Spannung zwischen Neuvertrag und Altvertrag in der Berufsunfähigkeitsversicherung
In der immer wieder komplexen und verwirrenden Welt der Berufsunfähigkeitsversicherungen kann das Zustandekommen und die Auslegung von Versicherungsverträgen zu ernsthaften Unstimmigkeiten führen. Das zeigt der Fall, der beim Landgericht Verden unter dem Aktenzeichen 8 O 240/20 verhandelt wurde. Das Kernproblem dieses Falls war die Frage, wie die Vereinbarungen über die Auflösung eines bestehenden Vertrages und den Abschluss eines neuen Versicherungsvertrages zu interpretieren sind.
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Übersicht
Komplexer Sachverhalt, weitreichende Konsequenzen
Die beteiligten Parteien hatten ursprünglich im Jahr 2015 eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen, die eine monatliche Rente von 1.000,00 € im Falle einer 50-prozentigen Berufsunfähigkeit vorsah. Im Jahr 2016 beantragte die Klägerin jedoch eine zusätzliche Berufsunfähigkeitsversicherung, die eine höhere monatliche Rente vorsah. Hierbei wurde handschriftlich festgehalten, dass der bestehende Vertrag bei Annahme dieses Antrags aufgehoben werden sollte.
Vorläufige Deckungszusage und ihre Auswirkungen
Im Rahmen des neuen Antrags fand auch eine erneute Gesundheitsprüfung der Klägerin statt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Konzept der vorläufigen Deckung in der Versicherungswelt. Die vorläufige Deckungszusage soll den Versicherungsnehmer vor Risiken schützen, die sich zwischen Antragstellung und Annahme des Antrags durch den Versicherer ergeben könnten. Im vorliegenden Fall wurde dieser Aspekt besonders relevant.
Vertragliche Überschneidungen und ihre Folgen
Die Kernfrage des Verfahrens war, ob der alte Vertrag tatsächlich aufgehoben wurde, als die Klägerin den Antrag auf den neuen Vertrag stellte. Die Auslegung dieser Frage hatte erhebliche Auswirkungen auf die Ansprüche der Klägerin aus der Versicherung. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Beklagte dazu verpflichtet ist, der Klägerin verschiedene Beträge und Renten zu zahlen, die sich aus beiden Verträgen ergeben.
Übernahme der vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Urteils ist die Frage der vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren. Das Gericht entschied, dass die Beklagte dazu verpflichtet ist, die Klägerin von diesen Gebühren freizustellen. Dies zeigt, wie weitreichend die finanziellen Konsequenzen eines solchen Rechtsstreits sein können und unterstreicht die Bedeutung einer klaren Vertragsgestaltung und Kommunikation in der Versicherungsbranche.
Das vorliegende Urteil
LG Verden – Az.: 8 O 240/20 – Urteil vom 06.10.2021
1.) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 12.039,30 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.11.2020 zu zahlen.
2.) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine (weitere) monatliche Rente, zahlbar monatlich im Voraus, bis zum 3. Werktag eines jeden Monats i.H.v. 271,44 € ab dem 01.10.2020 bis einschließlich 30.11.2020 zu zahlen.
3.) Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ab 01.12.2020 eine (weitere) monatliche Rente, zahlbar monatlich im Voraus, bis zum 3. Werktag eines jeden Monats i.H.v. 1.000,00 € (inklusive Überschuss) abzüglich anerkannter 700,00 € zuzüglich Überschussbeteiligung zu zahlen, längstens bis 31.10.2044.
4.) Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren ihres Prozessbevollmächtigten i.H.v. 2.085,95 € freizustellen.
5.) Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
6.) Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
7.) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Ansprüche aus einer vorläufigen Deckung zu einer Berufsunfähigkeitsversicherung.
Die Parteien schlossen am 12.10.2015, mit Wirkung ab dem 01.12.2015 und einem Leistungsende bis zum 30.09.2042, eine selbstständige Berufsunfähigkeitsversicherung. Diese Versicherung wird unter der Versicherungsscheinnummer … geführt. Vereinbart war eine monatliche Rente von 1.000,00 € ab Eintritt 50-%-iger Berufsunfähigkeit. Wegen der weiteren Einzelheiten dieser Versicherung wird auf den Versicherungsschein Bl. 73 ff d.A. Bezug genommen.
Am 26.09.2016 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine weitere Berufsunfähigkeitsversicherung, die eine monatliche Rentenzahlung im Falle der Berufsunfähigkeit i.H.v. 1.700,00 € vorsah. Im Antrag haben die Parteien als „besondere Vereinbarungen“ Folgendes handschriftlich vermerkt:
„Vertrag … soll bei Annahme dieses Antrages aufgehoben werden.“
Diese Wiederholung haben die Parteien auch im Beratungsprotokoll vom 26.09.2016 festgehalten. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Anlagen Bl. 49 bzw. Bl. 53 d.A. Bezug genommen. Versicherungsbeginn sollte der 01.11.2016, das Leistungsende der 31.10.2044 sein. Zudem fand eine erneute Gesundheitsprüfung (s. Bl. 51 d. A.) der Klägerin statt.
Für den Antrag vom 26.09.2016 schlossen die Parteien einen Vertrag über den vorläufigen Versicherungsschutz. Die Beklagte bestätigte diesen vorläufigen Versicherungsschutz unter Hingabe der dafür geltenden Bedingungen (s. Bl. 22 d. A.). Nach den Bedingungen sollte der vorläufige Versicherungsschutz mit dem Tag beginnen, an dem der Antrag bei der Beklagten eingeht. Zudem ist in § 1 der AVB Folgendes vereinbart:
„2. Der vorläufige Versicherungsschutz erstreckt sich auch auf die für den Fall der Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit beantragten Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherung – auch als Zusatzversicherung –. Wir erbringen bei Eintritt einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit während der Dauer des vorläufigen Versicherungsschutzes, wenn uns die Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit innerhalb von 3 Monaten seit ihrem Eintritt angezeigt worden ist, folgende Leistungen:
a) Eine Berufsunfähigkeits-/Erwerbsunfähigkeitsrente, sofern eine Rentenleistung beantragt wurde;
b) Beitragsbefreiung für die Hauptversicherung und die eingeschlossenen Zusatzversicherungen, sofern die Hauptversicherung zustande gekommen ist.
In jedem Fall enden die Leistungen bei der Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit mit dem Ablauf der für diese Versicherungen jeweils beantragten Leistungsdauer.
3. Bei Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit beträgt die Höchstrente inklusive Überschuss 12.000,00 € jährlich; die Beitragsbefreiung gilt für einen Gesamtbeitrag von höchstens 1.500,00 € jährlich.“
In der Folgezeit beantragte die Klägerin am 27.04.2017 (s. Bl. 122 ff. d.A.) wegen psychischer Erkrankungen Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung ab dem 31.01.2017. Mit Datum vom 02.06.2017 teilte die Klägerin (s. Bl. 142 d.A.) der Beklagten mit, dass sie Leistungen aus dem vorläufigen Versicherungsschutz in Anspruch nehmen müsse und bat um Zusendung entsprechender Unterlagen.
Am 24.05.2017 lehnte die Beklagte den Antrag auf Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung gemäß Antrag vom 26.09.2016 ab. Sie kündigte den vorläufigen Versicherungsschutz.
Mit Schreiben vom 13.07.2017 (s. Bl. 59 d.A.) lehnte die Beklagte etwaige Leistungen aus dem vorläufigen Versicherungsschutz ab und führte aus, der Vertrag sei nicht zustande gekommen, so dass Ansprüche daraus nicht geltend gemacht werden könnten.
Mit Schreiben vom 17.05.2019 wandte sich die Beklagte an die Klägerin, bezogen auf die Berufsunfähigkeitsversicherung aus dem Jahr 2015, und führte aus, dass die Leistungspflicht ab dem 01.02.2017 anerkannt wird (s. Anlage K 5, Bl. 24 d.A.). Mit Schreiben vom 18.07.2019 wandte sich die Beklagte an den ersten anwaltlichen Vertreter der Klägerin, Herrn Rechtsanwalt …, und bestätigte, dass Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung aus dem Jahr 2015 erfolgen. Hinsichtlich des Vertrages gemäß Antrag vom 26.09.2016 wiederholte die Beklagte ihre Auffassung, dass dieser Vertrag nicht zustande gekommen sei, so dass auch keine Ansprüche hergeleitet werden könnten.
Die Klägerin beauftragte am 22.08.2019 den hiesigen Prozessbevollmächtigten mit der außergerichtlichen Rechtsvertretung, der sich mit Schreiben vom 05.09.2019 an die Beklagte mit der Bitte um Zusendung diverser Unterlagen wandte. Die Klägerin begehrt mit dem Antrag zu 4. die entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren, die ihr gegenüber abgerechnet worden sind.
Am 25.11.2019 teilte die Beklagte dem Klägervertreter mit, dass der Versicherungsfall nicht innerhalb der vereinbarten Frist angezeigt worden sei. Außerdem sei der Antrag vom 26.09.2016 unter der Bedingung gestellt worden, dass der ursprüngliche Berufsunfähigkeitsversicherungsvertrag aufgehoben werden soll. Diese Bedingung sei nicht eingetreten. Leistungen wurden abgelehnt.
Mit Schreiben vom 20.05.2020 wandte sich die Beklagte erneut an den Klägervertreter und erkannte nunmehr an, dass die Voraussetzungen für den vorläufigen Versicherungsschutz vorliegen würden. Die Rentenhöhe sei allerdings auf 12.000,00 € begrenzt. Außerdem führte die Beklagte aus, dass ihrer Ansicht nach die Rente im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung auf 700,00 € zu beschränken sei. Man wäre mit der Klägerin darüber übereingekommen, dass Gegenstand des vorläufigen Versicherungsschutzes nur die Differenz zu der ohnehin bereits versicherten Rente von 1.000,00 € sein sollte. Mithin beziehe sich der gebotene vorläufige Versicherungsschutz allenfalls auf die Differenz zwischen den beiden Berufsunfähigkeitsrenten. Wegen der näheren Einzelheiten dieses Schreibens wird auf die Anlage K 6, Bl. 27 d.A., Bezug genommen.
Mit weiterem Schreiben vom 27.05.2020 der Beklagten gerichtet an die Klägerin bestätigte die Beklagte gegenüber der Klägerin die Gewährung der Leistungen aus dem vorläufigen Versicherungsschutz und erkannte eine Leistungspflicht ab dem 01.02.2017 über eine Rentenhöhe von 700,00 € zuzüglich der Überschussbeteiligung an. Wegen der näheren Einzelheiten dieses Schreibens wird auf die Anlage 7, Bl. 56 d. A., Bezug genommen.
Der Klägervertreter wandte sich letztmalig mit außergerichtlichem Schreiben vom 18. Juni 2020 an die Beklagte und forderte diese zur Zahlung einer Rente von 1.000 €/Monat aus dem Vertrag über den vorläufigen Versicherungsschutz auf.
Die Klägerin meint, dass ein monatlicher Betrag von 1.000,00 € bzw. eine Jahresrente von 12.000,00 € geschuldet sei. Es handele sich um zwei rechtlich selbstständige Verträge, denn es sei ein völlig neuer Vertrag mit erneuter Gesundheitsprüfung und abweichenden Bedingungen angeboten worden. Der alte Vertrag habe bei Abschluss des neuen Vertrages aufgehoben werden sollen. Die Versicherungsbedingungen enthielten in § 1 Nr. 3 eine konkrete Leistungsangabe, so dass eine ergänzende Vertragsauslegung nicht in Betracht komme.
Die Klägerin beantragt,
1.) die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 12.039,30 € nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
2.) die Beklagte wird verteilt, an die Klägerin eine (weitere) monatliche Rente, zahlbar monatlich im Voraus, bis zum 3. Werktag eines jeden Monats i.H.v. 271,44 € ab dem 01.10.2020 bis einschließlich 30.11.2020 zu zahlen,
3.) es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ab 01.12.2020 eine (weitere) monatlich Rente, zahlbar monatlich im Voraus, bis zum 3. Werktag eines jeden Monats i.H.v. 1.000,00 € (inklusive Überschuss) abzüglich anerkannter 700,00 € zuzüglich Überschussbeteiligung zu zahlen, längstens bis 31.10.2044,
4.) die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.490,52 € vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren zu zahlen
hilfsweise wird insoweit beantragt, die Klägerin von den vorgerichtlichen Kosten freizustellen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte meint, es sei im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung anzunehmen, dass nur der Differenzbetrag von 700,00 € geschuldet sei. Die Klägerin habe mit dem neuen Vertrag den alten Vertrag ersetzen und keinen zusätzlichen Vertrag abschließen wollen. Es fehle zudem an einer Regelung zur Leistungshöhe, so dass eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen sei. Diese ergebe, dass nur der Differenzbetrag zwischen Alt- und Neuvertrag geschuldet sei, weil die Klägerin keine Doppelversicherung gewünscht habe. Hätte die Beklagte den Antrag im September 2016 angenommen, hätte die Klägerin auch nur eine Rente von 1.700,00 € erhalten und nicht – wie jetzt begehrt – von 2.000,00 €. Diese Schlechterstellung sei für die Beklagte nicht hinnehmbar.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Klage ist der Beklagten am 16.11.2020 zugestellt worden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
I.
Der Klägerin steht aus dem Vertrag über den vorläufigen Versicherungsschutz i.V.m. § 1 der AVB ein Anspruch auf Zahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente von 1.000,00 €, gedeckelt auf einen Betrag von 12.000,00 € pro Jahr einschließlich Überschussbeteiligung, seit Eintritt des Versicherungsfalls ab dem 01.02.2017 zu.
1. Die Parteien haben einen eigenständigen Versicherungsvertrag über die Gewährung vorläufigen Versicherungsschutzes bis zur Entscheidung über die Annahme des Antrags vom 26.09.2016 geschlossen.
Die vorläufige Deckung stellt grundsätzlich einen eigenständigen Versicherungsvertrag dar, mit dem die Parteien für einen vorübergehenden Zeitraum Versicherungsschutz bis zum Abschluss des beabsichtigten Hauptvertrages vereinbaren. Der Inhalt dieses Vertrages bestimmt sich nach den jeweiligen Parteivereinbarungen und wird sich im Regelfall weitgehend an dem zu schließenden endgültigen Vertrag anlehnen.
Nach Auslegung des Antrages vom 26.09.2016 – entsprechend dem objektiven Empfängerhorizont – gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Parteien durch zwei rechtlich eigenständige Versicherungsverträge verbunden sind. Dass der alte Vertrag aus dem Jahr 2015 aufgehoben werden sollte, wenn der Antrag aus dem Jahr 2016 angenommen wird, ändert an der rechtlichen Selbstständigkeit beider Verträge nichts. Das Konstrukt der vorläufigen Deckung ist gesetzlich ausdrücklich in § 49 VVG verankert. Mit dem Antrag hat die Klägerin den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu neuen Konditionen beantragt. Die Beklagte hat gleichsam wie bei einem neuen Versicherungsvertrag eine Gesundheitsprüfung der Klägerin vorgenommen. Auch diese Aspekte sprechen für die rechtliche Selbstständigkeit beider Verträge. Letztlich ist dieser Aspekt nach dem Anerkenntnis der Beklagten zur Leistungspflicht dem Grunde nach auch nicht weiter streitig.
2. Aus Sicht der Kammer steht der Klägerin aus diesem Vertrag über den vorläufigen Versicherungsschutz eine Jahresrente einschließlich Überschussbeteiligung von 12.000,00 € zu. Entgegen der Auffassung der Beklagten besteht mangels Lücken der rechtsgeschäftlichen Regelung kein Raum für eine ergänzende Vertragsauslegung.
Die Voraussetzungen für eine derartige ergänzende Vertragsauslegung sind zum einen, dass der Vertrag eine Regelungslücke, d.h. eine planwidrige Unvollständigkeit, enthält. Diese ist gegeben, wenn der Vertrag eine Bestimmung vermissen lässt, die erforderlich ist, um den ihm zugrunde zu legenden Regelungsplan zu verwirklichen. Ohne die Vervollständigung des Vertrages muss eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen sein. In der Regel ist die Lücke darauf zurückzuführen, dass die Parteien an einen bestimmten regelungsbedürftigen Punkt nicht gedacht haben, dass sie eine Regelung nicht für erforderlich hielten oder dass sich die bei Vertragsschluss bestehenden wirtschaftlichen oder rechtlichen Verhältnisse nachträglich geändert haben. Eine Regelungslücke kann allerdings nicht daraus hergeleitet werden, dass sich eine eindeutige Regelung als unbillig erweist (s. Palandt/Ellenberger, 80. Auflage 2021, § 157 Rn. 2).
Aus Sicht der Kammer besteht keine derartige planwidrige Unvollständigkeit des Vertrages über den vorläufigen Versicherungsschutz. Die zu zahlende Berufsunfähigkeitsrente ist nach den Bedingungen für den vorläufigen Versicherungsschutz, wie sie von der Beklagten im Wege allgemeiner Vertragsbestimmungen vorgegeben worden sind, ausreichend bestimmt. Die Regelung in § 1 der AVB lautet u.a.:
„2. Der vorläufige Versicherungsschutz erstreckt sich auch auf die für den Fall der Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit beantragten Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung … Wir erbringen bei Eintritt einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit während der Dauer des vorläufigen Versicherungsschutzes, wenn …, folgende Leistungen:
a) eine Berufsunfähigkeits-/Erwerbsunfähigkeitsrente, sofern eine Rentenleistung beantragt wurde,
b) Beitragsbefreiung für die Hauptversicherung und die eingeschlossenen Zusatzversicherungen, sofern die Hauptversicherung zustande gekommen ist.
In jedem Fall enden die Leistungen bei Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit mit dem Ablauf der für diese Versicherungen jeweils beantragten Leistungsdauern
3. Bei Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit beträgt die Höchstrente inklusive Überschuss 12.000 EUR jährlich; die Beitragsbefreiung gilt für einen Gesamtbetrag von höchstens 1.500 EUR jährlich. …
5. Die Begrenzungen in den Absätzen 1, 3 und 4 gelten auch dann, wenn höhere Leistungen beantragt oder mehrere Anträge auf das Leben derselben Person bei uns gestellt worden sind. …“
Bereits dem Wortlaut dieser Versicherungsbedingungen nach ist ausdrücklich eine Höchstrente inklusive Überschuss von 12.000,00 € jährlich vereinbart worden. Auch für die Beitragsbefreiung ist ein Höchstbetrag von 1.500,00 € jährlich vorgesehen. Zudem ist den Versicherungsbedingungen zu entnehmen, dass die Begrenzungen der Leistungshöhe auch dann gelten, wenn höhere Leistungen beantragt oder mehrere Anträge auf das Leben derselben Person bei der Beklagten gestellt worden sind. Auch daraus ist deutlich zu entnehmen, dass die Beklagte den vorläufigen Versicherungsschutz insoweit angeboten hat, als eine Jahresrente von 12.000,00 € inklusive Überschuss geschuldet war. Die Klägerin hat diesen Antrag auf vorläufigen Versicherungsschutz angenommen. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann man den Wortlaut der Versicherungsbedingungen nicht anders verstehen, zumal auch auf die jeweilige beabsichtigte Hauptversicherung Bezug genommen wird. Zudem ist im Rahmen der Auslegung auch der Sinn und Zweck des vorläufigen Versicherungsschutzes zu berücksichtigen und auch aus diesem folgt, dass der gestellte Antrag vorläufig abgesichert werden soll. Mangels einer entsprechenden Regelungslücke ist demnach schon kein Raum für eine ergänzende Vertragsauslegung wie sie die Beklagte herleiten möchte.
Aus Sicht der Kammer kann sich die Beklagte auch nicht auf eine etwaige Unbilligkeit (§ 242 BGB) zurückziehen, um die ergänzende Vertragsauslegung zu begründen. Dass die Klägerin aufgrund des Bestehens von 2 Verträgen zur Absicherung der Berufsunfähigkeit nunmehr eine höhere Rentenleistung, nämlich 2.000,00 € statt der beabsichtigten 1.700,00 € erhält, ist nicht dem Risikobereich der Klägerin zuzuordnen, sondern beruht allein auf der verzögerten Prüfung zur Antragsannahme durch die Beklagte. Die Beklagte hatte es ohne Weiteres in der Hand, den Antrag vom 26.09.2016 zeitnah zu bescheiden, um die Laufzeit für den Vertrag des vorläufigen Versicherungsschutzes so gering wie möglich zu halten. Dass sie den Antrag tatsächlich erst beschieden hat, nachdem die Klägerin einen Antrag auf Leistung aus der Berufsunfähigkeitsversicherung gestellt hat, ist damit selbst verschuldet, und Gründe für eine deshalb erforderliche Vertragsanpassung sind nicht gegeben.
3. Mithin kann die Klägerin für den Zeitraum 01.02.2017 bis 30.09.2020 weitere 12.039,30 € (Antrag 1) von der Beklagten gezahlt verlangen.
Die Beklagte schuldete in der Zeit vom 01.02.2017 bis zum 30.09.2020 insgesamt 44.000,00 €. Auf diesen Betrag hat die Beklagte für 41 Monate 29.775,00 € gezahlt. Für drei Monate ist zudem eine Zahlung von je 728,56 €, mithin 2.185,68 €, unter Berücksichtigung der Überschussbeteiligung an die Klägerin ausgezahlt worden.
Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
4. Der Klägerin steht für den Zeitraum 01.10. bis 30.11.2020 die Zahlung einer weiteren monatlichen Rente von 271,44 € zu. Dieser Betrag errechnet sich aus der geschuldeten Rente abzüglich der geleisteten Rente von 728,56 €.
5. Die Beklagte ist in der Zukunft bis zum längstens 31.10.2044 auch verpflichtet, der Klägerin eine monatliche Rentenzahlung i.H.v. 1.000,00 € abzüglich anerkannter 700,00 € zu zahlen, und zwar unter Berücksichtigung der Überschussbeteiligung.
II.
Der Anspruch auf Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren i.H.v. 2.085,95 € folgt aus §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB.
Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 13.07.2017 die (Bl. 36 d.A.) Leistungen aus dem vorläufigen Versicherungsschutz mit der Begründung ab, dass der Vertrag nicht zustande gekommen sei und deshalb keine Ansprüche geltend gemacht werden könnten. Aus Sicht der Kammer hat die Beklagte mit diesem Schreiben und zu diesem Zeitpunkt etwaige Leistungen ernsthaft und endgültig verweigert. Zwar sind an das Vorliegen einer endgültigen Erfüllungsverweigerung im Hinblick auf den Zweck der Fristsetzung strenge Anforderungen zu stellen. Allerdings hat die Beklagte mit ihrer eindeutigen Ablehnung der Klägerin gegenüber unmissverständlich, endgültig und ernstlich zum Ausdruck gebracht, dass die Klägerin nicht mehr mit einer freiwilligen Leistung aus dem vorläufigen Versicherungsschutz rechnen kann. Dass die Beklagte in der weiteren Korrespondenz mit Schreiben vom 20.05.2020 zu einer anderen Einsicht gelangte, ändert nichts am Eintritt des Leistungsverzuges. Dieser Leistungsverzug führte dazu, dass die Klägerin zunächst den Rechtsanwalt … und am 22.08.2019 schließlich den Klägervertreter mit der außergerichtlichen Interessenvertretung hinsichtlich der Leistungen aus dem vorläufigen Versicherungsschutz beauftragte. Da die Klägerin ausschließlich die Kosten ihres derzeitigen Prozessbevollmächtigten ersetzt verlangt und nicht vorgetragen worden ist, dass und ob die Beklagte bereits weitere Rechtsanwaltsgebühren hinsichtlich der Ansprüche aus dem vorläufigen Versicherungsschutz erstattet hat, kommt es auf die Frage einer etwaigen Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB) nicht an.
Mithin errechnet sich der Gegenstandswert bei Einschaltung des Prozessbevollmächtigten am 22.08.2019 auf 73.000,00 € (31 Monate a 1.000,00 € zzgl. 42.000,00 € gem. § 9 ZPO). Aus Sicht der Kammer ist dieser Zeitpunkt der außergerichtlichen Beauftragung maßgebend. Zudem ist auf die mittlere Geschäftsgebühr mit einem Faktor von 1,3 abzustellen, denn es ist weder ersichtlich noch ausreichend vorgetragen, dass es sich um eine besonders umfangreiche oder schwierige Angelegenheit gehandelt hat. Mithin errechnet sich ein Betrag von 2.085,95 € (1.732,90 € zzgl. 20 € Auslagen nebst Mehrwertsteuer).
Die Klägerin ist derzeit insoweit lediglich mit einer Verbindlichkeit belastet, so dass dem Hilfsantrag im Schriftsatz vom 19.08.2021 (Bl. 119 d.A.) entsprechend die Freistellung auszusprechen war.
III.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 709 Satz 1, 2 ZPO.