamente, Hilfsmittel oder Therapien, die nicht von der Krankenversicherung übernommen werden.
- Verdienstausfall: Wenn Sie aufgrund der Verletzung nicht arbeiten können, haben Sie Anspruch auf Ersatz des entgangenen Einkommens.
- Haushaltsführungsschaden: Können Sie Ihren Haushalt nicht mehr wie gewohnt führen, steht Ihnen eine Entschädigung für die notwendige Hilfe zu.
- Sachschäden: Beschädigte Kleidung, Brillen oder andere persönliche Gegenstände, die bei dem Unfall zu Schaden gekommen sind, müssen ersetzt werden.
Immaterielle Schäden
Neben dem Schmerzensgeld, das den immateriellen Schaden abdeckt, können weitere nicht-materielle Ansprüche bestehen:
- Entschädigung für entgangene Urlaubsfreuden: Wenn Sie einen geplanten Urlaub aufgrund der Verletzung nicht antreten können.
- Ausgleich für den Verlust der Arbeitskraft: Bei dauerhaften Beeinträchtigungen Ihrer Erwerbsfähigkeit.
Zukünftige Schäden
Beachten Sie, dass Sie auch zukünftige Schäden geltend machen können. Wenn absehbar ist, dass Ihre Verletzung langfristige Folgen haben wird, können Sie einen Vorschuss oder eine Rente für künftige Aufwendungen verlangen.
Rechtliche Grundlagen
Die Ansprüche basieren auf den §§ 249 ff. BGB für den Schadensersatz und § 253 Abs. 2 BGB für das Schmerzensgeld. Bei einer Verkehrssicherungspflichtverletzung kommt oft auch § 823 BGB als Anspruchsgrundlage in Betracht.
Wenn Sie einen Unfall auf einer Baustelle erlitten haben, sollten Sie alle entstandenen und möglicherweise noch entstehenden Kosten sorgfältig dokumentieren. Dies erleichtert die spätere Geltendmachung Ihrer Ansprüche erheblich.
Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung ersetzen kann. Haben Sie konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren – wir beraten Sie gerne.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Verkehrssicherungspflicht
Eine rechtliche Verpflichtung, die jeden trifft, der eine Gefahrenquelle schafft oder kontrolliert. Sie verlangt, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um andere vor Schäden zu schützen. Die Pflicht basiert auf § 823 BGB und richterlicher Rechtsfortbildung. Im Baustellenbereich bedeutet dies konkret, dass Gefahrenstellen abgesichert und gekennzeichnet werden müssen. Das Ausmaß der erforderlichen Sicherungsmaßnahmen richtet sich nach der konkreten Gefährdungslage und der Verkehrsbedeutung. Beispiel: Eine Baugrube muss durch Absperrungen und Warnhinweise gesichert werden.
Mitverschulden
Eine Beteiligung des Geschädigten am Zustandekommen oder der Verschlimmerung des eigenen Schadens nach § 254 BGB. Dies führt zu einer anteiligen Kürzung des Schadensersatzanspruchs. Die Höhe der Kürzung richtet sich nach dem jeweiligen Verursachungsbeitrag der Beteiligten. Wie im vorliegenden Fall, wo das Gericht ein 50-prozentiges Mitverschulden annahm, da die Klägerin die Gefahrenstelle bei entsprechender Aufmerksamkeit hätte erkennen können.
Haushaltsführungsschaden
Ein materieller Schaden, der entsteht, wenn jemand aufgrund einer Verletzung die Haushaltsführung nicht mehr oder nur eingeschränkt wahrnehmen kann. Er wird als eigenständiger Schadenspositionen nach § 843 BGB ersetzt. Die Berechnung erfolgt anhand der konkreten Einschränkung und des Umfangs der bisherigen Haushaltstätigkeit. Beispiel: Wenn eine Person nach einem Unfall nur noch 75% der früheren Hausarbeit leisten kann, werden die Kosten für die fehlenden 25% ersetzt.
Vorgerichtliche Anwaltskosten
Kosten für die anwaltliche Vertretung, die bereits vor einem Gerichtsverfahren entstehen, etwa für die außergerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen. Diese sind nach § 249 BGB als Schadenspositionen erstattungsfähig, wenn sie zur Rechtsverfolgung notwendig und angemessen waren. Beispiel: Kosten für Mahnschreiben des Anwalts oder Vergleichsverhandlungen vor einer Klage.
Schadensersatz
Ein gesetzlicher Anspruch nach §§ 249 ff. BGB, der den Ausgleich eines erlittenen Schadens zum Ziel hat. Er umfasst sowohl materielle Schäden (z.B. Behandlungskosten) als auch immaterielle Schäden (Schmerzensgeld). Der Geschädigte soll so gestellt werden, wie er ohne das schädigende Ereignis stünde. Der Anspruch setzt Verschulden voraus und kann verschiedene Schadenspositionen umfassen, wie Heilbehandlungskosten, Verdienstausfall oder Sachschäden.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB (Schadensersatzpflicht):
§ 823 Abs. 1 BGB regelt die deliktische Haftung für Schäden. Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist verpflichtet, dem anderen den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Hierbei ist eine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten ebenfalls als schuldhaftes Verhalten einzuordnen.
Im vorliegenden Fall hat die Beklagte ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt, da sie die scharfe Kante zwischen den unterschiedlichen Belagsschichten nicht ausreichend abgesichert oder gekennzeichnet hat. Dies führte direkt zu dem Sturz der Klägerin und ihrer schweren Verletzung. Eine ausreichende Absicherung oder Warnung vor der Gefahrenstelle hätte die Gefahr für die Klägerin minimiert. - § 254 Abs. 1 BGB (Mitverschulden):
Nach § 254 Abs. 1 BGB wird der Schadensersatzanspruch des Geschädigten reduziert, wenn dieser durch eigenes Verhalten zur Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens beigetragen hat. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Geschädigter die erforderliche Sorgfalt in eigener Angelegenheit nicht beachtet.
Im Urteil wurde der Klägerin ein Mitverschulden von 50 % zugesprochen. Das Gericht begründet dies unter anderem damit, dass die Klägerin den schlecht ausgeleuchteten Weg ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen wie z. B. das Mitführen einer Taschenlampe begangen hat, obwohl ihr die örtlichen Gegebenheiten bekannt waren. - § 842 BGB (Schadensersatz wegen entgangener Arbeitskraft):
§ 842 BGB bezieht sich auf die Ersatzpflicht des Schädigers, wenn der Verletzte durch die Schädigung nicht mehr oder nur eingeschränkt in der Lage ist, seinen Haushalt oder Beruf auszuüben. Die entgangene Arbeitskraft ist ein erstattungsfähiger Vermögensschaden.
Die Klägerin ist aufgrund des Unfalls dauerhaft in ihrer Mobilität eingeschränkt und kann den Haushalt nur noch unter erheblichen Mühen führen. Die durch den Haushaltsführungsschaden entstandenen Mehrkosten sind somit ein direkt zurechenbarer materieller Schaden, den die Beklagte anteilig zu tragen hat. - § 847 BGB a.F. / § 253 Abs. 2 BGB (Schmerzensgeld):
§ 253 Abs. 2 BGB bestimmt, dass bei einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung auch ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen ist. Dieses dient dazu, immaterielle Schäden wie Schmerzen und Einschränkungen des Lebens zu kompensieren.
Die Klägerin erlitt durch den Sturz eine schwere Fraktur mit dauerhaften Folgen, wie etwa anhaltenden Schmerzen, eingeschränkter Beweglichkeit und Abhängigkeit von einem Rollator. Das Gericht hat der Klägerin daher ein angemessenes Schmerzensgeld zugesprochen, das die Schwere der Verletzung und die andauernde Beeinträchtigung berücksichtigt. - Verkehrssicherungspflicht (Richterrecht, abgeleitet aus § 823 BGB):
Die Verkehrssicherungspflicht ergibt sich aus der allgemeinen Haftung nach § 823 BGB und verpflichtet denjenigen, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, dafür Sorge zu tragen, dass Dritte nicht zu Schaden kommen. Die notwendigen Maßnahmen zur Sicherung richten sich dabei nach dem Maßstab eines verständigen und umsichtigen Verkehrsteilnehmers.
Die Beklagte hat die Baustelle nicht ausreichend gesichert und keine Warnhinweise angebracht, um auf den abrupten Höhenunterschied hinzuweisen. Hierdurch wurde eine vorhersehbare Gefahr geschaffen, die letztlich zum Unfall der Klägerin führte. Die Beklagte haftet somit wegen Verletzung dieser Pflicht.
Das vorliegende Urteil
LG Tübingen – Az.: 5 O 304/18 – Urteil vom 13.08.2019
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