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Private Kranken- und Pflegeversicherung – Vertragsbeendigung bei Auslandswohnsitz

Oberlandesgericht Saarbrücken – Az.: 5 U 358/11 – 48 – Urteil vom 14.03.2012

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 24.08.2011 – Az: 12 O 215/10 – abgeändert und festgestellt, dass der Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsvertrag, Vers.-Nr. KV ~0 nach den Tarifen AD1, ZN3, SM6, PVN, ARE und R10 des Klägers mit der Beklagten unverändert, also über den 31.12.2008 hinaus bis heute fortbesteht. Außerdem wird die Beklagte verurteilt, an den Kläger 899,40 EUR zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 12.498,86 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger verlangt die Feststellung des Fortbestandes seiner früheren Krankheitskosten- und Pflegepflichtversicherung und hilfsweise die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, ihm ab dem 01.10.2009 wieder Versicherungsschutz im früheren Umfang zur Verfügung zu stellen.

Der Kläger unterhielt bei der Beklagten eine Krankheitskosten- und Pflegeversicherung nach den Tarifen AD1, ZM3, SM6, PVN, ARE und R10 unter der Versicherungsnummer KV ~0. Dieser lagen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die Krankheitskostenversicherung der Beklagten zugrunde, die in § 15 Nr. 3 lauten: Verlegt eine versicherte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Staat als die in § 1 Abs. 5 genannten, endet insoweit das Versicherungsverhältnis, es sei denn, dass es aufgrund einer anderen Vereinbarung fortgesetzt wird … Bei nur vorübergehender Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts … kann verlangt werden, das Versicherungsverhältnis in eine Anwartschaftsversicherung umzuwandeln (Bl. 31 d. A.). In den AVB zur Pflegepflichtversicherung ist in § 15 Nr. 3 geregelt, dass das Versicherungsverhältnis mit der Verlegung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland endet, es sei denn, dass eine besondere Vereinbarung getroffen wird. Ein diesbezüglicher Antrag ist spätestens innerhalb eines Monats nach Verlegung zu stellen. Der Versicherer verpflichtet sich, den Antrag anzunehmen, wenn er innerhalb der vorgenannten Frist gestellt wurde (Bl. 53 d. A.).

Aus beruflichen Gründen hielt sich der Kläger im Zeitraum vom 15.09.2008 bis zum 31.08.2009 in der Türkei auf. Im Jahr 2008 zog die Beklagte weiter den monatlichen Beitrag in Höhe von 371,99 EUR vom Kläger ein. Mit Schreiben vom 04.01.2009 (Bl. 7 d. A.) teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er seit dem 15.09.2008 in der Türkei wohne und er trotz seines Antrags, seine Tarife in den Tarif AVL, der nur 38,30 EUR kosten solle, umzustellen, von der Beklagten nichts gehört habe. Er bat, dies schnellstmöglich zu erledigen. Der Tarif AVL ist ein Auslandstarif. Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 26.01.2009, in dem sie dem Kläger die Aufhebung seines Versicherungsvertrages bestätigte (Bl. 8 d. A.). Den Abschluss eines Vertrages mit dem Auslandstarif AVL lehnte sie mit Schreiben vom 29.01.2009 ab (Bl. 108 d. A.).

Nach dem Ende der beruflichen Tätigkeit des Klägers in der Türkei im August 2009 bezog der Kläger Arbeitslosengeld II. Er schloss zum 01.09.2009 einen neuen Kranken- und Pflegeversicherungsvertrag bei der Beklagten zum Basistarif (BTN und PVN) unter der Versicherungsnummer KV ~4.

Der Kläger hat behauptet, er habe aus beruflichen Gründen nur vorübergehend in der Türkei gewohnt. Er sei zwischendurch immer wieder in Deutschland gewesen. In einem früheren Telefonat sei ihm von der Beklagten erklärt worden, dass der AVL Tarif immer eine Anwartschaftsversicherung beinhalte.

Die Beklagte hat behauptet, der Kläger habe am 22.12.2008 telefonisch mitgeteilt, dass er in die Türkei ziehe. Der Kläger sei in diesem Gespräch auf die Möglichkeit, die Versicherung in eine Anwartschaftsversicherung umzuwandeln, hingewiesen worden. Einen Antrag habe er aber nicht gestellt.

Der Kläger hat ursprünglich die Feststellung verlangt, dass seine frühere Krankheitskosten- und Pflegeversicherung über den 31.12.2008 hinaus als Anwartschaftsversicherung weiter besteht.

Das Landgericht Saarbrücken hat die Klage durch Urteil vom 24.08.2011 – Az: 12 O 215/10 – abgewiesen. Dagegen hat der Kläger Berufung eingelegt und zunächst die Feststellung beantragt, dass der Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsvertrag (Vers.-Nr. KV ~0) nach den Tarifen AD1, ZN3, SM6, PVN, ARE und R10 über den 31.12.2008 hinaus im Rahmen einer Anwartschaftsversicherung bis zum 30.09.2009 weiterbestand und insbesondere nicht durch Schreiben der Beklagten vom 26.01.2009 beendet worden ist, und die Beklagte verpflichtet ist, ihm ab dem 01.10.2009 wieder Versicherungsschutz im Umfang der Vers.-Nr. KV ~0 nach den Tarifen AD1, ZN3, SM6, PVN, ARE und R10 zur Verfügung zu stellen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 08.02.2012 hat der Kläger seine Klage geändert und beantragt nun, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Saarbrücken

1. festzustellen, dass der Krankheitskostenversicherungs- und Pflegeversicherungsvertrag (Vers.-Nr. KV ~0) mit den Tarifen AD1, ZN3, SM6, PVN, ARE und R10 zwischen ihm und der Beklagten unverändert fortbesteht und insbesondere nicht durch Schreiben vom 04.01.2009 erloschen ist,

2. hilfsweise festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab dem 01.10.2009 wieder Versicherungsschutz im Umfang der Vers.-Nr. KV ~0 nach den Tarifen AD1, ZN3, SM6, PVN, ARE und R10 zur Verfügung zu stellen,

3. die Beklagte zu verurteilen, an ihn vorgerichtlich entstandene Rechtsanwaltsvergütung von 899,40 EUR zu zahlen, hilfsweise ihn hiervon freizustellen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil.

II.

Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Das Urteil des Landgerichts beruht auf einer Verletzung des Rechts. Die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung. In der Berufungsinstanz war über die zuletzt gestellten Anträge zu entscheiden (§§ 263, 264, 267, 533 ZPO).

Die Pflegeversicherung ist rechtlich unabhängig von der Krankheitskostenversicherung (KG, R+S 2000, 122; Prölss in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl., § 178 b Rdn. 13). Streitigkeiten sind von den Sozialgerichten zu entscheiden, allerdings ist das Zivilgericht nach § 17 a Abs. 2 GVG zuständig, wenn die erste Instanz ihre Zuständigkeit angenommen hat (OLG Karlsruhe, VersR 2006, 1625; KG, R+S 2000, 122). Deshalb ist auch über die Pflegeversicherung zu entscheiden.

(1.)

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung, dass der Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsvertrag, Vers.-Nr. KV ~0 nach den Tarifen AD1, ZN3, SM6, PVN, ARE und R10 des Klägers mit der Beklagten unverändert, also über den 31.12.2008 hinaus bis heute fortbesteht.

(a)

Dieser Vertrag zwischen den Parteien endete im Jahr 2008 nicht durch die berufliche Tätigkeit des Klägers und seinen Aufenthalt in der Türkei nach § 15 Nr. 3 AVB Krankenversicherung und § 15 Nr. 3 AVB Pflegeversicherung.

Beide Paragraphen sehen ein Ende des Versicherungsverhältnisses vor, wenn der Versicherungsnehmer bzw. die versicherte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einen Staat verlegt, der kein Mitglied der Europäischen Union ist oder ein Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum. Dazu gehört die Türkei nicht.

Dabei ist es ohne Belang, ob der Wegzug nur vorübergehend ist. § 15 Nr. 3 AVB Krankenversicherung umfasst diesen Fall ausdrücklich. Dies folgt aus S. 2, der dem Versicherungsnehmer bei einer nur vorübergehenden Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ausdrücklich das Recht gewährt, das Versicherungsverhältnis auf Antrag in eine Anwartschaftsversicherung umzuwandeln. Das heißt im Umkehrschluss, dass es bei der Beendigung des Versicherungsverhältnisses bleibt, solange der Versicherungsnehmer keine Umwandlung verlangt.

Auch § 15 Nr. 3 AVB Pflegeversicherung betrifft den Fall des nur vorübergehenden Wegzuges. Denn auch er regelt ein Antragsrecht, binnen eines Monats nach Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts eine besondere Fortsetzungsvereinbarung zu treffen. Das ist nur sinnvoll, wenn die Verlegung des Aufenthalts vorübergehend erfolgt, weil die Pflegeversicherung nur Leistungen bei einem Aufenthalt in Deutschland gewährt (§§ 1, 5 AVB Pflegeversicherung).

Der „gewöhnliche Aufenthalt“ ist der Ort, an dem der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person, ihr Daseinsmittelpunkt, liegt. Zu fordern ist nicht nur ein Aufenthalt von nicht geringer Dauer. Vielmehr ist das Vorhandensein weiterer Beziehungen zu dem Aufenthaltsort zu verlangen, speziell in familiärer oder beruflicher Hinsicht, in denen – im Vergleich zu einem sonst in Betracht kommenden Aufenthaltsort – der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person zu sehen ist. Dieser Begriff unterscheidet sich von dem Wohnsitzbegriff wesentlich nur dadurch, dass der Wille, den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen, nicht erforderlich ist. Es handelt sich bei dem gewöhnlichen Aufenthalt somit um einen „faktischen“ Wohnsitz, der ebenso wie der gewillkürte Wohnsitz Daseinsmittelpunkt sein muss. Durch zeitweilige Abwesenheit, auch von längerer Dauer, wird der gewöhnliche Aufenthalt normalerweise nicht aufgehoben, sofern die Absicht besteht, an den früheren Aufenthaltsort zurückzukehren (BGH, Urt. v. 05.02.1975 – IV ZR 103/73 – NJW 1975, 1068; BGH, Beschl. v. 03.02.1993 – XII ZB 93/90 – NJW 1993, 2047).

Das Schreiben des Klägers vom 04.01.2009 an die Beklagte (Bl. 7 d. A.) deutet zwar auf eine solche Aufenthaltsverlegung hin. Der Kläger hat geschrieben, dass er seit dem 15.09.2008 in der Türkei wohne. Auch in der Klageschrift heißt es, dass der Kläger seinen Aufenthaltsort aus beruflichen Gründen in die Türkei verlegt hat. Dies hat er später im Schriftsatz vom 02.08.2011 (Bl. 140 d. A.) relativiert. Er hat behauptet, durchgehend in Deutschland gemeldet gewesen zu sein und eine Wohnung angemietet zu haben (zur Bedeutung dieser Umstände allgemein: LG Kassel, VersR 1988, 842). Tatsächlich hat er eine Kopie eines Mietvertrages ab dem 01.08.2008 in Deutschland vorgelegt (Bl. 162 d. A.) und Verbrauchsabrechnungen (Bl. 168 d. A.), die zeigen, dass Familienangehörige durchgängig in Deutschland wohnten. Außerdem hat sich der Kläger nach seinem Vortrag – gegen den nichts spricht – nur aus beruflichen Gründen vom 15.09.2008 bis zum 13.10.2008 und vom 28.11.2008 bis 31.08.2009 (bis auf Weihnachten/Silvester und Geburtstage) in der Türkei aufgehalten.

Die glaubhaften Erklärungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat stehen im Einklang mit den objektiven Umständen, der vorgelegten Meldebescheinigung und dem Mietvertrag. Danach wohnten die Frau des Klägers und die drei gemeinsamen Kinder ununterbrochen in Deutschland. Die Kinder gingen – soweit sie schon schulpflichtig waren – in Deutschland in die Schule. Der Kläger hat in der Türkei keine eigene Wohnung bezogen, sondern in der Wohnung eines Bekannten übernachtet, der im Immobiliengeschäft tätig war und mit dessen Hilfe der Kläger berufliche Kontakte knüpfen wollte.

Die berufliche Tätigkeit des Klägers in der Türkei war – nach seinen Angaben – nicht gefestigt, sondern bestand lediglich in dem Versuch, festzustellen, ob er türkische Immobilien in Deutschland bewerben könne. Eine Umsiedlung mit der gesamten Familie in die Türkei hat der Kläger – wie er vorträgt – nie beabsichtigt.

Diese Feststellungen rechtfertigen nicht die Annahme, der Kläger habe seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Jahr 2008 in die Türkei verlegt. Zwar hat er sich längere Zeit in der Türkei aufgehalten. Der Kläger hat aber keine Beziehungen zu seinem Aufenthaltsort in der Türkei aufgebaut, in denen der Schwerpunkt seiner Bindungen zu sehen ist. Seine gesamten familiären Bindungen bestanden weiterhin in Deutschland zu seiner Ehefrau und seinen drei Kindern. Auch hat der Kläger keine Wohnung – nicht einmal vorübergehend – in der Türkei bezogen, sondern hat bei einem Bekannten gewohnt. Schließlich ist nicht erkennbar, dass im Zeitraum von November 2008 bis August 2009 ernsthafte berufliche Bindungen in der Türkei entstanden sind. Außerdem war die angestrebte Tätigkeit im Immobiliengeschäft nicht auf eine ausschließliche Tätigkeit in der Türkei gerichtet, sondern auf eine Vermittlung türkischer Immobilien in Deutschland, so dass der Kläger auch beruflich zu keinem Zeitpunkt den Kontakt zu Deutschland aufgegeben hat. Auch in der Zeit von November 2008 bis August 2009 lag sein Daseinsmittelpunkt folglich nicht in der Türkei.

Auf diese objektive Tatsachenlage kommt es an, nicht auf Erklärungen des Klägers gegenüber der Beklagten bzw. darauf, wie die Beklagte diese Erklärungen verstehen konnte. Es muss deshalb nicht aufgeklärt werden, was der Kläger der Beklagten Ende Dezember 2008 in einem Telefonat gesagt bzw. was er im Januar 2009 geschrieben hat, um den Wechsel in den Auslandstarif zu beantragen. Daraus ergeben sich lediglich Indizien für die objektive Tatsachenlage, die in den bisherigen Ausführungen bereits berücksichtigt sind.

(b)

Das Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien ist auch nicht durch das Schreiben der Beklagten vom 26.01.2009 beendet worden. § 15 Nr. 3 AVB Krankenversicherung und § 15 Nr. 3 AVB Pflegeversicherung sehen automatische Beendigungsgründe vor, abhängig vom objektiven Vorliegen ihrer Voraussetzungen, nicht aber ein Kündigungs- oder sonstiges einseitiges Aufhebungsrecht für die Beklagte. Dementsprechend wollte die Beklagte im Schreiben vom 26.01.2009 auch keine rechtsgeschäftliche Erklärung abgeben, wie ihre Formulierung „…bestätigen wir Ihnen …“ zeigt. Dies hat die Beklagte im Schreiben vom 08.02.2010 auch klargestellt (Bl. 17 d. A.).

Auch durch das Schreiben des Klägers vom 04.01.2009 (Bl. 7 d. A.) ist das Versicherungsverhältnis zwischen den Parteien nicht beendet worden. Der Kläger hat darin lediglich die Umstellung seines Tarifs beantragt, was die Beklagte abgelehnt hat. Eine Vertragsänderung ist deshalb nicht zustande gekommen.

(c)

Schließlich ist durch den Abschluss des neuen Krankenversicherungsvertrags bei der Beklagten zum Basistarif (BTN) unter der Versicherungsnummer KV ~4 zum 01.09.2009 der frühere Vertrag nicht beendet worden. Es gibt keine Willenserklärung des Klägers, die auf die Beendigung seines früheren Versicherungsvertrages gerichtet ist. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass sein früherer Krankenversicherungsvertrag noch fortbestand.

Folge davon ist das Vorliegen einer Mehrfachversicherung, die nach den §§ 79 Abs. 1, 194 Abs. 1 VVG n. F. nichts an der Fortgeltung des früheren Vertrages ändert. Vielmehr kann der Versicherungsnehmer die Aufhebung des später geschlossenen Vertrages verlangen.

(2.)

Über den Hilfsantrag braucht deshalb nicht mehr entschieden zu werden. Es kommt somit nicht mehr entscheidend darauf an, dass selbst bei Annahme der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthaltsorts im Jahr 2008 in die Türkei der Kläger von der Beklagten verlangen könnte, dass sie ihm wieder den früheren Krankenversicherungsschutz gewährt.

Zwar wäre dann das streitgegenständliche Versicherungsverhältnis zunächst beendet worden. Allerdings hätte der Kläger nach § 15 Nr. 3 AVB Krankenversicherung die Möglichkeit gehabt, das Versicherungsverhältnis in eine Anwartschaftsversicherung umzuwandeln bzw. später wieder das alte Versicherungsverhältnis fortzusetzen. Durch diese Regelung soll den Bedenken des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 22.01.1992 – IV ZR 59/91 – BGHZ 117, 92) Rechnung getragen werden, die er gegen die automatische Beendigung der Krankentagegeldversicherung bei Wegfall der Versicherungsfähigkeit geäußert hat.

Hätte der Kläger eine Anwartschaftsversicherung beantragt bzw. später statt des Abschlusses der neuen Versicherung Nr. ~4 die Fortsetzung des alten Vertrages verlangt, hätte die Beklagte diese bedingungsgemäß abschließen und diese später wieder in eine Vollversicherung umwandeln bzw. die alte Versicherung auf Antrag fortsetzen müssen. Mangels entgegenstehender Angaben ist davon auszugehen, dass das Vertragswerk der Beklagten einen solchen Wechsel vorsieht. Die in § 15 Nr. 3 AVB Krankenversicherung und § 15 Nr. 3 AVB Pflegeversicherung vorgesehene Anwartschaftsversicherung bzw. besondere Vereinbarung ist nicht näher konkretisiert. Vom Sinn einer Anwartschaftsversicherung, dem Versicherungsnehmer die bisher erworbenen Rechte zu erhalten, kann jedoch auf eine solche Verpflichtung der Beklagten geschlossen werden. In der Krankheitskostenversicherung dient die Anwartschaftsversicherung der Erhaltung der Altersrückstellungen, dem Erhalt des Eintrittsalters für die Prämienberechnung und der Verhinderung einer erneuten Gesundheitsprüfung (siehe dazu allgemein: Rudolph in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 4. Aufl., § 8 MB/KK Rdn. 67; Boetius in: Münch-Komm(VVG), 2009, Vor § 192 Rdn. 613).

Aus dieser Bedingungslage folgte eine Beratungspflicht der Beklagten, die im Dezember 2008 einsetzte, als der Kläger bei ihr anrief und mitteilte, „in die Türkei zu gehen“. Zu diesem Zeitpunkt galt § 6 VVG n. F. nach Art. 1 Abs. 1 EGVVG noch nicht. Aber auch vor Einführung des § 6 VVG n. F. hat die Rechtsprechung Beratungspflichten des Versicherers anerkannt. Danach wurde der Versicherer für verpflichtet gehalten, den zukünftigen Vertragspartner über alle Umstände aufzuklären, die für dessen Entschließung von wesentlicher Bedeutung sein konnten. Der Umfang dieser vorvertraglichen Aufklärungspflicht ergab sich aus der dem Aufklärungspflichtigen erkennbaren Interessenlage. Der Versicherer hatte dann aufzuklären, wenn er erkennen oder mit der nahe liegenden Möglichkeit rechnen musste, dass der Antragsteller aus mangelnden versicherungsrechtlichen oder versicherungstechnischen Kenntnissen nicht die für ihn zweckmäßigste Vertragsgestaltung eigenständig auswählen konnte. Auch nach Vertragsschluss trafen den Versicherer Hinweispflichten, wenn für ihn erkennbar war, dass der Versicherungsnehmer einer Belehrung bedurfte, weil er über einen für ihn wesentlichen Vertragspunkt – wie etwa über die Reichweite des bestehenden Versicherungsschutzes – irrige Vorstellungen hatte (BGH, Urt. v. 13.04.2005 – IV ZR 86/04 – VersR 2005, 824).

Dieser Umfang der Beratungspflicht beruht auf der zutreffenden Erwägung, dass der Versicherer nach Treu und Glauben immer dann eine besondere Information schuldet, wenn der Versicherungsnehmer aufgrund der Komplexität des Wagnisses oder der Versicherungsbedingungen nicht in der Lage ist, sich selbst Klarheit über seine Sicherung zu verschaffen, während dies dem Versicherer unschwer möglich ist (Senat, Urt. v. 20.09.1995 – 5 U 1054/94-98 – r+s 1997, 208).

Voraussetzung einer Beratungspflicht ist in jedem Fall, dass der Versicherungsnehmer die Beratung benötigt, er also nicht in ausreichendem Maße sachkundig ist bzw. sich nicht, auch durch die erforderliche Lektüre übersichtlicher Versicherungsbedingungen, selbst informieren kann (BGH, Urt. v. 18.12.1991 – IV ZR 299/90 – VersR 1992, 217; Prölss in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., § 6 Rdn 22; Armbrüster in: MünchKomm(VVG), § 6 Rdn. 31).

Nach diesen Grundsätzen traf die Beklagte eine Beratungspflicht gegenüber dem Kläger, seine erworbenen Rechte aus dem laufenden Krankheitskostenvertrag nicht wegen einer vorübergehenden Wohnsitzverlegung verloren gehen zu lassen. Der Kläger hatte sich mit einem konkreten Beratungsanliegen an die Beklagte gewandt und dieser einen Sachverhalt geschildert, der zu einer Beendigung der Krankheitskostenversicherung führen konnte. Die Beklagte musste den Kläger darauf hinweisen und ihm die in § 15 Nr. 3 AVB vorgesehene Möglichkeit, eine Anwartschaftsversicherung abzuschließen, mit ihren Vor- und Nachteilen vor Augen führen. Es kann von einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht erwartet werden, dass er die Vorteile einer ununterbrochenen Krankheitskostenversicherung kennt oder bei Lektüre der Allgemeinen Versicherungsbedingungen erfasst. Dazu ist das Produkt Krankheitskostenversicherung zu kompliziert und die Regelungen über die Altersrückstellungen, das Eintrittsalter und die Möglichkeit einer erneuten Gesundheitsprüfung für einen versicherungsrechtlichen Laien ohne deutliche Erklärung aus den Vertragsunterlagen bei einfacher Lektüre nicht zu verstehen. Hinzu kommt die Wichtigkeit der Krankheitskostenversicherung für eine soziale Absicherung. Schließlich ist die Beratung durch den Versicherer auch ohne Aufwand zu leisten. Die Beklagte hätte lediglich in dem Schreiben vom 26.01.2009 (Bl. 8 d. A.) auf die Möglichkeit einer Anwartschaftsversicherung hinweisen müssen und dem Kläger die Nachteile kurz aufführen können, die ihm drohten, wenn er später ohne zwischenzeitliche Anwartschaftsversicherung erneut eine Krankenversicherung abschließen will (zu den Aufklärungspflichten hinsichtlich der Möglichkeit, eine Anwartschaftsversicherung abzuschließen: LG Stuttgart, VersR 2002, 835).

Die Beklagte konnte dem Kläger die Vorteile einer Anwartschaftsversicherung bzw. die Nachteile eines Versicherungsendes auch auf andere Weise deutlich vor Augen führen. Dazu hat sie behauptet, dem Kläger sei telefonisch mitgeteilt worden, dass er eine Anwartschaftsversicherung abschließen könne. Darüber hat sie einen Gesprächsvermerk vorgelegt (Bl. 107 d. A.). Als Zeugen hat sie ihren Mitarbeiter S. (Bl. 259 d. A.) benannt. Über den Inhalt der Beratung, also die Darlegung der Vor- und Nachteile einer Anwartschaftsversicherung – und das ist das Wesentliche – hat sie allerdings nichts gesagt. Selbst wenn aber zugunsten der Beklagte unterstellt wird, dass sie den Kläger im Dezember 2008 ordnungsgemäß auf die Möglichkeit, eine Anwartschaftsversicherung abzuschließen, hingewiesen hat, musste die Beklagte den Kläger auch im Jahr 2009 bei Abschluss des neuen Vertrages zum Basistarif (BTN) unter der Versicherungsnummer KV ~4 beraten. Nach Art. 1 Abs. 1 EGVVG galt zu diesem Zeitpunkt § 6 VVG n. F. Hatte der Kläger die Anwartschaftsversicherung noch nicht beantragt und war die Krankheitskostenversicherung nach § 15 Nr. 3 der AVB Krankenversicherung wegen Wegzuges in die Türkei beendet, gilt sogar § 6 Abs. 1 VVG n. F. (Beratung und Dokumentation). In jedem Fall gilt § 6 Abs. 4 VVG n. F.

Weil in § 15 Nr. 3 der AVB Krankenversicherung keine Frist für den Antrag auf Abschluss einer Anwartschaftsversicherung bestimmt wird, konnte der Kläger seinen ursprünglichen Vertrag im Jahr 2009 unter Nachentrichtung der Beiträge für den Zeitraum einer bloßen Anwartschaft wieder aufleben lassen. Es ist zwar für den Versicherer möglich, eine Frist für den Antrag auf Abschluss der Anwartschaftsversicherung in den AVB zu bestimmen (Wilmes in: Bach/Moser, Private Krankenversicherung, 4. Aufl., § 15 MB/KT Rdn. 5). Macht der Versicherer von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, spricht nichts dagegen, die Anwartschaftsversicherung rückwirkend zu beantragen, sogar erst in dem Zeitpunkt, in dem gleichzeitig wieder das Aufleben zur Vollversicherung beantragt wird. Ob dies zeitlich grenzenlos gilt, kann offen bleiben. Jedenfalls nach rund 9 Monaten kann der Versicherungsnehmer nach dem Wortlaut von § 15 Nr. 3 der AVB Krankenversicherung nicht erkennen, dass er keine Möglichkeit mehr zur Fortsetzung des früheren Krankenversicherungsvertrages mehr hat. Der Kläger hätte also bei richtiger Beratung auch noch im September 2009 die Fortsetzung seines früheren Krankheitskostenversicherungsvertrages beantragen können.

Dass die Beklagte den Kläger über diese Möglichkeit beraten hat, hat sie nicht behauptet. Dazu war sie aber nach den oben aufgeführten Grundsätzen, die für § 6 VVG n. F. in gleichem Maße gelten, verpflichtet.

Die Beklagte müsste den Kläger folglich so stellen, als hätte er nach entsprechender Beratung zum 01.10.2009 keine neue Krankheitskostenversicherung abgeschlossen, sondern seinen alten Vertrag zu den aktuellen Prämien fortgesetzt – unter Nachentrichtung der Anwartschaftsprämien für die Vergangenheit ab dem 01.01.2009.

Für die Kausalität ist entscheidend, ob der Kläger bei richtiger Beratung ab dem 01.10.2009 seinen früheren Vertrag als Vollversicherung weitergeführt hätte.

Dann hätte er zwar die vollen Prämien zahlen müssen, hätte aber umfangreichere Leistungsansprüche gehabt. Dass der Kläger die finanziellen Möglichkeiten dazu gehabt hätte, zeigt sein Klageziel. Der Kläger erstrebt die Fortsetzung des früheren Vertrages, was lediglich sinnvoll ist, wenn er dauerhaft die entsprechenden Prämien aufbringen kann. Außerdem gilt der Grundsatz des beratungsrichtigen Verhaltens, der zur Anwendung gelangt, wenn eine bestimmte Entschließung des zutreffend informierten Vertragspartners im Hinblick auf die Interessenlage oder andere objektive Umstände mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (BGH, Urt. v. 19.07.2011 – VI ZR 367/09 – VersR 2011, 1276). Dem folgend ist davon auszugehen, dass der Kläger sich seine Altersrückstellungen, das günstigere Eintrittsalter und die Verhinderung einer erneuten Gesundheitsprüfung nicht hätte entgehen lassen.

(3.)

Der Anspruch des Klägers auf Ersatz außergerichtlicher Anwaltskosten folgt aus den §§ 280, 286 BGB.

(4.)

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Der Kläger hat mit seiner Klage insgesamt obsiegt, obwohl er seine Anträge mehrmals umgestellt hat, weil er wirtschaftlich stets dasselbe Ziel bei gleichbleibendem Streitwert verfolgt hat.

Der Streitwert ist entsprechend der 3,5-fachen Jahresprämien abzüglich eines Feststellungsabschlags von 20 % festzusetzen (allgemein: BGH, Beschl. V. 09.11.2011 – IV ZR 37/11 – ZfS 2012, 100).

Die Revision wird mangels der Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht zugelassen.

 

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