Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Herausforderungen bei Verdachtsdiagnosen in der Kinderkrankenversicherung
- Der Fall vor Gericht
- Die Schlüsselerkenntnisse
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was müssen Eltern bei Verdachtsdiagnosen ihrer Kinder beim Abschluss einer Versicherung beachten?
- Welche rechtlichen Konsequenzen hat das Verschweigen von Verdachtsdiagnosen für den Versicherungsschutz?
- Wie lange kann eine Versicherung vom Vertrag zurücktreten, wenn Verdachtsdiagnosen verschwiegen wurden?
- Welche Anforderungen stellt das Gesetz an die Belehrung über Anzeigepflichten durch die Versicherung?
- Ab welchem Grad der Fahrlässigkeit kann die Versicherung den Vertrag anfechten?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Landgericht Fulda
- Datum: 08.12.2022
- Aktenzeichen: 4 O 78/22
- Verfahrensart: Zivilverfahren über Rücktritt vom Krankenversicherungsvertrag
- Rechtsbereiche: Versicherungsrecht
Beteiligte Parteien:
- Klägerin: Die Mutter einer am 28.07.2016 geborenen Tochter klagt gegen den Rücktritt vom Krankenversicherungsvertrag. Sie argumentiert, dass die Beklagte kein Rücktrittsrecht hatte, da sie alle Antragsfragen wahrheitsgemäß beantwortet habe und zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses kein Autismus bei ihrer Tochter diagnostiziert war.
- Beklagte: Die Krankenversicherung, die den Rücktritt vom Versicherungsvertrag erklärt hat. Sie behauptet, dass die Klägerin bei der Antragstellung falsche Angaben gemacht habe, insbesondere indem sie nicht über den Verdacht auf autistische Züge ihrer Tochter informierte.
Um was ging es?
- Sachverhalt: Die Klägerin hatte für ihre Tochter eine Pflegeversicherungsversicherung abgeschlossen. Bei der Antragstellung im Februar 2019 gab sie keine Erkrankungen oder Verdachtsdiagnosen an; jedoch gab es bereits 2018 Indizien für autistische Züge bei ihrer Tochter, die der Klägerin bekannt gewesen sein sollen. Die Versicherung trat später vom Vertrag zurück, begründet durch eine Anzeigepflichtverletzung.
- Kern des Rechtsstreits: Die zentrale Frage war, ob die Klägerin während der Antragstellung ihre Anzeigepflicht verletzt hat, indem sie den Verdacht auf Autismus nicht offengelegte, und ob der Rücktritt der Versicherung rechtens war.
Was wurde entschieden?
- Entscheidung: Die Klage wurde abgewiesen, und der Rücktritt der Beklagten vom Versicherungsvertrag wurde als wirksam anerkannt.
- Begründung: Das Gericht stellte fest, dass die Klägerin ihre Anzeigepflicht verletzt hat, da sie den Verdacht auf frühkindlichen Autismus ihrer Tochter nicht mitteilte, obwohl dies aus Verschreibungen und medizinischen Berichten hervorging. Die Kammer folgerte, dass die Klägerin zumindest grob fahrlässig handelte, und bestätigte die Rechtswirksamkeit des Rücktritts der Beklagten.
- Folgen: Die Klägerin trägt die Verfahrenskosten, und die Versicherung ist nicht verpflichtet, Leistungen zu erbringen oder den Vertrag fortzuführen. Das Urteil bestätigt die Bedeutung der wahrheitsgemäßen Beantwortung von Gesundheitsfragen bei Versicherungsanträgen.
Herausforderungen bei Verdachtsdiagnosen in der Kinderkrankenversicherung
Die Absicherung des Gesundheitsschutzes für Kinder ist ein zentrales Anliegen vieler Eltern. Eine Kinderkrankenversicherung bietet nicht nur Schutz vor finanziellen Belastungen im Krankheitsfall, sondern ist auch oft Voraussetzung für den Zugang zu bestimmten medizinischen Leistungen. Bei der Antragstellung ist es entscheidend, vollständige medizinische Unterlagen, einschließlich eventueller Verdachtsdiagnosen, bereit zu stellen. Diese Informationen können den Versicherungsschutz beeinflussen und erfordern eine sorgfältige Beurteilung.
Insbesondere bei Verdachtsdiagnosen können Fragen zum Versicherungsrecht auftreten, die für viele Eltern unklar sind. So kann eine ungenaue oder unvollständige Angabe bei der Antragstellung zu Problemen führen, was wiederum die bereitgestellten Versicherungsleistungen für Kinder beschädigen könnte. Im Folgenden wird ein konkreter Fall vorgestellt, der die Herausforderungen bei der Anzeige einer Verdachtsdiagnose im Rahmen eines Krankenversicherungsvertrags für ein Kind untersucht.
Der Fall vor Gericht
Versicherungsvertrag aufgrund verschwiegener Autismus-Verdachtsdiagnose unwirksam

Ein Rücktritt der Versicherung von einem Pflegeversicherungsvertrag für ein dreijähriges Kind wurde vom Landgericht Fulda als rechtmäßig bestätigt. Die Mutter hatte bei Vertragsabschluss im Februar 2019 verschwiegen, dass bei ihrer Tochter bereits im Juli 2018 der Verdacht auf frühkindlichen Autismus dokumentiert worden war.
Verlauf der medizinischen Diagnose und Versicherungsabschluss
Bei einer U7-Untersuchung im Juli 2018 wurde in der Patientenakte „V.a. autistische Züge“ und „[V] (F84.0) Frühkindlicher Autismus“ als Diagnose vermerkt. Im Januar 2019 bestätigte die Klinik den „V.a. Frühkindlicher Autismus“ während eines dreiwöchigen stationären Aufenthalts von Mutter und Kind. Nur wenige Tage nach dieser Behandlung schloss die Mutter online eine private Pflegeversicherung für ihre Tochter ab.
Falsche Angaben im Versicherungsantrag
Im Antragsformular verneinte die Mutter die ausdrückliche Frage nach Behandlungen oder Kontrollen wegen Autismus. Auf Anforderung der Versicherung übermittelte sie nur U-Berichte bis Juli 2017, nicht jedoch den relevanten Bericht von Juli 2018 mit der Verdachtsdiagnose. Ein Monat nach Vertragsabschluss erfolgten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie weitere Tests zur Autismusdiagnostik.
Rücktritt der Versicherung und Gerichtsentscheidung
Als die Mutter im November 2019 Versicherungsleistungen beantragte, trat die Versicherung vom Vertrag zurück. Das Gericht bestätigte die Rechtmäßigkeit des Rücktritts. Nach Überzeugung der Kammer hat die Mutter mindestens grob fahrlässig ihre Anzeigepflicht verletzt. Mehrere Faktoren sprachen gegen ihre Behauptung, vom Autismusverdacht nichts gewusst zu haben: die zeitliche Nähe zwischen Klinikaufenthalt und Vertragsabschluss, die anstehenden Tests in der Psychiatrie sowie die Dokumentation in den Krankenunterlagen.
Bedeutung der Anzeigepflicht
Das Gericht stellte klar, dass auch Verdachtsdiagnosen hätten angegeben werden müssen. Der Hinweis im Antragsformular, dass nur „Vorsorgeuntersuchungen ohne Befund“ nicht angegeben werden müssen, mache für einen verständigen Leser deutlich, dass ein Krankheitsverdacht sehr wohl mitteilungspflichtig sei. Die Versicherung hatte die Klägerin ausreichend über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung informiert.
Finanzielle Folgen für die Familie
Mit der Bestätigung des Versicherungsrücktritts verlor die Familie sämtliche Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag. Die geforderten Pflegegeldleistungen von über 29.000 Euro wurden nicht gewährt. Auch die Beitragsfreistellung und vereinbarte Erhöhungen des Tagessatzes entfielen rückwirkend. Die Klägerin muss zudem die Verfahrenskosten tragen.
Die Schlüsselerkenntnisse
Das Urteil stellt klar, dass auch Verdachtsdiagnosen und anstehende Untersuchungen bei Versicherungsabschlüssen offengelegt werden müssen – selbst wenn die endgültige Diagnose noch aussteht. Der bloße Hinweis im Antragsformular, dass „nur Vorsorgeuntersuchungen ohne Befund nicht angegeben werden müssen“, bedeutet im Umkehrschluss, dass jegliche Untersuchungen mit Befund oder Verdacht mitteilungspflichtig sind. Das Gericht setzt damit einen strengen Maßstab für die Anzeigepflicht von Versicherungsnehmern und stärkt die Position der Versicherungen bei der Risikoprüfung.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Wenn Sie eine Versicherung für Ihr Kind abschließen möchten, müssen Sie besonders sorgfältig alle bekannten gesundheitlichen Auffälligkeiten offenlegen – auch wenn es sich nur um Verdachtsdiagnosen handelt. Auch anstehende Facharzttermine oder Untersuchungen zur Abklärung von Verdachtsdiagnosen müssen Sie angeben, selbst wenn Sie deren Bedeutung als gering einschätzen. Verschweigen Sie relevante Informationen, riskieren Sie den kompletten Verlust des Versicherungsschutzes – auch wenn sich später herausstellt, dass Ihr Kind tatsächlich erkrankt ist und Pflege benötigt. Die finanziellen Folgen können erheblich sein: Im vorliegenden Fall verlor die Familie Pflegegeldansprüche von über 29.000 Euro. Lassen Sie sich daher vor Vertragsabschluss beraten und dokumentieren Sie alle Gesundheitsinformationen Ihres Kindes vollständig.
Benötigen Sie Hilfe?
Als erfahrene Experten im Versicherungsrecht verstehen wir die Komplexität der Anzeigepflichten bei Versicherungsabschlüssen und deren weitreichende Konsequenzen für Ihre Familie. Die korrekte Offenlegung medizinischer Informationen kann über den späteren Versicherungsschutz Ihres Kindes entscheiden und finanzielle Risiken von mehreren zehntausend Euro betreffen. Unsere Anwälte prüfen mit Ihnen gemeinsam die relevanten Unterlagen und entwickeln eine rechtssichere Strategie für Ihren individuellen Fall. ✅ Fordern Sie unsere Ersteinschätzung an!

Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was müssen Eltern bei Verdachtsdiagnosen ihrer Kinder beim Abschluss einer Versicherung beachten?
Bei Versicherungsanträgen für Kinder müssen alle Verdachtsdiagnosen und Ausschlussdiagnosen vollständig angegeben werden. Eine häufige Fehlannahme ist, dass nur gesicherte Diagnosen relevant seien – dies ist nicht korrekt.
Korrekte Angabe von Verdachtsdiagnosen
Jede ärztliche Untersuchung muss mit ihrer Ursache und dem Ergebnis angegeben werden. Dabei ist es unerheblich, ob die Verdachtsdiagnose später bestätigt wurde oder nicht. Eine transparente Formulierung könnte beispielsweise lauten: „Der Arzt vermutete zunächst Krankheit X, nach Untersuchungen wurde dies aber ausgeschlossen“.
Bedeutung für den Versicherungsschutz
Eine sorgfältig dokumentierte Ausschlussdiagnose beeinträchtigt die Versicherbarkeit in der Regel nicht. Werden Verdachtsdiagnosen hingegen verschwiegen, kann dies später zur Verweigerung von Versicherungsleistungen führen. Die Versicherung kann in solchen Fällen:
- die monatlichen Beiträge nachträglich erhöhen
- einen Leistungsausschluss für bestimmte Erkrankungen aussprechen
- den Vertrag sogar komplett kündigen
Praktische Vorgehensweise
Vor der Antragstellung sollten Eltern die vollständige Krankenakte ihres Kindes einsehen. Dies ermöglicht eine lückenlose und wahrheitsgemäße Beantwortung der Gesundheitsfragen. Dabei gilt: Lieber zu viel als zu wenig angeben. Bei Unsicherheit, ob ein bestimmter Umstand relevant ist, sollte dieser trotzdem angegeben werden.
Welche rechtlichen Konsequenzen hat das Verschweigen von Verdachtsdiagnosen für den Versicherungsschutz?
Das Verschweigen von Verdachtsdiagnosen bei Abschluss eines Versicherungsvertrags stellt eine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht dar. Diese Pflichtverletzung kann für Sie als Versicherungsnehmer weitreichende rechtliche Folgen haben.
Rücktrittsrecht der Versicherung
Die Versicherung kann bei verschwiegenen Verdachtsdiagnosen vom Vertrag zurücktreten. Dies gilt jedoch nur, wenn Sie als Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt der Antragstellung positive Kenntnis von der Verdachtsdiagnose hatten. Waren Sie beispielsweise über einen längeren Zeitraum beschwerdefrei, kann dies gegen eine bewusste Täuschung sprechen.
Folgen des Rücktritts
Bei einem wirksamen Rücktritt entfällt der Versicherungsschutz nicht nur für die Zukunft, sondern auch rückwirkend. Dies bedeutet, dass Sie bereits erhaltene Versicherungsleistungen zurückzahlen müssen. Die von Ihnen gezahlten Versicherungsprämien verbleiben dabei bei der Versicherung.
Arglistige Täuschung
Besonders schwerwiegend sind die Folgen, wenn Ihnen eine arglistige Täuschung nachgewiesen werden kann. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn Sie eine Verdachtsdiagnose kurz vor Vertragsschluss bewusst verschweigen. Der Vertrag wird dann rückwirkend nichtig, was zur vollständigen Rückabwicklung führt.
Beweislast
Die Versicherung muss für einen wirksamen Rücktritt nachweisen, dass Sie die Gesundheitsfragen vorsätzlich falsch beantwortet haben. Dabei reicht das Verschweigen leichterer Erkrankungen oder solcher, die Sie nachvollziehbar als unbedeutend eingestuft haben, für den Nachweis einer arglistigen Täuschung nicht aus.
Wie lange kann eine Versicherung vom Vertrag zurücktreten, wenn Verdachtsdiagnosen verschwiegen wurden?
Die Versicherung muss ihr Rücktrittsrecht innerhalb eines Monats ausüben, nachdem sie von der verschwiegenen Verdachtsdiagnose Kenntnis erlangt hat.
Zeitliche Beschränkungen des Rücktrittsrechts
Bei einer verschwiegenen Verdachtsdiagnose gelten zwei wichtige zeitliche Grenzen:
Die Monatsfrist beginnt erst in dem Moment, in dem die Versicherung von der Verletzung der Anzeigepflicht erfährt. Die Frist muss von der Versicherung strikt eingehalten werden – wird der Rücktritt nicht fristgerecht erklärt, bleibt die Obliegenheitsverletzung folgenlos.
Die absolute Ausschlussfrist beträgt bei einer arglistigen Täuschung zehn Jahre ab Vertragsschluss. Nach Ablauf dieser Frist ist eine Anfechtung des Vertrags nicht mehr möglich.
Besonderheiten bei Verdachtsdiagnosen
Bei Verdachtsdiagnosen muss die Versicherung für einen wirksamen Rücktritt nachweisen, dass der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt der Antragstellung positive Kenntnis von der Diagnose hatte.
Wenn Sie seit längerer Zeit beschwerdefrei waren, kann dies für Sie sprechen. So hat das OLG Karlsruhe entschieden, dass bei einer mehr als dreijährigen Beschwerdefreiheit der Versicherungsnehmer von einer Heilung ausgehen durfte.
Voraussetzungen für den Rücktritt
Der Rücktritt ist nur möglich, wenn die Versicherung vor Vertragsschluss durch gesonderte Mitteilung in Textform auf die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung hingewiesen hat.
Die Versicherung muss außerdem beweisen, dass:
- die verschwiegene Information gefahrerheblich war
- der Versicherungsnehmer vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat
- sie den Vertrag bei Kenntnis der Verdachtsdiagnose nicht oder nur zu anderen Bedingungen abgeschlossen hätte
Welche Anforderungen stellt das Gesetz an die Belehrung über Anzeigepflichten durch die Versicherung?
Die Versicherung muss Sie gemäß § 19 Abs. 5 VVG durch eine gesonderte Mitteilung in Textform über die Folgen einer Anzeigepflichtverletzung informieren. Diese Belehrung muss bestimmten formellen und inhaltlichen Anforderungen entsprechen.
Formelle Anforderungen
Die Belehrung muss drucktechnisch deutlich hervorgehoben und vom übrigen Text abgesetzt sein. Wenn die Belehrung im Antragsformular erfolgt, muss sie sich in unmittelbarer Nähe zu den Gesundheitsfragen befinden. Eine bloße Aufnahme in das allgemeine Bedingungswerk genügt nicht.
Inhaltliche Anforderungen
Die Belehrung muss klar und verständlich formulieren, welche Konsequenzen eine Verletzung der Anzeigepflicht haben kann. Dabei müssen folgende Punkte erläutert werden:
- Die möglichen Rechte der Versicherung (Rücktritt, Kündigung, Vertragsanpassung)
- Die Voraussetzungen für die Ausübung dieser Rechte
- Die Fristen, innerhalb derer die Versicherung diese Rechte geltend machen kann
Zeitpunkt der Belehrung
Die Belehrung muss vor der Beantwortung der Gesundheitsfragen erfolgen. Eine nachträgliche Belehrung ist nicht ausreichend. Wenn die Versicherung nach der Antragstellung, aber vor Vertragsschluss weitere Fragen stellt, muss auch hierüber eine entsprechende Belehrung erfolgen.
Rechtliche Folgen mangelhafter Belehrung
Wenn die Belehrung nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht, kann die Versicherung sich später nicht auf eine Verletzung der Anzeigepflicht berufen. Die Rechte nach § 19 Abs. 2 bis 4 VVG (Rücktritt, Kündigung, Vertragsanpassung) stehen der Versicherung dann nicht zu.
Ab welchem Grad der Fahrlässigkeit kann die Versicherung den Vertrag anfechten?
Die Versicherung kann den Vertrag bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der Anzeigepflicht anfechten. Bei grober Fahrlässigkeit muss der Versicherungsnehmer die im Versicherungsvertrag festgelegte Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt haben.
Abstufung der Verschuldensgrade
Vorsatz führt zur vollständigen Leistungsfreiheit der Versicherung. Der Versicherer kann vom Vertrag zurücktreten und muss keine Versicherungsleistung erbringen.
Grobe Fahrlässigkeit ermöglicht es dem Versicherer, seine Leistung entsprechend der Schwere des Verschuldens zu kürzen. Die Beurteilung erfolgt nach objektiven und subjektiven Maßstäben, wobei Faktoren wie Bildungsgrad, Lebenserfahrung und berufliche Stellung berücksichtigt werden.
Besonderheiten bei der Anfechtung
Der Versicherer muss bei der Anfechtung bestimmte Voraussetzungen beachten:
- Die gesetzlichen Ausübungs- und Ausschlussfristen müssen eingehalten werden.
- Besondere Formerfordernisse und Informationspflichten sind zu berücksichtigen.
- Die Beweislast für das Vorliegen der groben Fahrlässigkeit liegt beim Versicherer.
Rechtliche Konsequenzen
Bei leichter Fahrlässigkeit kann der Versicherer den Vertrag nur anpassen oder mit Monatsfrist kündigen, wenn er ihn bei Kenntnis der verschwiegenen Umstände nicht abgeschlossen hätte. Eine Anfechtung ist in diesem Fall nicht möglich.
Bei grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz macht die Anfechtung den Versicherungsvertrag von Anfang an nichtig. Bereits empfangene Leistungen müssen zurückgewährt werden, wenn sie auf einem Versicherungsfall beruhen, für den der verschwiegene Gefahrumstand ursächlich geworden ist.
Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung ersetzen kann. Haben Sie konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren – wir beraten Sie gerne.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Anzeigepflicht
Eine gesetzliche Verpflichtung bei Versicherungsverträgen, alle bekannten Umstände wahrheitsgemäß anzugeben, die für die Risikoeinschätzung der Versicherung wichtig sind. Dies gilt auch für Verdachtsdiagnosen. Gesetzlich geregelt in §19 VVG. Wird die Anzeigepflicht verletzt, kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten. Ein typisches Beispiel ist das Verschweigen von Vorerkrankungen beim Abschluss einer Krankenversicherung. Im vorliegenden Fall hätte die Mutter den Autismus-Verdacht angeben müssen.
Grobe Fahrlässigkeit
Eine besonders schwere Form der Sorgfaltspflichtverletzung, bei der offensichtlich notwendige Vorsichtsmaßnahmen in ungewöhnlichem Maße missachtet werden. Der Handelnde erkennt die Gefahr nicht, obwohl sie sich jedem durchschnittlich sorgfältigen Menschen aufdrängen müsste. Geregelt in §276 BGB. Im konkreten Fall wurde der Mutter grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen, da sie trotz mehrfacher Dokumentation den Autismus-Verdacht verschwieg.
Verdachtsdiagnose
Eine vorläufige ärztliche Einschätzung einer möglichen Erkrankung, die noch nicht endgültig bestätigt ist, aber auf konkreten Anhaltspunkten basiert. Im Versicherungsrecht müssen auch Verdachtsdiagnosen offengelegt werden, da sie für die Risikoeinschätzung relevant sind. Beispiel: Der Vermerk „V.a. autistische Züge“ in der Patientenakte ist eine anzeigepflichtige Verdachtsdiagnose, auch wenn die endgültige Diagnose noch aussteht.
Rücktritt vom Vertrag
Die einseitige Aufhebung eines Vertrags mit Wirkung von Anfang an (ex tunc). Beim Rücktritt werden bereits erbrachte Leistungen rückabgewickelt. Im Versicherungsrecht ist der Rücktritt nach §19 VVG möglich, wenn der Versicherungsnehmer seine Anzeigepflicht verletzt hat. Folge ist der vollständige Wegfall des Versicherungsschutzes, wie im Fall die Verweigerung der Pflegeleistungen von 29.000 Euro.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 19 Abs. 1 VVG (Versicherungsvertragsgesetz): Diese Vorschrift regelt die Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers im Versicherungsantrag. Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, alle ihm bekannten gefahrerheblichen Umstände wahrheitsgemäß anzugeben, damit der Versicherer das Risiko richtig einschätzen und die Prämienhöhe angemessen festlegen kann. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin relevante Informationen über den Verdacht auf autistische Züge ihres Kindes nicht angegeben, was die Grundlage für die Ablehnung des Versicherungsanspruchs sein kann.
- § 31 VVG (Versicherungsvertrags): Diese Norm betrifft die Folgen eines Verstoßes gegen die Anzeigepflicht. Sie besagt, dass der Versicherer im Falle einer unrichtigen oder unvollständigen Angabe im Antrag den Vertrag unter bestimmten Voraussetzungen anfechten kann. Im Fall der Klägerin hat die Beklagte den Antrag aufgrund der unvollständigen Angaben zur Gesundheitsgeschichte prüfen können, was zur Ablehnung ihrer Klage führte.
- § 241 Abs. 2 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): Diese Vorschrift behandelt die vertragsmäßige Pflicht zur Wahrung von Treu und Glauben. Die Parteien sind verpflichtet, bei der Durchführung des Vertrages auf die Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen. Im Streitfall könnte argumentiert werden, dass die Klägerin durch die unvollständige und unrichtige Informationsgabe die Interessen der Beklagten verletzt hat, was eine Klageabweisung rechtfertigt.
- § 812 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch): Hier wird geregelt, dass jemand, der durch Leistung eines anderen einen Vorteil erlangt hat, diesen zurückgewähren muss, wenn die Leistung nicht rechtmäßig war. Im Hinblick auf die Zahlung von Versicherungsleistungen könnte dies relevant sein, wenn festgestellt wird, dass die Klägerin einen Anspruch auf Leistungen aus dem Versicherungsvertrag nicht rechtmäßig geltend gemacht hat.
- § 2 SGB XI (Sozialgesetzbuch – Elftes Buch): Dieses Gesetz regelt die soziale Pflegeversicherung und definiert die Ansprüche der Pflegebedürftigen sowie die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung. Zwar betrifft der spezifische Fall einen Krankenversicherungsvertrag, jedoch sind Kenntnisse über die soziale Pflegeversicherung wichtig, um familiäre Ansprüche im Kontext von Pflegeleistungen umfassend zu verstehen. Der Vergleich zu anderen Versicherungssystemen kann den betroffenen Familien helfen, sich besser zu orientieren und ihre Rechte zu wahren.
Das vorliegende Urteil
LG Fulda – Az.: 4 O 78/22 – Urteil vom 08.12.2022
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