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Krankenversicherung – Umfang medizinisch notwendiger Zahnbehandlung bei sechsjährigen Kind

AG Erfurt – Az.: 11 C 1666/09 – Urteil vom 06.04.2011

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.343,37 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.07.2009 zu zahlen.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 75 vom Hundert der Kosten für notwendige kieferorthopädische Leistungen und 70 vom Hundert der Kosten für notwendige zahntechnische Laborarbeiten und Materialien zu erstatten, welche ihm im Zusammenhang mit der kieferorthopädischen Heilbehandlung seiner Tochter A. J., geboren 1999, aus dem Heil- und Kostenplan der Frau Dr. K. D. vom 09.07.2007 noch entstehen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagte aus einem privaten Krankenversicherungsvertrag in Anspruch.

Die Parteien sind u. a. über eine Krankheitskostenversicherung nach Tarif BSK miteinander verbunden. Der Versicherungsvertrag datiert auf den 04.02.2006. Danach ist über den Kläger auch die minderjährige Tochter A., geb. 1999, seit dem 01.05.2006 mitversichert. Der Versicherungswechsel ergab sich aufgrund der Selbständigkeit des Klägers, wodurch auch die Voraussetzungen für eine gesetzliche Familienversicherung für das Kind bei der Mutter weggefallen waren.

Krankenversicherung - Umfang medizinisch notwendiger Zahnbehandlung bei sechsjährigen Kind
Symbolfoto: Von Satyrenko/Shutterstock.com

Die Tochter des Klägers befindet sich seit dem Jahr 2001 in zahnärztlicher Behandlung bei dem Zeugen Dr. T. Aufgrund einer Zahnfehlstellung ist die Tochter seit dem 07.11.2006 in kieferorthopädischer Behandlung. Für diese Behandlung wurde durch die Kieferorthopädin am 09.07.2007 ein Heil- und Kostenplan erstellt und mit der Behandlung begonnen. Durch die Behandlung bis zum 29.09.2008 sind dem Kläger Kosten in Höhe von 1.792,50 EUR entstanden. Daraus ergibt sich auf der Grundlage des vereinbarten Tarifs BSK die streitgegenständliche Forderung. Weitere Kosten ergeben sich für den Kläger durch die weitergehende Behandlung der Tochter laut dem Heil- und Kostenplan.

Der Kläger behauptet, erstmals am 07.11.2006 sei durch die Kieferorthopädin eine Zahnfehlstellung bei seiner Tochter festgestellt worden. Anlässlich der zahnärztlichen Kontrolluntersuchung am 04.12.2006 habe der Zeuge Dr. T. die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung im Nachhinein bestätigt. Anlässlich der vorausgegangenen Früherkennungsuntersuchungen sei der Kläger nicht durch den Zeugen Dr. T. über eine deutliche Zahnfehlstellung informiert worden und es sei auch keine Empfehlung zu einer kieferorthopädischen Behandlung gegeben worden. Zum Zeitpunkt der Untersuchung seiner Tochter am 12.08.2005 seien die Milchzähne noch nicht ausgefallen gewesen und auch die Oberkieferfrontzähne des ersten Wechselgebisses seien noch nicht im Durchbruch gewesen. Die beiden Frontzähne im Oberkiefer des Milchzahngebisses seien erst kurz vor dem siebenten Geburtstag der Tochter im September 2006 ausgefallen. Selbst zu diesem Zeitpunkt sei dem Kläger und dessen Ehefrau nicht bewusst gewesen, dass sich die Frontzähne stark gekippt im Durchbruch befanden. Erst der Hinweis seiner Schwester habe den Kläger im November 2006 veranlasst, seine Tochter einer Kieferorthopädin vorzustellen.

Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.343,37 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Er beantragt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger 75 vom Hundert der Kosten für notwendige kieferorthopädische Leistungen und 70 vom Hundert der Kosten für notwendige zahntechnische Laborarbeiten und Materialien zu erstatten, welche ihm im Zusammenhang mit der kieferorthopädischen Heilbehandlung seiner Tochter A. J., geboren 1999, aus dem Heil- und Kostenplan der Frau Dr. K. D. vom 09.07.2007 noch entstehen.

Einen weiteren Antrag des Klägers auf Herausgabe einer ärztlichen Stellungnahme zum zahnmedizinischen Behandlungsstand der Tochter haben die Parteien nach Vorlage der Stellungnahme vom 05.03.2008 (Anlage B 4) übereinstimmend für erledigt erklärt.

Die Beklagte beantragt, Klageabweisung.

Sie wendet ein, der Zeuge Dr. T. habe bereits anlässlich einer Früherkennungsuntersuchung der Tochter des Klägers am 12.08.2005 eine kieferorthopädische Behandlungsbedürftigkeit festgestellt und den Kläger darüber informiert. Der Zeuge habe bei dem Kind eine deutlich ausgeprägte sagittale Schneidezahnstufe und einen beidseitigen Rückbiss festgestellt. Die Oberkieferfrontzähne hätten sich zu diesem Zeitpunkt bereits stark gekippt im Durchbruch befunden.

Die Beklagte beruft sich auf ihre Leistungsfreiheit nach § 2 Abs. 1 AVB (Anlage K 7). Der Versicherungsfall und damit der Beginn der Heilbehandlung seien bereits vor Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten. Dabei beginne die Zahnbehandlung bereits mit der Vornahme einer eingehenden Vorsorgeuntersuchung, ohne dass dabei Art und Umfang der späteren Behandlung feststehen müsste. Der Kläger habe den Versicherungsantrag bei der Beklagten nur wenige Monate, nachdem die kieferorthopädische Behandlungsbedürftigkeit seiner Tochter erkennbar war, gestellt. Dabei komme es auch nicht auf die subjektive Kenntnis des Klägers von der Notwendigkeit einer kieferorthopädischen Behandlung an.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhalts Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 09.12.2009, ergänzt mit Beschluss vom 17.03.2010, durch Vernehmung des Zeugen Dr. T. und gemäß Beweisbeschluss vom 12.05.2010 durch die Einholung eines zahnmedizinischen Gutachtens. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das Verhandlungsprotokoll vom 10.02.2010 (Bl. 70 ff. d. A.), die ergänzende schriftliche Zeugenaussage vom 24.03.2010 (Bl. 111 f. d. A.), das Sachverständigengutachten zur kieferorthopädischen Behandlung des Herrn Dipl.-Stom. H.-O. V. vom 25.08.2010 (Bl. 144 ff. d. A.) und die Ergänzung zum Sachverständigengutachten vom 17.11.2010 (Bl. 169 ff. d. A.).

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf die Versicherungsleistungen aus der Krankheitskostenversicherung zu. Der Versicherungsschutz beginnt dabei mit dem im Versicherungsschein bezeichneten Zeitpunkt (Versicherungsbeginn), jedoch nicht vor Abschluss eines Versicherungsvertrages und nicht vor Ablauf von Wartezeiten, § 2 Abs. 1 Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB). Versicherungsbeginn war danach laut dem Versicherungsvertrag der 01.05.2006. Die Beklagte wird von der Leistungspflicht befreit, wenn der Versicherungsfall vor Beginn des Versicherungsschutzes eingetreten ist, § 2 Abs. 1 Satz 2 AVB. Dabei ist der Versicherungsfall die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen, § 1 Abs. 2 AVB. Der Versicherungsfall ist in den AVB der Beklagten aber nicht als die nach dem Vertrag mit dem Patienten geschuldete Heilbehandlung, sondern als „die medizinisch notwendige Heilbehandlung“ definiert. Damit ist zur Bestimmung des Versicherungsfalls ein objektiver, vom Vertrag zwischen Arzt und Patient unabhängiger Maßstab eingeführt worden. Für die Frage, ob eine ärztliche Leistung als „Beginn der Heilbehandlung“ anzusehen ist, ist der richtige Bezugspunkt nicht der konkrete Auftrag des Patienten an den Arzt, sondern die (behandlungsbedürftige) Krankheit selbst (BGH vom 14.12.1977, IV ZR 12/76 nach juris). Danach gehört zur „Behandlung“ einer Krankheit nicht nur die unmittelbare Heiltätigkeit, sondern auch schon die erste ärztliche Untersuchung, die auf die Erkennung des Leidens abzielt, ohne Rücksicht darauf, ob sofort oder erst nach weiteren Untersuchungen eine endgültige oder richtige Diagnose gestellt und mit den eigentlichen Heilmaßnahmen begonnen worden ist (BGH VersR 1956, 186; 1957, 55).

Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass der Zeuge Dr. T. anlässlich der Vorsorgeuntersuchung am 12.08.2005 eine Anomalie der Zahnstellung der Patientin festgestellt hat. Dieser Befund ist durch den Zeugen auch nicht erst bei der Kontrolluntersuchung am 04.12.2006 erstellt worden. Die fehlenden Angaben in der Behandlungskarte sind allein nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit der Zeugenaussage zu begründen. Dies hat auch der Sachverständige Herr Dipl.-Stom. V. in seinem Gutachten anhand der vorgenommenen Rekonstruktion des Gebisswachstumsstandes bestätigt. Danach befand sich die Patientin zum Zeitpunkt der Untersuchung am Beginn der ersten Phase des Wechselgebisses. Der Sachverständige ist dabei aufgrund der ärztlichen Aufzeichnungen in der Patientenkartei davon ausgegangen, dass bei der Patientin eine durchschnittliche Gebissentwicklung vorhanden war. Auch in der Aussage des Zeugen Dr. T. hinsichtlich der ersten Molaren sieht er keinen Widerspruch zu der Aussage des Zeugen über seinen Befund im August 2005.

Nach dem Befund des Zeugen Dr. T. vom 12.08.2005 über die Anomalie der Zahnstellung bestand zu dieser Zeit jedoch kein medizinisches Erfordernis für eine kieferorthopädische Behandlung der Tochter des Klägers. Der Zeuge hat nach seiner Untersuchung keine Entscheidung über eine Behandlungsbedürftigkeit der Patientin getroffen, sondern lediglich die Konsultation eines Kieferorthopäden für sinnvoll erachtet. Der Zeuge hat erst im Nachgang anlässlich der Kontrolluntersuchung vom 04.12.2006 die Notwendigkeit einer kieferorthopädischen Behandlung bestätigt. Der Sachverständige hat zu diesem Befund in der ersten Phase des Wechselgebisses ausgeführt, dass nicht jede Zahnfehlstellung „automatisch“ behandelt werden muss und sich eine Behandlungsnotwendigkeit erst ergibt, wenn die Zahnfehlstellung einen Krankheitswert darstellt. Danach war es für den Zeugen Dr. T. fachlich nicht möglich, angesichts des Alters der Patientin zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung exakt zu bestimmen. Der Ausprägungsgrad der Anomalie ließ es zum fraglichen Zeitpunkt zu, dass sich diese verstärkt und zu einer kieferorthopädischen Behandlung führen muss oder zum anderen natürliche Wachstumsvorgänge den Ausprägungsgrad so verringern, dass auf die kieferorthopädische Behandlung verzichtet werden kann.

Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht damit fest, dass nach dem Ausprägungsgrad der Anomalie der Zahnstellung bei der Tochter des Klägers, wie diese zum Ende des 6. Lebensjahres festgestellt wurde, noch keine medizinische Notwendigkeit für eine kieferorthopädische Behandlung bestand. In der ersten Phase des Wechselgebisses wird in derartigen Fällen zunächst das weitere Kiefergesichtswachstum abgewartet, um die Indikation zur kieferorthopädischen Behandlung später zweifelsfrei festlegen zu können. Danach erfasst die medizinisch notwendige Heilbehandlung nicht den Befund des Zeugen Dr. T. vom 12.08.2005, sondern hat erst mit der Erstdiagnose der Kieferorthopädin am 07.11.2006 begonnen. Die Diagnose der Kieferorthopädin stellt dabei die erste Inanspruchnahme einer ärztlichen Tätigkeit, die durch die betroffene Krankheit verursacht worden ist, dar, auch wenn der Heil- und Kostenplan erst am 09.07.2007 erstellt wurde. Auch das Landgericht Dortmund hat in der von der Beklagten zitierten Entscheidung erst in der kieferorthopädischen Vorsorgeuntersuchung den Beginn der medizinisch notwendigen Heilbehandlung gesehen (Urteil vom 27.09.2007, 2 S 12/07 nach juris).

Dem Kläger steht neben dem Zahlungsanspruch wegen der bereits entstandenen Behandlungskosten ein Feststellungsanspruch wegen der Leistungspflicht für die zukünftige Behandlung zu. Der Antrag ist zulässig, soweit der Heil- und Kostenplan zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits die Grundlage für bestimmte Ansprüche bildet. Daraus ergibt sich, dass die darin vorgeschlagene Behandlung aus ärztlicher Sicht erforderlich ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 91a ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihren Rechtsgrund in § 709 ZPO.

 

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