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Unfallversicherung – Voraussetzungen der fristgerechten Invaliditätsfeststellung

Entscheidung zu Unfallversicherungen: Kläger erhält Entschädigung

In einem aktuellen Fall entschied ein Gericht über die Zahlung einer Invaliditätsleistung aufgrund zweier Unfälle des Klägers, der bei der Beklagten insgesamt vier Unfallversicherungen abgeschlossen hatte. Trotz unterschiedlicher Einschätzungen von Gutachtern wurde der Kläger teilweise entschädigt.

Direkt zum Urteil: Az.: 5 U 37/21 springen.

Die Unfälle des Klägers

Der Kläger erlitt zwei Unfälle: einen beim Skifahren im April 2018 und einen weiteren beim Wandern im Dezember 2018. In beiden Fällen wurde seine rechte Schulter verletzt. Nach den Unfällen machte der Kläger Ansprüche wegen Invalidität geltend.

Gutachterliche Einschätzungen und gerichtliche Entscheidung

Ein von der Beklagten beauftragter Gutachter sah keine Ursache für die Beeinträchtigung des Klägers in den Unfällen. Daraufhin verweigerte die Beklagte die Zahlung von Leistungen. Ein Gericht entschied jedoch, dass die Beklagte dem Kläger eine teilweise Entschädigung zahlen muss.

Fazit und Auswirkungen für Versicherte

Der Fall zeigt, dass Unfallversicherer trotz gutachterlicher Einschätzungen zur Zahlung von Leistungen verpflichtet sein können. Versicherte sollten bei strittigen Fällen ihre Ansprüche prüfen und gegebenenfalls gerichtliche Schritte in Erwägung ziehen.

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Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Saarbrücken – Az.: 5 U 37/21 – Urteil vom 22.02.2022

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 8. April 2021 – 14 O 181/19 – wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.

III. Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf     89.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Gegenstand der Klage sind Ansprüche des Klägers aus vier bei der Beklagten gehaltenen Unfallversicherungen wegen zweier behaupteter Unfallereignisse vom    10. April und 25. Dezember 2018.

Der am 30. Mai 1958 geborene Kläger unterhält bzw. unterhielt bei der Beklagten insgesamt vier Unfallversicherungsverträge mit folgenden Vertragsnummern und Daten:

· ~37, Grundsumme bei Invalidität: 142.500 Euro, Laufzeit bis 1. Januar 2024, Versicherungsschein Bl. 14 ff. d. A.;

· ~79, Grundsumme bei Invalidität: 100.000 Euro, Laufzeit bis 1. Mai 2023, Versicherungsschein Bl. 43 ff. d. A.;

· ~47, Grundsumme bei Invalidität: 120.000 Euro, Laufzeit bis 10. Dezember 2018, Versicherungsschein Bl. 66 ff. d. A.;

· ~64, Grundsumme bei Invalidität: 100.000 Euro, Laufzeit bis 1. Januar 2024, Versicherungsschein Bl. 108 ff. d. A.;

Den Verträgen mit den Endziffern -37, -79 und -64 lagen unter anderem     – inhaltlich identische – Allgemeine Bedingungen 2008 für die Unfallversicherung der M. Versicherung AG (Vertrag -37: Bl. 20 ff. d. A., Vertrag -79: Bl. 51 ff. d. A., Vertrag -64: Bl. 139 ff. d. A.; im folgenden: AB-Unfall 2008) und die M. Bedingungen 2008 für die Unfallversicherung für den Fall der Invalidität (Vertrag -37: Bl. 24 ff. d. A., Vertrag -79: Bl. 55 ff. d. A., Vertrag -64: Bl. 143 ff. d. A.; im folgenden: VB-Unfall Invalidität 2008) zugrunde. Vertragsbestandteil war außerdem die Besondere Vereinbarung 2008 für die Unfallversicherung nach der Tarifvariante Top (Vertrag -37: Bl. 31 ff. d. A., im folgenden: BV-Unfall Top 2008) bzw. die Besondere Vereinbarung 2012 für die Unfallversicherung nach der Tarifvariante Top (Vertrag -79: Bl. 62 ff. d. A., Vertrag -64: Bl. 151 ff. d. A.; im folgenden: BV-Unfall Top 2012). Nach § 1 Ziff. 1 VB-Unfall Invalidität 2008 entsteht ein Anspruch auf Leistung aus der für den Invaliditätsfall versicherten Summe, wenn die Invalidität – definiert als eine durch den Unfall herbeigeführte dauerhafte Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit der versicherten Person – innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten und innerhalb einer Frist von 15 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt dem Grunde nach und unter Angabe der Beeinträchtigung, auf der sie beruht, schriftlich festgestellt wurde. Außerdem muss der Anspruch auf Invaliditätsleistung innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall gegenüber dem Versicherer schriftlich geltend gemacht werden. Gemäß Klausel B 1 §1 BV-Unfall Top 2008 bzw. 2012 ist die Frist für die ärztliche Feststellung der Invalidität und für die Geltendmachung gegenüber der Beklagten auf 21 Monate nach dem Unfall verlängert.

Dem Vertrag mit den Endziffern -37 lagen Allgemeine Bedingungen 1999 für die Unfallversicherung der M. Versicherung AG (Bl. 73 ff. d. A.; im folgenden: AB-Unfall 1999) und M. Bedingungen für die Unfallversicherung für den Fall der Invalidität (Bl. 79 ff. d. A.; im folgenden: VB-Unfall Invalidität 1999) zugrunde. Führt ein Unfall der versicherten Person zu einer dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität), entsteht gemäß § 1 Nr. 1 VB-Unfall Invalidität 1999 ein Anspruch auf Leistung aus der für den Invaliditätsfall versicherten Summe, sofern die Invalidität innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten und innerhalb einer Frist von 15 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt dem Grunde nach unter Angabe der Beeinträchtigung, auf der sie beruht, schriftlich festgestellt wurde. Der Anspruch auf Invaliditätsleistung muss außerdem innerhalb einer Frist von 18 Monaten nach dem Unfall dem Versicherer gegenüber schriftlich geltend gemacht werden.

Am 28. November 2018 suchte der Kläger den Chirurgen V. W., W., auf, der einen Zustand nach „AC-Gelenksprengung re. (Tossy II)“ und eine „A.C.-Gelenkarthrose re.“ diagnostizierte. Als Befund wurde eine geringgradige Schwellung der rechten Schulter mit Druckschmerz und eine endgradige Bewegungseinschränkung der rechten Schulter in allen Ebenen erhoben (Attest vom     28. November 2018, Anlage K6, Bl. 159 d. A.). Der Kläger zeigte der Beklagte am selben Tag unter Vorlage dieses Attests einen Unfall vom 10. April 2018 an, als er beim Skifahren auf die rechte Schulter gefallen sei, und machte Ansprüche wegen Invalidität geltend (Unfallanzeige Anlage K5, Bl. 155 ff. d. A.).

Im Januar 2019 stellte sich der Kläger erneut bei Herrn W. vor, der bei der radiologischen Gemeinschaftspraxis F. und F. in T. eine Kernspintomographie des rechten Schultergelenks veranlasste. Dort wurden am 21. Januar 2019 u. a. eine Teilruptur der Supraspinatussehne und verschiedene degenerative Veränderungen im Schultergelenk festgestellt (Befundbericht vom 22. Januar 2019, Anlage K 8, Bl. 161 d. A.). Unter Vorlage dieses Berichts meldete der Kläger am  30. Januar 2019 der Beklagten ein weiteres Unfallereignis vom 25. Dezember 2018, als er beim Wandern in Obergurgl auf die rechte Schulter gestürzt sei.

Die Beklagte gab bereits unter dem 17. Januar 2019 ein fachorthopädisches Gutachten bei Herrn Dr. med. W. F1, T., in Auftrag. Der Gutachter gelangte zu der Annahme, es bestehe „aktuell“ eine Minderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Arms gemäß der Gliedertaxe von 1/20 Armwert, deren Ursache er jedoch nicht in den von dem Kläger berichteten Unfällen sah (Gutachten vom 13. Februar 2019, Anlage K 9, Bl. 162 ff. d. A.). Unter Hinweis auf das Ergebnis dieses Gutachtens verweigerte die Beklagte mit Schreiben vom 28.02.2019 (Anlage K 10, Bl. 34 d. A.) die Erbringung von Leistungen. Sodann unterbreitete sie mit Schreiben vom 8. März 2019 (Anlage K 11, Bl. 35 d. A.) ein Vergleichsangebot in Höhe eines Abfindungsbetrages von 8.950,00 Euro, das der Kläger unter Vorlage eines Gegenangebotes über 90.000,00 Euro durch seinen Prozessbevollmächtigten ablehnte (Schreiben vom 18. März 2019, Bl. 37 d. A.). Dieses Angebot lehnte wiederum die Beklagte unter Aufrechterhaltung ihres früheren Vergleichsangebots bis zum 31. Mai 2019 ab (Schreiben vom 3. April 2019, Anlage K 13, Bl. 39 d. A.).

Mit zwei Schreiben vom 16. Juli 2019 (Anlagen BLD 3, Bl. 228 ff. d. A.), von denen sich eines auf das „Ereignis vom 10.04.2018“ und das andere auf das „Ereignis vom 25.12.2018“ bezog, teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie an ihrer Entscheidung festhalte, und belehrte ihn sodann – in Fettdruck – folgendermaßen:

„Sollte der Unfall eine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität) hinterlassen, können Sie eine Invaliditätsleistung beantragen, wenn innerhalb eines Jahres nach dem Unfall Invalidität eingetreten und dies nach weiteren neun Monaten – dem Grunde, nicht der Höhe nach – von einem Arzt schriftlich festgestellt worden ist.

Es ist Ihre Aufgabe, sich fristgemäß um die ärztliche Feststellung zu bemühen.

Wird diese Frist versäumt, besteht kein Anspruch auf Invaliditätsleistung.“

Zur Begründung seiner auf Zahlung einer Invaliditätsleistung in Höhe von insgesamt 89.500 Euro nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichteten Klage hat der Kläger behauptet, er sei am 10. April 2018 beim Skilaufen gestürzt und auf die rechte Schulter gefallen, als er versucht habe, sich mit der rechten Hand abzustützen. Seither habe er Schmerzen und könne den rechten Arm – vor allem bei Seitwärtsbewegungen – nicht mehr richtig heben. Die Schulter sei instabil und ihre Belastbarkeit erheblich eingeschränkt. Weiter hat der Kläger behauptet, am     25. Dezember 2018 erneut gestürzt zu sein, als er beim Wandern auf Glatteis ausgerutscht sei. Dabei habe er sich mit dem nach hinten gerichteten rechten Arm abgestützt. Die Hand sei daraufhin geschwollen und blau gewesen. In Folge des ersten Unfalls seien bei ihm eine Schultereckgelenksprengung, eine Verletzung der Supraspinatussehne der rechten Schulter, ein traumatisches Impingementsyndrom sowie ein Schmerzsyndrom aufgetreten. Dieser Erstkörperschaden habe sich durch den zweiten Unfall vertieft. Es verbleibe eine unfallbedingte Invalidität von mindestens 5/20 Armwert. Der Beklagten sei es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verwehrt, sich auf eine etwaige Fristversäumnis hinsichtlich der ärztlichen Invaliditätsfeststellung zu berufen, da sie mit der Einholung eines Gutachtens den Eindruck erweckt habe, ein eigenes Tätigwerden des Klägers sei nicht erforderlich.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat gemeint, sie sei wegen Fehlens einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung und aufgrund der Verletzung der Obliegenheiten des Klägers gemäß § 17 AB-Unfall 2008 bzw. § 16 AB-Unfall 1999 zur unverzüglichen Hinzuziehung eines Arztes, zur unverzüglichen Unterrichtung der Beklagten, zur wahrheitsgemäßen Unfallanzeige und zur Erteilung sachdienlicher Hinweise leistungsfrei. Jedenfalls sei aufgrund einer im Jahr 1973 beim Kläger erfolgten Operation an der rechten Schulter infolge einer Schlüsselbeinfraktur eine Vorinvalidität zu berücksichtigen.

Mit dem am 8. April 2021 verkündeten Urteil, auf dessen tatsächliche Feststellungen der Senat gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO ergänzend Bezug nimmt, hat das Landgericht Saarbrücken die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe für keines der beiden – behaupteten – Unfallereignisse eine fristgerechte ärztliche Invaliditätsfeststellung vorgelegt. Da die Beklagte den Kläger nach der Leistungsablehnung auf die Erforderlichkeit einer solchen fristgerechten Feststellung hingewiesen habe, sei es ihr auch nicht nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf das Fehlen einer solchen Feststellung zu berufen.

Der Kläger verfolgt mit seiner Berufung die erstinstanzlich geltend gemachten Ansprüche in vollem Umfang weiter. Er macht geltend, eine schriftliche ärztliche Feststellung der Invalidität könne auch eine sogenannte „zusammengesetzte Urkunde“ sein. Die in den ärztlichen Bescheinigungen vom 4. Januar 2019 (Bl. 160 d. A.) und 22. Januar 2019 (Bl. 161 d. A.) fehlende explizite Feststellung einer voraussichtlichen Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigungen ergebe sich aus dem von der Beklagten eingeholten Gutachten. Soweit das Gutachten eine Unfallbedingtheit der Beeinträchtigungen verneine, werde diese durch vom Kläger vorgelegten schriftlichen ärztlichen Feststellungen bestätigt. Auf eine abweichende rechtliche Beurteilung hätte das Landgericht den Kläger frühzeitig hinweisen müssen. Dann hätte er, da die Klage geraume Zeit vor Ablauf der Invaliditätsfeststellungsfristen eingereicht worden sei, noch die Möglichkeit gehabt, eine entsprechende schriftliche ärztliche Feststellung vorzulegen.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Urteils vom 08.04.2021 wie folgt zu erkennen:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine Gesamtinvaliditätsentschädigung in Höhe von mindestens      89.500 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 1.3.2019 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, außergerichtliche Rechtsanwaltsvergütung in Höhe von 4.242,35 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem [gemeint offensichtlich: Basiszinssatz] seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Hilfsweise zu Ziffer 2:

Die Beklagte wird verurteilt, außergerichtliche Rechtsanwaltsvergütung i. H. v. 1.687,42 Euro an den Kläger, sowie weitere 2.554,93 Euro an die ARAG SE zur Schaden-Nummer:      31 007518 464804, nebst Zinsen i. H. v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Hinsichtlich des Sachverhalts und des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Sitzungsniederschriften des Landgerichts vom      11. Februar 2021 und des Senats vom 12. Januar 2022 sowie auf das Urteil des Landgerichts vom 8. April 2021 Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil beruht weder gemäß §§ 513 Abs. 1, 546 ZPO auf einer Rechtsverletzung, noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung. Dem Kläger stehen Ansprüche gegen die Beklagte aus den Unfallversicherungsverträgen wegen der behaupteten Unfallereignisse schon deshalb nicht zu, weil es – wie das Landgericht zutreffend entschieden hat – an der fristgerechten ärztlichen Feststellung einer unfallbedingten Invalidität des Klägers als Anspruchsvoraussetzung fehlt und der Beklagten die Berufung hierauf auch nicht nach den Geboten von Treu und Glauben verwehrt ist.

1.

Die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen vom 28. November 2018, 4. Januar 2019 und 22. Januar 2019 stellen weder für sich genommen noch in der Zusammenschau mit dem von der Beklagten eingeholten Gutachten vom 13. Februar 2019 ausreichende Invaliditätsfeststellungen dar.

a.

Die Fristenregelungen in § 1 Ziff. 1 VB-Unfall Invalidität 2008 bzw. 1999, an deren Wirksamkeit weder unter dem Gesichtspunkt der Angemessenheit noch unter demjenigen der Transparenz Zweifel bestehen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juni 2012 – IV ZR 39/11, VersR 2012, 1113 mwN. zur inhaltsgleichen Regelung in Nr. 2.1.1.1 AUB 2002), zielen darauf ab, dem Versicherer eine Grundlage für die Überprüfung seiner Leistungspflicht zu bieten; außerdem sollen schwer aufklärbare Spätschäden ausgegrenzt werden. Das Versäumen der Fristen, deren Einhaltung nach den Bedingungen als Anspruchsvoraussetzung ausgestaltet ist, führt daher selbst dann zum Leistungsausschluss, wenn den Versicherungsnehmer daran kein Verschulden trifft (vgl. BGH, Urteil vom 1. April 2015 – IV ZR 104/13, VersR 2015, 617; Urteil vom      7. März 2007 – IV ZR 137/06, VersR 2007, 1114, auch zur Wirksamkeit der Klausel; Senat, Urteil vom 11. Januar 2017 – 5 U 78/14; Urteil vom 16. Februar 2011  – 5 U 147/09).

Nach dem dargestellten Zweck der Fristenregelung richtet sich auch der notwendige Inhalt der Invaliditätsfeststellung, an welchen keine hohen Anforderungen zu stellen sind (BGH, Urteil vom 7. März 2007 – IV ZR 137/06, aaO.). Die ärztliche Invaliditätsfeststellung muss die Schädigung und den Bereich, auf den sich diese auswirkt, sowie die Ursachen, auf denen der Dauerschaden beruht, so umreißen, dass der Versicherer bei seiner Leistungsprüfung vor der späteren Geltendmachung völlig anderer Gebrechen oder Invaliditätsursachen geschützt wird und stattdessen den medizinischen Bereich erkennen kann, auf den sich die Prüfung seiner Leistungspflicht erstrecken muss (BGH, Urteil vom 1. April 2015 – IV ZR 104/13, VersR 2015, 617). Gemessen an diesem Zweck muss die Invaliditätsfeststellung aber weder präzise Angaben zu Umfang und Ursache des Dauerschadens enthalten, noch braucht sie hinsichtlich der Feststellung der Unfallbedingtheit eines bestimmten Dauerschadens überhaupt richtig zu sein (BGH, Urteil vom 1. April 2015 – IV ZR 104/13, aaO.; Urteil vom 7. März 2007 – IV ZR 137/06, VersR 2007, 1114). Allerdings muss sie in der Sache bestätigen, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung voraussichtlich auf Dauer bestehen bleiben wird (vgl. BGH; Urteil vom 7. März 2007, aaO.).

b.

Nach diesen Grundsätzen fehlt in den ärztlichen Bescheinigungen vom 28. November 2018, 4. Januar 2019 und 22. Januar 2019 – was auch der Kläger einräumt – eine Aussage zur Dauerhaftigkeit der dort festgehaltenen Beeinträchtigungen des Klägers. Vielmehr werden lediglich zum Untersuchungszeitpunkt bestehende Befunde beschrieben (Druckschmerz, Bewegungseinschränkung, bewegungsabhängige Schmerzen), wohingegen zu der Frage, ob diese Befunde voraussichtlich auf Dauer bestehen bleiben werden, keine Aussage getroffen wird. Die bloße Befunderhebung genügt indes den Anforderungen an eine ärztliche Invaliditätsfeststellung nicht, weil gerade die ärztliche Bewertung, dass die Beeinträchtigung (voraussichtlich) dauerhaft sein wird, vorgenommen werden muss (Senat, Urteil vom 27. April 2016 – 5 U 36/15, r+s 2017, 370; Urteil vom 20. Juni 2007 – 5 U 70/07, VersR 2008, 199).

2.

Auch in dem von der Beklagten eingeholten Gutachten des Herrn Dr. F1 wird keine auf die behaupteten Unfallereignisse zurückgeführte Invalidität des Klägers festgestellt. Zwar nimmt der Gutachter maßgeblich wegen des von ihm festgestellten Impingementsyndroms (Einengung des Gelenkspalts) in der rechten Schulter eine Minderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Arms gemäß der Gliedertaxe von 1/20 Armwert an, die er möglicherweise auch für voraussichtlich dauerhaft bestehend hält, auch wenn dies in dem Gutachten nicht ausdrücklich ausgesprochen wird. Ob der Arzt die Prognose einer dauerhaften Beeinträchtigung stellen wollte, ist zweifelhaft, weil er mehrfach betont, es handele sich bei den beschriebenen Befunden um die von ihm bei seiner Untersuchung aktuell festgestellten Beeinträchtigungen (Gutachten vom 13. Februar 2019, S. 7 = Bl. 168 d. A.: „Am heutigen Tag bestehen die unten aufgeführten Gesundheitsstörungen“ bzw. „Die Gesundheitsstörungen führen aktuell zu einer Minderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Arms“). Es kann indes dahinstehen, ob dem Gutachten die Aussage entnommen werden kann, es handele sich um voraussichtlich dauerhafte Beeinträchtigungen. Denn das Gutachten enthält jedenfalls deswegen keine Invaliditätsfeststellung gemäß § 1 Ziff. 1 VB-Unfall Invalidität 2008 bzw. 1999, weil der Gutachter einen Zusammenhang der von ihm festgestellten Beeinträchtigungen mit den behaupteten Unfallereignissen nicht – wie erforderlich, vgl. BGH, Urteil vom 1. April 2015 – IV ZR 104/13, VersR 2015, 617 Rz. 22; Senat, Urteil vom 20. Juni 2007 – 5 U 70/07, VersR 2008, 199; OLG Hamm, r+s 2001, 481 – bejaht, sondern ausdrücklich verneint.

3.

Schließlich liefern die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen auch nicht unter Berücksichtigung des Gutachtens von Herrn Dr. F1 die ärztliche Feststellung einer unfallbedingten Invalidität. Es mag zwar grundsätzlich denkbar sein, dass sich die Feststellungen zweier Ärzte in zwei verschiedenen Attesten in der Weise ergänzen, dass sich (erst) in der Zusammenschau beider Berichte die Feststellung einer unfallbedingten Invalidität ergibt. Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor, weil sich die ärztlichen Bescheinigungen nicht ergänzen, sondern einander widersprechen: Während die den Kläger behandelnden Ärzte W. und Dr. F. einen Zusammenhang der von ihnen beschriebenen Verletzungen bzw. Beeinträchtigungen des Klägers mit den behaupteten Unfallereignissen herstellen, sich aber nicht zur Dauerhaftigkeit dieser Beeinträchtigungen äußern, schließt der Gutachter Dr. F1 einen solchen Zusammenhang mit dem Unfall – auch im Sinne einer bloßen Mitursächlichkeit – ausdrücklich aus. Die Umgrenzungsfunktion der ärztlichen Invaliditätsfeststellung würde konterkariert, wenn man die Zusammenführung einzelner Elemente verschiedener ärztlicher Feststellungen zu einer nur fiktiven Gesamtfeststellung ausreichen lassen würde. Denn es wäre dann der Beliebigkeit überlassen, welche Einzelelemente herausgegriffen und zusammengefügt werden. So wie der Kläger hier meint, die Unfallabhängigkeit seiner Beeinträchtigungen der einen und deren Dauerhaftigkeit der anderen ärztlichen Bescheinigung entnehmen zu können, wäre es dann in gleicher Weise möglich, aus dem Attest des Arztes W. nur das Fehlen der Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigungen und aus dem Gutachten F1 deren Unfallunabhängigkeit zu folgern.

4.

Der Beklagten ist es auch nicht nach Treu und Glauben versagt, sich auf das Fehlen einer Invaliditätsfeststellung zu berufen. Sie verhält sich damit nicht widersprüchlich, und sie hat beim Kläger auch kein Vertrauen dahingehend erweckt, er müsse eine Invaliditätsfeststellung nicht (mehr) vorlegen.

a.

Die Berufung des Versicherers auf den Ablauf der Frist zur ärztlichen Feststellung der Invalidität kann im Einzelfall rechtsmissbräuchlich sein, sodass die Versäumung der Frist dem Versicherungsnehmer nicht schadet. Das kommt namentlich dann in Betracht, wenn dem Versicherer bereits vor Fristablauf ein Belehrungsbedarf des Versicherungsnehmers hinsichtlich der zu wahrenden Frist deutlich wird, er aber gleichwohl eine solche Belehrung unterlässt (BGH, Urteil vom 23. Februar 2005 – IV ZR 273/03, VersR 2005, 639). Insbesondere kann der Versicherer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu einer zusätzlichen (erläuternden) Belehrung verpflichtet sein, wenn der Versicherte trotz des Hinweises nach § 186 VVG im Unklaren ist, was von ihm zur Geltendmachung und Wahrung seiner Ansprüche zu veranlassen ist. Das kann etwa der Fall sein, wenn der Versicherer innerhalb der Frist erkennt, dass der Versicherte Invalidität geltend machen will, das von ihm vorgelegte ärztliche Attest den Anforderungen an eine ärztliche Invaliditätsfeststellung aber nicht genügt oder gar gänzlich fehlt (vgl. Senat, Urteil vom 27. April 2016 – 5 U 36/15, zfs 2018, 575; OLG Dresden, VersR 2019, 1280; OLG München, VersR 2012, 1116; OLG Naumburg, VersR 2013, 229; Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl., § 186 Rn. 11 und Ziff. 2 AUB 2014 Rn. 30; Rixecker in Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl., § 186 Rn. 12).

b.

Gemessen hieran verhält sich die Beklagte nicht treuwidrig, und der Kläger konnte auch nicht darauf vertrauen, Leistungen ohne die Vorlage einer ärztlichen Invaliditätsfeststellung zu erhalten.

(1)

Die Beklagte hat zwar eine medizinische Begutachtung des Klägers zu der Frage veranlasst, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine durch die behaupteten Unfallereignisse verursachte Invalidität besteht, obwohl zu diesem Zeitpunkt – wie ausgeführt – eine Invalidität beim Kläger nicht ärztlich festgestellt war und es mithin an einer wesentlichen Voraussetzung für einen Anspruch des Klägers auf eine Invaliditätsleistung fehlte. Die Beklagte hat aber allein durch die Erteilung des Gutachtenauftrages nicht auf diese Anspruchsvoraussetzung verzichtet, weil sie damit noch nicht zum Ausdruck gebracht hat, an den Kläger in jedem Fall unabhängig von deren Vorliegen Leistungen erbringen zu wollen. Sie hat vielmehr lediglich ihre Bereitschaft gezeigt, den Kläger bereits vor Ablauf der Fristen für die Invaliditätsfeststellung und Geltendmachung von Invaliditätsansprüchen medizinisch begutachten zu lassen. Einen weitergehenden Erklärungswert kann man ihrem Handeln nicht beimessen, zumal ein – ohnehin nur konkludenter – Verzicht auf das Vorliegen einer Anspruchsvoraussetzung hier fernlag, weil völlig offen war, ob beim Kläger eine Invalidität eingetreten war. Nachdem das eingeholte Gutachten einen Zusammenhang zwischen den Beeinträchtigungen des Klägers und den behaupteten Unfallereignissen mit Deutlichkeit verneint hatte, kann es der Beklagten nicht als Verstoß gegen die Grundsätze von Treu und Glauben angelastet werden, wenn sie aufgrund dieses Gutachtens von einer weiteren Leistungsprüfung Abstand nahm und vom Kläger verlangte, er müsse wie jeder andere Versicherte auch die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Invaliditätsleistung – darunter eine fristgerechte ärztliche Invaliditätsfeststellung – beibringen.

(2)

Soweit durch die frühzeitige Einholung des Gutachtens die Beklagte bei dem Kläger ein Vertrauen dahingehend erweckt haben sollte, er müsse sich nicht (mehr) um eine fristgerechte ärztliche Invaliditätsfeststellung bemühen, hat die Beklagte rechtzeitig deutlich gemacht, dass sie an diesem Erfordernis festhält. Nachdem nämlich die Beklagte in den Schreiben vom 16. Juli 2019 den Kläger nochmals auf die einzuhaltenden Fristen hingewiesen hatte, konnte es für diesen nicht zweifelhaft sein, dass die Beklagte auf Vorlage einer fristgerechten Invaliditätsfeststellung bestehen würde, die auch noch unschwer nachgeholt werden konnte, da noch fast ein halbes Jahr (Ereignis vom 10. April 2018) bzw. über ein Jahr (Ereignis vom 25. Dezember 2018) der Frist offenstand. Soweit nach den Bedingungen des Vertrages mit den Endziffern -5347 die Frist zur Invaliditätsfeststellung (15 Monate) bei Versand der Schreiben vom 16. Juli 2019 bereits abgelaufen war, hätte die Beklagte sich an den von ihr selbst in diesem Schreiben genannten Fristen festhalten lassen müssen, so dass auch insoweit eine Feststellung innerhalb der in dem Schreiben genannten Frist (bis zum 10. Januar 2020) genügt hätte, um die Anspruchsvoraussetzungen für eine Versicherungsleistung wegen Invalidität zu schaffen.

5.

Ohne Erfolg rügt die Berufung schließlich, das Landgericht habe seine Hinweispflicht aus § 139 Abs. 2 ZPO verletzt, weil es seine Rechtsauffassung, es fehle an einer fristgerechten ärztlichen Feststellung der Invalidität, nicht – wie von § 139 Abs. 4 Satz 1 ZPO gefordert – frühzeitig offengelegt habe, so dass dem Kläger die Möglichkeit genommen worden sei, noch auf eine fristgerechte ärztliche Feststellung hinzuwirken. Zwar stellt die fristgerechte ärztliche Feststellung nach der Ausgestaltung der hier einschlägigen Versicherungsbedingungen eine Anspruchsvoraussetzung dar, deren Vorliegen das Gericht von Amts wegen (und nicht lediglich auf Rüge des Gegners) zu prüfen hat (vgl. OLG Karlsruhe, r+s 2017, 205; Knappmann in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl., AUB 2014 Ziff. 2, Rn. 32). Die Hinweispflicht des Gerichts aus § 139 Abs. 2 ZPO dient jedoch nicht dazu, es einer Partei zu ermöglichen, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines streitgegenständlichen Anspruchs erst zu schaffen. Vielmehr sind Anregungen des Gerichts an eine Partei, die materielle Rechtslage zu verändern, unzulässig, weil das Gericht damit gegen seine Pflicht zur Unparteilichkeit gegenüber den Beteiligten verstoßen würde (BGH, Beschluss vom 8. März 2012 – I ZB 13/11, BGHZ 193, 21 Rz. 18; Urteil vom 16. Juli 1999 – V ZR 56/98, NJW 1999, 2890).

6.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind. Weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

Der Streitwert für das Berufungsverfahren beträgt 89.500 Euro (§ 48 Abs. 1 GKG i. V. m. § 3 ZPO).

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