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Private Krankenversicherung – Ersatz von Behandlungskosten nach Treu und Glauben

OLG Karlsruhe – Az.: 12 U 194/22 – Urteil vom 02.02.2023

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 27.05.2022, Az. 21 O 511/17, wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Karlsruhe ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Kranken- und Pflegeversicherungsvertrages (Versicherungsscheinnummer …) die Erstattung von Heilbehandlungskosten.

Die Klägerin erlitt im Jahr 2009 einen Infarkt der linken Koronararterie (LMCA). Ab dem Jahr 2013 bis zum Oktober 2015 befand sie sich in Behandlung bei dem Streitverkündeten, dem Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und Umweltmedizin Dr. W. in Pforzheim. Die Klägerin litt in diesem Zeitraum u.a. an einer Hornhautverkrümmung, latentem Schielen und einem beginnenden grauen Star bei zunehmender Sehverschlechterung; ferner unter extremer muskulärer Verspannung der Halswirbelsäule inklusive beider Schultern, multiplen Blockierungen der Wirbelsäule, einer Rippenblockade mit Bewegungseinschränkungen, einer Atlas- und Axis-Verschiebung sowie einer erheblichen Schmerzsymptomatik und extremen Kopfschmerzen. Zudem bestand eine globale motorische Aphasie (Sprachstörung), eine Kontrastmittelallergie und intermittierendes Vorhofflimmern.

Private Krankenversicherung - Ersatz von Behandlungskosten nach Treu und Glauben
(Symbolfoto: pogonici/Shutterstock.com)

Dr. W. führte bei der Klägerin u.a. eine Photonentherapie und eine hyperbare Ozontherapie durch. Die Beklagte bezahlte die Heilbehandlungskosten für die Behandlungen der Klägerin bei Dr. W. in den Jahren 2013 und 2014, nahm aber jeweils geringe Abzüge vor. Mit Schreiben vom 23.03.2015 (Anlage B2) kündigte die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Prüfung des Leistungsanspruchs an und forderte einen ausführlichen Befund- und Behandlungsbericht sowie eine unterschriebene Einverständniserklärung an.

Für die im Zeitraum Februar 2015 bis Juli 2015 erbrachten Leistungen stellte Dr. W. der Klägerin insgesamt 9.542,95 EUR in Rechnung. Die Beklagte erstattete hiervon 1.679,30 EUR; wegen der übrigen Rechnungspositionen lehnte sie die Kostenerstattung mit Schreiben vom 28.10.2015 und auf erneute Aufforderung durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit weiterem Schreiben vom 19.06.2017 ab.

Die Klägerin hat geltend gemacht, sämtliche abgelehnten Leistungen seien medizinisch notwendig gewesen und die Kosten daher von der Beklagten zu erstatten. Zudem verhalte sich die Beklagte treuwidrig, nachdem sie die streitgegenständliche Behandlung zuvor unbeanstandet erstattet und die streitgegenständlichen Rechnungen erst nach siebenmonatiger Prüfungszeit abgelehnt habe.

Die Klägerin hat beantragt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 7.863,65 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 16.06.2017 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 729,23 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat eingewandt, die von ihr nicht erstatteten Behandlungen seien überwiegend nicht medizinisch notwendig gewesen und es handle sich auch nicht um alternative Methoden, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt hätten.

Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 4.234,78 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 20.06.2017 zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Aufgrund der eingeholten Sachverständigengutachten aus den Fachbereichen der Neurologie (Prof. Dr. M.), der Augenheilkunde (Prof. Dr. R.), der Orthopädie (Prof. Dr. S.), der Inneren (Dr. Wi.) und der alternativen Medizin (Prof. Dr. We.) ist das Landgericht zu der Überzeugung gelangt, dass nur Kosten im Umfang von 322,77 EUR auf medizinisch notwendige Behandlungen im Sinne der Versicherungsbedingungen zurückgingen und deshalb von der Beklagten zu übernehmen seien. Weitere 4.013,77 EUR habe die Beklagte aber nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu erstatten. Die Klägerin habe auf die Übernahme der weiteren Behandlungskosten vertrauen dürfen, nachdem die Beklagte sämtliche Behandlungskosten in den Jahren 2013 und 2014 bezahlt habe. Der Vertrauenstatbestand sei erst durch das Schreiben der Beklagten vom 23.03.2015 beendet worden, mit dem die Beklagte eine Überprüfung des Leistungsanspruchs angekündigt habe. Zu erstatten seien deshalb die Rechnung vom 02.02.2015 (2.078,52 EUR), vom 26.02.2015 (737,99 EUR) und vom 25.03.2015 (1.978,83 EUR), abzüglich erbrachter Teilleistungen (781,57 EUR) insgesamt 4.013,77 EUR.

Die Beklagte akzeptiert die Verurteilung, soweit die Behandlung für medizinisch notwendig erachtet wurde (322,77 EUR), wendet sich mit ihrer Berufung aber gegen die Verurteilung auf Grundlage einer Vertrauenshaftung.

Sie macht geltend, es handle sich um eine inhaltlich fehlerhafte Überraschungsentscheidung. Das Landgericht hätte nicht eine Vielzahl von Sachverständigengutachten einholen müssen, um am Ende einen Anspruch aus Vertrauenshaftung zu bejahen. Die Entscheidung sei fehlerhaft, weil die in der Vergangenheit liegende Gewährung von Versicherungsschutz keinen Vertrauenstatbestand schaffe. Der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Versicherungsnehmer verbiete die Schaffung eines derartigen Vertrauenstatbestandes, nachdem alle Gutachter bestätigt hätten, dass die Abrechnung nicht nachvollziehbar sei. Es sei gängige, gar zwingende Praxis, dass der Versicherer nicht stets zu Beginn einer Behandlungsserie eine konkrete Überprüfung vornehme. Überdies sei zu berücksichtigen, dass der Versicherungsnehmer bei Heilbehandlungen mit erwartbaren Kosten über 2.000,00 EUR eine Kostenzusage einholen könne. Davon habe die Klägerin keinen Gebrauch gemacht. Dass ihr Verhalten tatsächlich nicht von einem Vertrauen auf die Erstattung durch die Beklagte bestimmt wurde, zeige sich auch daran, dass sie die Behandlung nach der Ankündigung der Überprüfung zunächst weitergeführt und sie erst nach einem großen Medianinfarkt am 19.10.2015 abgebrochen habe.

Die Beklagte beantragt: Das Urteil des Landgericht Karlsruhe vom 27.05.2022 zum Az.: 21 O 511/17 wird abgeändert und die Klage auch bezüglich des auf Vertrauenshaftung begründeten Betrages von 4.013,77 EUR abgewiesen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Bereits der Umstand, dass die Beklagte die Leistungen nicht schlicht eingestellt, sondern zunächst eine Überprüfung angekündigt habe, lasse erkennen, dass diese selbst davon ausgegangen sei, durch ihr Verhalten einen Vertrauenstatbestand bei der Klägerin geschaffen zu haben. Die Rechtsprechung, auf die sich die Beklagte stütze, betreffe anders gelagerte Sachverhalte. Zur Einholung einer vorherigen Kostenzusage habe im vorliegenden Fall keine Verpflichtung bestanden. Im Übrigen hätten die einzelnen Rechnungen in vielen Fällen deutlich unter der Grenze von 2.000,00 EUR gelegen. Auf den Schutz der Versichertengemeinschaft vor einer Ungleichbehandlung könne sich die Beklagte nicht berufen, da dieser in ihren eigenen Händen gelegen habe.

II.

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

In der Berufung steht außer Frage, dass die Beklagte nach den Versicherungsbedingungen nicht zur Erstattung der noch streitgegenständlichen Behandlungskosten verpflichtet ist. Hierfür ist die medizinische Notwendigkeit der Behandlungen im Sinne des § 1 Abs. 2 RB/KK 2009 maßgeblich. Die Feststellungen, die das Landgericht hierzu aufgrund der eingeholten Gutachten getroffen hat, lassen keine Fehler oder Unvollständigkeiten erkennen, sind von keiner Seite angegriffen und daher nach § 529 Abs. 1 ZPO vom Senat zugrunde zu legen.

Zu Recht hat das Landgericht aber erkannt, dass die Beklagte nach Treu und Glauben zum Ersatz der bis zum 23.03.2015 angefallenen Behandlungskosten verpflichtet ist. Insoweit gilt im Ausgangspunkt, dass die Frage der Leistungspflicht für jede medizinische Behandlung dem Grunde und der Höhe nach neu zu prüfen ist und eine frühere Kostenerstattung grundsätzlich keine Bindungswirkung entfaltet (1.). Gleichwohl kommt ausnahmsweise eine Vertrauenshaftung des Versicherers in Betracht. Entscheidend sind dabei die Umstände des Einzelfalles (2.). Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen erfüllt (3.).

1. Im Ausgangspunkt ist der Versicherer bei einem Kranken- und Pflegeversicherungsvertrag berechtigt, die Frage der Leistungspflicht für jede medizinische Behandlung dem Grunde und der Höhe nach neu zu prüfen, und zwar auch dann, wenn sich der Krankheitszustand des Versicherungsnehmers dem Anschein nach wiederholt. Eine frühere Kostenerstattung für gleichartige Behandlungen entfaltet grundsätzlich keine Bindungswirkung im Hinblick auf die medizinische Notwendigkeit (OLG Köln, Urteil vom 23.12.2014 – 1-20 U 7/14, juris Rn. 11). Einer solchen Bindung steht die vertragliche Risikoverteilung entgegen. Bei der privaten Krankenversicherung handelt es sich um eine Passivenversicherung, bei der die Unsicherheit über den Versicherungsschutz in die Risikosphäre des Versicherungsnehmers fällt (Gramse, in: BeckOK-VVG, Stand. 01.11.2022, § 192 Rn. 54).

Die Versicherungsbedingungen sehen auch kein besonderes Verfahren für die Leistungsprüfung und -anerkennung vor, das ein besonderes Vertrauen in die Kontinuität der Versicherungsleistungen begründen könnte. Der Versicherungsnehmer kann zwar einerseits davon ausgehen, dass der Versicherer Leistungsanträge im eigenen Interesse prüft und Ansprüche zurückweist, soweit sie aus seiner Sicht unbegründet sind; er muss aber andererseits auch damit rechnen, dass der Versicherer im Massengeschäft unter Umständen aus Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten auf eine Einzelfallprüfung verzichtet. Angesichts dessen kann der Versicherungsnehmer einer Kostenerstattung nicht entnehmen, in welchem Umfang und welcher Intensität der Versicherer den Anspruch geprüft hat. Der Leistung des Versicherers kommt nur ausnahmsweise der Charakter eines Anerkenntnisses zu (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 18.10.2012 – 3 U 278/11, juris Rn. 9-12), und der Versicherungsnehmer kann grundsätzlich auch nicht darauf vertrauen, dass künftige Prüfungen mit demselben Ergebnis enden werden (vgl. OLG Frankfurt, a.a.O., juris Rn. 15).

Hinzu kommt, dass sich die Einschätzung im Zeitverlauf ändern kann: Eine Behandlung kann zu Beginn einer Krankheit für notwendig erachtet werden, im weiteren Verlauf aber nicht mehr – etwa, wenn sich die Krankheit verändert oder sich die Behandlung im konkreten Fall als unwirksam erweist (vgl. OLG Köln, Urteil vom 11.02.1998 – 5 U 139/97, juris Rn. 12) –, und umgekehrt. Anders als etwa bei der Berufsunfähigkeitsversicherung (§§ 8, 9 AVB-BU) wird dieses Risiko bei der Krankenversicherung nicht dadurch ausgeglichen, dass der Versicherer eine Erklärung über die Anerkennung der Leistungspflicht abzugeben hat, von der er sich nicht ohne Weiteres wieder lösen kann.

Stattdessen wird der Risikobelastung des Versicherungsnehmers in der Krankenversicherung dadurch begegnet, dass ihm Auskunfts- und Feststellungsansprüche zugestanden werden (Gramse, in: BeckOK-VVG, Stand. 01.11.2022, § 192 Rn. 54; Sauer, in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 6. Aufl., § 6 MB/KK Rn. 5f.; Voit, in: Prölss/Martin, VVG. 31. Aufl., § 192 VVG Rn. 77a f.). Selbst wenn der Versicherer Auskünfte erteilt – was hier nicht der Fall war –, ist deren Bindungswirkung begrenzt (vgl. zur umstrittenen Rechtslage zu § 192 Abs. 8 VVG Voit, in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl., § 192 Rn. 77g; Gramse, in: BeckOK-VVG, Stand. 01.11.2022, § 192 Rn. 203; Wiemer, in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 6. Aufl., § 192 Rn. 259; Heyer, VersR 2016, 421, 425f.). Auch in dem – hier nicht einschlägigen – Sonderfall der Kostenerstattung für Aufenthalte in gemischten Anstalten, die nach § 4 Abs. 5 MB/KK eine vorherige Zusage des Versicherers voraussetzt, erwächst dem Versicherungsnehmer aus einer früheren Zusage grundsätzlich kein Anspruch darauf, dass der Versicherer auch für weitere gleichartige Behandlungen einsteht (OLG Frankfurt vom 28.06.2006 – 7 U 9/05, juris Rn. 8; OLG Nürnberg, 23.02.1995 – 8 U 2536/94, juris Rn. 9-11; Weidensteiner, in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 6. Aufl. § 4 MB/KK Rn. 194; Ausnahmekonstellationen: AG Wetter, Urteil vom 22.03.2010 – 8 C 194/07, juris Rn. 32; OLG Hamm, Urteil vom 14.07.1993 – 20 U 79/93, juris Rn. 9; dazu Rogler, jurisPR-VersR 7/2012 Anm. 4).

Zu berücksichtigen ist schließlich, dass der Vertrauensschutz nach § 242 BGB nur in der Funktion als Abwehrrecht allgemein anerkannt ist (Sutschet, in: BeckOK-BGB, Stand: 01.08.2022, § 242 Rn. 52f.: „Schild, nicht Schwert“).

2. Trotz alledem ist eine solche anspruchsbegründende Wirkung des § 242 BGB aber nicht kategorisch ausgeschlossen, zumal die Grenzen zwischen rechtsversagender und rechtsbegründender Funktion bisweilen fließend sind (Schubert, in: Münchener Kommentar-BGB, 9. Aufl., § 242 Rn. 220, 249; Kähler, in: BeckOGK-BGB, Stand: 15.09.2022, § 242 Rn. 544ff.; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, BGB (2019), Stand: 31.08.2022, § 242 Rn. 225). Hierzu sind unter dem Begriff der „Erwirkung“ Konstellationen anerkannt, die mit der vorliegenden vergleichbar sind, insbesondere die betriebliche Übung, oder werden diskutiert, wie die Zahlung von Unterhaltsansprüchen über einen längeren Zeitraum ohne rechtlichen Grund (Looschelders/Olzen, in: Staudinger, BGB (2019), Stand: 31.08.2022, § 242 Rn. 191; 317; 825ff.). Dabei sind unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters strenge Anforderungen hinsichtlich des Umstandsmoments bzw. bei der Würdigung der Interessenlage zu stellen (Schubert, in: Münchener Kommentar-BGB, 9. Aufl., § 242 Rn. 545). Diesen besonderen Anforderungen ist das Versicherungsverhältnis grundsätzlich zugänglich, da der Grundsatz von Treu und Glauben im Versicherungsrecht eine überragende Bedeutung hat (BGH, Urteil vom 28.11.1963 – II ZR 64/62, juris Rn. 4; Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl., Einl. Rn. 245).

Angesichts dessen hat das Landgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass die vorbehaltlose Kostenerstattung über einen längeren Zeitraum grundsätzlich geeignet ist, beim Versicherungsnehmer das berechtigte Vertrauen darauf zu wecken, dass auch in Zukunft eine Erstattung weiter erfolgen werde. Entgegen dem angegriffenen Urteil genügt dies aber nicht in jedem Fall, um eine Leistungspflicht des Versicherers zu begründen. Selbst wenn die Bindungswirkung zeitlich begrenzt wird bis zum Zeitpunkt des erstmaligen Hinweises des Versicherers, die medizinische Notwendigkeit nunmehr überprüfen zu wollen, oder bis zur erstmaligen Leistungsablehnung (LG Köln, Urteil vom 20.02.2013 – 23 O 275/11, juris Rn. 14), wird eine derart schematische Betrachtung dem Ausnahmecharakter der Konstellation nicht gerecht. Ein auf § 242 BGB gestützter Anspruch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten ist nur unter besonderen Voraussetzungen zu bejahen (Rogler, in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, 4. Aufl., 2022, § 192 Rn. 51; Rogler, jurisPR-VersR 1/2011 Anm. 4). Hierzu bedarf es stets einer konkreten Prüfung im Einzelfall.

In der dabei gebotenen Interessenabwägung kann etwa die Frage zu berücksichtigen sein, wie sehr das Vertrauen des Versicherungsnehmers auf die Kostenerstattung seine Entscheidung zugunsten der durchgeführten Behandlung beeinflusst hat. Je stärker der Versicherungsnehmer auf die Kostenerstattung angewiesen war und seine Entscheidung davon abhängig machte, und je deutlicher dies für den Versicherer erkennbar war, desto schutzwürdiger ist sein Vertrauen. Von Bedeutung kann auch sein, ob der Versicherungsnehmer Anlass für die Annahme hatte, dass der Versicherer die Kostenerstattung eingehend geprüft hatte, ob der Versicherungsnehmer eine solche Prüfung – etwa nach § 192 Abs. 8 VVG – angestoßen hat, oder ob er dies vorwerfbar versäumt hat. Für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens spielt es auch eine Rolle, ob Krankheit und Behandlung im Wesentlichen gleich blieben. Insbesondere dann, wenn von einem einheitlichen Versicherungsfall auszugehen ist (vgl. dazu Wiemer, in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 6. Aufl., § 1 MB/KK Rn. 161f.), liegt eine Bindung des Versicherers näher als bei verschiedenen Versicherungsfällen, unterschiedlichen Krankheiten oder teilweise abweichenden Behandlungen.

3. Nach diesen Maßstäben ist es im vorliegenden Fall unter Abwägung aller Umstände gerechtfertigt, der Beklagten die Verpflichtung zur Erstattung der bis zum 23.03.2015 angefallenen Kosten aufzuerlegen.

Mit ihrem Erstattungsverhalten über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren (2013 und 2014) und in erheblichem Umfang hat die Beklagte ein schutzwürdiges Vertrauen bei der Klägerin hervorgerufen. Nach unbestrittenem Vortrag der Klägerin blieben Krankheit und Behandlungsmethoden im fraglichen Zeitraum durchweg gleich. Dasselbe gibt für die Behandlungskosten. Deren Umfang hat die Klägerin durch die exemplarische Vorlage der Rechnungen aus dem 2. Halbjahr 2014 belegt (Anlage ArztR4). Diese belaufen sich auf 840,61 EUR (10.06.2014), 1.379,10 EUR und 334,29 EUR (11.08.2014) sowie 1.609,48 EUR (14.10.2014); ihre Gesamtsumme liegt damit in derselben Größenordnung wie die hier noch streitgegenständlichen Rechnungen. Ein äußerer Anlass für die Überprüfung oder Änderung des Abrechnungsverhaltens im Frühjahr 2015 ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Ein besonderes und letztlich das zugunsten der Klägerin ausschlaggebende Gewicht hat der Umstand, dass die Beklagte die in den Jahren 2013 und 2014 eingereichten Rechnungen nicht in vollem Umfang erstattet, sondern – wenn auch geringfügige – Abzüge vorgenommen hat. Das ließ aus der Perspektive der Klägerin erkennen, dass die Beklagte die Frage der medizinischen Notwendigkeit nicht etwa übersehen oder aus wirtschaftlichen Erwägungen auf die Überprüfung verzichtet, sondern die Rechnungen geprüft und im Umfang der Erstattung gebilligt hatte. Gegenteiliges hat die Beklagte nicht vorgetragen.

Demgegenüber stellt die Erstattungspflicht in dem vom Landgericht ausgesprochenen Umfang für die Beklagte keine unbillige Härte dar. Die Bindung bleibt sowohl zeitlich als auch in der Höhe eng begrenzt: Zu erstatten sind Kosten im Umfang von insgesamt knapp über 4.000 EUR aus einem Abrechnungszeitraum von zwei Monaten im Februar und März 2015. Das Landgericht hat auch keine überspannten Anforderungen an die Beendigung des Vertrauenstatbestandes gestellt, sondern schon das Schreiben vom 23.03.2015 für ausreichend erachtet, obwohl damit nur Unterlagen angefordert und eine Prüfung angekündigt wurden.

Weitere Umstände, die in der Abwägung zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen wären, lassen sich nicht feststellen. Insbesondere kann sich der Senat nicht davon überzeugen, dass die Klägerin die Behandlung ungeachtet der Frage der Kostenerstattung in jedem Fall in Anspruch genommen hätte. Dafür spräche zwar die Fortsetzung der Behandlung über den Zeitpunkt hinaus, ab dem die Klägerin die Ablehnung weiterer Erstattungsanträge ernsthaft befürchten musste. Zu dieser Befürchtung gab das Schreiben vom 23.03.2015 aber noch keinen hinreichenden Anlass, da es neutral gehalten war und keine Tendenz dazu erkennen ließ, dass die Beklagte die Erstattungsfähigkeit bei unveränderter Sachverhaltsgrundlage anders beurteilen werde als bisher. Aus dem Verhalten der Klägerin ab der erstmaligen Leistungsablehnung im Oktober 2015 lassen sich keine Rückschlüsse ziehen, weil die Klägerin im gleichen Zeitraum einen Medianinfarkt erlitt, der die Fortsetzung der Behandlung ohnehin hinfällig machte. Der Klägerin ist auch nicht vorzuwerfen, dass sie sich nicht nach § 192 Abs. 8 VVG um eine Klärung bemüht hat. Jedenfalls bis März 2015 hatte sie hierzu keinen Anlass, nachdem die Beklagte alle bisherigen Kosten erstattet hatte.

Nach alledem erscheint es in einer Gesamtabwägung aller Umstände gerechtfertigt, der Beklagten wegen der bis zum 23.03.2015 angefallenen Rechnungen die Berufung auf die fehlende medizinische Notwendigkeit nach § 242 BGB zu versagen und ihr die Erstattung der Behandlungskosten aufzuerlegen.

4. Die weiteren Berufungsangriffe sind unerheblich: Ob es sich um eine Überraschungsentscheidung handelt, wird erst relevant, wenn der Berufungsführer daran Folgen knüpft und insbesondere vorträgt, was er im Fall des von ihm vermissten frühzeitigen gerichtlichen Hinweises vorgebracht hätte. Die Beklagte hat aber in der Berufung keine Umstände vorgetragen, die zu einer anderen Entscheidung führen würden. Die von ihr gerügte umfangreiche Aufklärung der medizinischen Notwendigkeit war aus fachlicher Sicht nicht nur aus der Sicht ex ante, sondern auch ex post erforderlich, um die Berechtigung des überschießenden Teils der Klageforderung zu klären. Die Frage, ob eine Beweisaufnahme wirtschaftlich sinnvoll ist, hat sich nicht das Gericht, sondern haben sich die Parteien zu stellen. Diese haben es in der Hand, durch ihre Antragstellung, den Prozessvortrag oder einen Vergleichsabschluss unverhältnismäßig kostspielige Beweiserhebungen anzustoßen oder zu vermeiden.

5. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Anlass, die Revision zuzulassen (§ 543 Abs. 2 ZPO) bestand nicht.

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