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Unfallversicherung – Leistungsausschluss bei Selbststrangulation ohne Suizidabsicht

OLG Nürnberg – Az.: 8 U 2209/18 – Urteil vom 24.10.2019

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 26.09.2018, Az. 31 O 2183/17, wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Regensburg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 273.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung aus einer privaten Unfallversicherung in Anspruch.

I. Seit Versicherungsbeginn am 01.09.2014 hält die Klägerin bei der Beklagten eine private Unfallversicherung, in der ihr Sohn mitversichert ist (vgl. Versicherungsschein, Anlage K1). Der Vertrag sieht im Falle einer unfallbedingten Vollinvalidität die Zahlung einer Invaliditätssumme in Höhe von 273.000,00 € vor. Vereinbart ist die Geltung von AVB nach dem Muster der AUB 2014 (vgl. Anlage B1). Diese sehen insbesondere den folgenden Leistungsausschluss vor:

5.2 Ausgeschlossen sind außerdem folgende Beeinträchtigungen: …

5.2.3 Gesundheitsschäden durch

  • medizinische oder sonstige Eingriffe am Körper der versicherten Person;
  • Heilmaßnahmen.

Versicherungsschutz besteht jedoch, wenn die medizinischen Eingriffe oder Heilmaßnahmen, auch strahlendiagnostische und -therapeutische, durch einen unter diesen Vertrag fallenden Unfall veranlasst waren.

Unfallversicherung - Leistungsausschluss bei Selbststrangulation ohne Suizidabsicht
Ursachen und Folgen der Selbststrangulation in der Unfallversicherung (Symbolfoto: decathlon/Shutterstock.com)

Am 28.05.2016 wurde der Sohn der Klägerin im Treppenhaus des Anwesens der Klägerin mit dem Hals in einer Schlinge an einem Seil hängend vorgefunden, das er zuvor am darüber befindlichen Treppengeländer befestigt hatte. Durch eine Strangulation mit diesem Seil und das Abschneiden der Sauerstoffversorgung erlitt der Sohn der Klägerin eine erhebliche Schädigung des Gehirns. Unmittelbar zuvor hatte sich der Sohn der Klägerin auf seinem Smartphone ein Video angesehen, in dem eine gezielt und freiwillig beigebrachte Strangulation („throatlift“) zu sehen ist.

Wegen des Vorfalls führte die Staatsanwaltschaft Regensburg (Az. 521 UJs 67385/16, vgl. Anlage B4) ein Ermittlungsverfahren durch.

Mit Unfallanzeige vom 01.12.2016 (Anlage B2) machte die Klägerin gegenüber der Beklagten wegen des Vorfalls Ansprüche aus dem streitgegenständlichen Vertrag geltend. Die Beklagte wies ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 16.01.2017 (Anlage B5), bestätigt durch Schreiben vom 10.02.2017 (Anlage B6) und vom 04.09.2017 (Anlage B7) zurück.

Die Klägerin hat erstinstanzlich vorgetragen, ihr Sohn habe bei dem Vorfall weder mit Suizidabsicht noch aus autoerotischen Motiven gehandelt und auch keine Strangulation herbeiführen wollen. Er habe sich auch keine Schlinge um den Hals gelegt. Durch das Wegrollen des Bürostuhls, auf den er gestiegen sei, habe er sich vielmehr unfreiwillig erhängt.

Die Klägerin hat daher erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 273.000,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Die Beklagte hat beantragt: Klageabweisung.

Sie hat sich hierzu insbesondere darauf berufen, dass eine Leistungspflicht bereits deswegen ausgeschlossen sei, weil der Sohn der Klägerin mit Suizidabsicht gehandelt und deswegen die Gesundheitsschädigung nicht unfreiwillig erlitten habe. Jedenfalls sei eine Leistungspflicht nach Ziff. 5.2.3 AVB ausgeschlossen, weil der Sohn der Klägerin zumindest gewollt eine Strangulation herbeigeführt und damit einen Eingriff an seinem Körper vorgenommen habe.

Zudem hat die Beklagte das Vorliegen einer dauerhaften Vollinvalidität bestritten.

I. Das Landgericht hat die Klage durch das angegriffene Ersturteil, auf dessen tatsächliche Feststellungen verwiesen wird (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO), abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt:

Zwar liege ein Versicherungsfall in Form eines Unfalls vor, den die Klägerin innerhalb der vereinbarten Fristen geltend gemacht habe.

Jedoch berufe sich die Beklagte zu Recht auf einen Ausschluss nach Ziff. 5.2.3 AVB. Als Eingriff in diesem Sinn sei eine Handlung zu verstehen, die gezielt und zur Verfolgung eines bestimmten Zwecks vorgenommen werde, um eine Substanzverletzung des Körpers oder zumindest eine Beeinträchtigung körperlicher Funktionen herbeizuführen.

Von einer solchen bewussten Handlung des Sohnes der Klägerin sei auszugehen. Dieser habe sich ein Seil um den Hals geknüpft, wobei der Knoten gekonnt geknüpft gewesen sei. Zuvor habe er gezielt im Internet unter dem Suchbegriff „throatlift“ nach Videos gesucht und sich einen sogenannten Strangulierungsfilm angesehen. Dabei handele es sich um die Darstellung gezielter und gewollter Strangulierungen, die jeweils kurz vor dem Erstickungstod noch beendet würden.

I. Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihre erstinstanzlichen Klageziele vollumfänglich weiter. Zur Begründung führt sie insbesondere aus:

Zu Unrecht sei das Landgericht von einem autoerotischen Eingriff und damit von einem Ausschluss nach Ziff. 5.2.3 AVB ausgegangen. Eine absichtliche Strangulierung habe die Beklagte nicht nachgewiesen. Gegen eine solche spräche vielmehr, dass am Hals des Sohnes der Klägerin weder umlaufende Strangulierungsmerkmale gefunden worden seien noch Beeinträchtigungen des Halswirbels und des Adamsapfels. Zudem sei neben dem Sohn der Klägerin ein umgekippter Stuhl gefunden worden. Es sei daher davon auszugehen, dass es zu der Strangulation ungewollt und nur deswegen gekommen sei, weil der Sohn der Klägerin den Halt auf dem Stuhl verloren habe oder der Stuhl unter ihm weggekippt sei.

Die Klägerin beantragt daher:

1. Das Urteil des Landgerichts Regensburg vom 26.09.2018, Az.: 31 U 2183/17, wird aufgehoben.

2. Die Beklagte und Berufungsbeklagte wird verurteilt, an die Klägerin und Berufungsführerin 273.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % (sic) über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtswenigkeit (sic) zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie führt aus, das Landgericht habe zu Recht einen Eingriff i.S. der Ziff. 5.2.3 AVB im Sinne einer gezielten Selbststrangulation angenommen. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass der Sohn der Klägerin mit dem Anbringen des Seils am Treppengeländer eine tatsächlich gefährliche Situation geschaffen habe. Es sei auch davon auszugehen, dass der Sohn der Klägerin den Stuhl absichtlich weggestoßen habe, um die Strangulation herbeizuführen.

II. Die – zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte – Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Berufung hat weder neue berücksichtigungsfähige Tatsachen vorgetragen (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) noch konkrete Umstände aufgezeigt, welche Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen landgerichtlichen Feststellungen begründen könnten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Es ist daher von dem in dem angefochtenen Urteil dargelegten Tatbestand auszugehen.

Die Berufung trägt auch keine Umstände dafür vor, dass die erstinstanzliche Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 513 Abs. 1, § 546 ZPO). Das angefochtene Urteil stellt sich vielmehr als zutreffend dar.

Auf die zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Urteil wird zunächst verwiesen. Ergänzend ist auszuführen:

II. Zu Recht ist das Landgericht zunächst davon ausgegangen, dass eine gezielt herbeigeführte Selbststrangulation, auch wenn diese nicht in Suizidabsicht erfolgt, den Ausschlusstatbestand der Ziff. 5.2.3 AVB verwirklicht (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2000 – IV ZR 1/00 – r+s 2001, 171). Unerheblich ist dabei, ob die gezielte Strangulation aus autoerotischen oder anderen Motiven erfolgt.

II. Beanstandungsfrei ist das Landgericht auch zu dem Ergebnis gekommen, dass der Sohn der Klägerin die Strangulation, die zu den streitgegenständlichen tragischen Gesundheitsverletzungen geführt hat, selbst gezielt herbeigeführt hat. An diese Feststellung ist der Senat nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden. Konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Vielmehr schließt sich der Senat der Würdigung des Landgerichts an.

a) Zu Recht hat das Landgericht die Umstände, dass der Sohn der Klägerin mit dem Hals in einer zur Strangulation geeigneten Schlinge aufgefunden wurde, dieser unmittelbar zuvor im Internet gezielt nach Videos, die eine gezielte Strangulation zeigen, gesucht hat und sich mindestens ein solches Video auch angesehen hat, als Indizien dafür herangezogen, dass dieser nicht nur eine Szene habe darstellen wollen, die eine vermeintliche oder unmittelbar anstehende Strangulation zeigt, sondern auch tatsächlich eine Strangulation habe herbeiführen wollen. Dafür spricht auch, wie die Beklagte zu Recht ausführt, dass das Seil so befestigt war, dass eine Strangulation tatsächlich erfolgen konnte.

b) Dagegen sprechen die von der Klägerin angeführten Umstände nicht im erheblichen Maße gegen die bewusste Herbeiführung einer Strangulation.

1) So mag der Umstand, dass am Hals des Sohns der Klägerin keine umlaufenden Strangulierungsmerkmale und auch keine Beeinträchtigungen des Halswirbels und des Adamsapfels gefunden wurden, sowohl nach der Wertung in den Ermittlungsakten (vgl. Anlage B4, Seite 5), als auch nach dem Vortrag der Klägerin in der Klageschrift (Seite 3, Bl. 3 d.A.) gegen eine Suizidabsicht sprechen. Eine fehlende Suizidabsicht schließt jedoch ein auf das gezielte Herbeiführen einer – vor dem Eintritt des Erstickungstodes abzubrechenden – Strangulation gerichtetes Handeln gerade nicht aus.

2) Auch der Umstand, dass in der Nähe des Sohns der Klägerin ein nicht umgefallener drehbarer Stuhl aufgefunden worden sei (vgl. Anlage B4, Seite 5), mag erklären, dass der Sohn der Klägerin die Kontrolle über die Situation verloren hat, spricht jedoch nicht dagegen, dass dieser die Strangulation zunächst gezielt herbei geführt hat.

3) Unerheblich wäre dabei, wenn der Sohn der Klägerin während der Ausführung seines Plans die Kontrolle zu einem Zeitpunkt verloren haben sollte, in dem er zwar bereits das Seil mit der Schlinge befestigt gehabt, jedoch noch nicht unmittelbar mit der eigentlichen Strangulation begonnen hatte, und somit statt einer gezielten, gesteuerten Strangulation überholend eine nicht gezielte, ungesteuerte Strangulation stattgefunden hätte. Der genaue Hergang des Unfalls muss daher nicht weiter aufgeklärt werden.

%(1) Der Ausschluss bei Eingriffen soll immer dann greifen, wenn sich deren spezifische Gefahr verwirklicht, auch dann, wenn der Eingriff anders verläuft als ursprünglich geplant oder die Gesundheitsschädigung durch Akte verwirklicht wird, die den Eingriff vorbereiten, begleiten oder diesem nachfolgen (zu medizinischen Heilmaßnahmen: OLG Celle, Urteil vom 19. November 2009 – 8 U 107/09 – r+s 2011, 33; LG Berlin, Urteil vom 18. Juni 2002 – 7 S 8/02 – r+s 2002, 439). Es soll gerade nicht darauf ankommen, ob die Heilmaßnahme planmäßig durchgeführt wird (vgl. Langheid/Wandt/Dörner, VVG, 2. Aufl., § 178 Rn. 172). Der Ausschluss greift nur dann nicht, wenn keinerlei innerer Zusammenhang mit dem Eingriff besteht und der Unfall sich nur anlässlich des Eingriffs zufällig ereignet (OLG Saarbrücken, Urteil vom 8. Mai 1996 – 5 U 508/95-36 – r+s 1996, 507). Es ist kein Grund ersichtlich, diese für medizinische Heilmaßnahmen entwickelten Grundsätze bei anderen Eingriffen nicht anzuwenden. Vielmehr ist die Interessenlage – Abgrenzung des spezifischen Risikos des Eingriffs vom versicherten allgemeinen Lebensrisiko – insofern dieselbe.

%(1) Im Streitfall wäre der erforderliche innere Zusammenhang auch dann gegeben, wenn der Sohn der Klägerin schon während der Vorbereitung der Strangulation die Kontrolle über die Situation verloren haben und hierdurch eine unkontrollierte Strangulation eingeleitet worden sein sollte. Auch in diesem Fall hätte sich offensichtlich die spezifische Gefahr der Herbeiführung einer Strangulation verwirklicht.

4) Es begegnet daher keinen Bedenken, dass das Landgericht den Nachweis eines Eingriffs in Form einer bewusst herbeigeführten Selbststrangulation als geführt angesehen hat.

III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt § 708 Nr. 10, § 709 Satz 2, § 711 ZPO.

IV. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert, § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO.

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