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Kinder-Invaliditätszusatzversicherung – Leistungsausschluss bei ADHS

Oberlandesgericht Thüringen – Az.: 4 U 501/10 – Urteil vom 18.10.2011

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 10.05.2010 – Az.: 8 O 734/09 – wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 13.805,10 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte, einen Versicherer, auf Zahlung einer Versicherungsleistung aus einer Kinder-Invaliditätsversicherung in Anspruch. Die Klägerin ist Versicherungsnehmerin. Das versicherte Kind ist an ADHS erkrankt. Die Beklagte beruft sich auf den Leistungsausschlussgrund nach Ziff. 6.2 ihrer AVB.

Ziffer 6.1., 6.2 der AVB lautet (Bl. 8 d. A.):

„Versicherungsschutz besteht nicht für Invalidität, die ganz oder überwiegend eingetreten ist, aufgrund

6.1 angeborener Krankheiten.

6.2 von Neurosen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie von Psychosen und Oligophrenie. Versicherungsschutz besteht jedoch, wenn die Beeinträchtigung durch einen Unfall oder eine Erkrankung mit hirnorganischen Schäden oder durch eine Vergiftung oder Infektion verursacht wurde, die während der Wirksamkeit des Vertrages eingetreten ist.“

Hinsichtlich des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes einschließlich der dort gestellten Sachanträge wird auf die Feststellungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen.

Kinder-Invaliditätszusatzversicherung - Leistungsausschluss bei ADHS
Symbolfoto: Von fotogeng/Shutterstock.com

Das Landgericht hat in seinem am 10.05.2010 verkündeten Urteil die Klage abgewiesen. Der Versicherte leide an ADHS. Konsequenz von ADHS sei eine Verhaltensstörung, die gemäß Ziffer 6.2 der AVB vom Versicherungsschutz ausdrücklich ausgenommen sei. Die Reglung in Ziff. 6.2 der AVB sei wirksam. Ein Verstoß gegen das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 S. 2 BGB) liege nicht vor. ADHS sei die konkrete Krankheitsbezeichnung. Die Verhaltens- oder Persönlichkeitsstörung sei eine ihrer Auswirkungen.

Gegen dieses ihr am 12.05.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10.06.2010 Berufung eingelegt und – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist – am 09.08.2010 begründet. Die Klägerin meint, das Landgericht habe die Klausel falsch ausgelegt. Sie sei dahingehend zu interpretieren, dass eine Leistungspflicht entfallen solle, wenn die Erkrankung als Folge der modernen Gesellschaft ihre Ursachen in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in der Erziehung selbst habe. Sei die Erkrankung organisch bedingt, müsse eine Leistungspflicht bestehen. Dies sei bei ADHS der Fall. ADHS sei eine „Grunderkrankung“. Diese sei bei dem versicherten Kind genetisch bedingt. Die Grunderkrankung löse dann psychische Folgen aus. Daher sei Ziffer 6.2 der Versicherungsbedingungen nicht einschlägig.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 10.05.2010 – Az.: 8 O 734/09 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin

1) 3.067,80 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit und

2) monatlich 255,65 EUR, beginnend ab dem 01.06.2009

zu zahlen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

II.

1. Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft und auch im Übrigen in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden; insbesondere ist sie form- und fristgerecht erhoben sowie begründet worden (§§ 517, 519, 520 Abs. 2, 3 ZPO).

2. In der Sache bleibt die Berufung aber ohne Erfolg. Der Klägerin steht gegen die Beklagte kein Leistungsanspruch aufgrund der von ihr abgeschlossenen Kinder-Invaliditäts-Zusatzversicherung zu. Es greift der Leistungsausschlussgrund nach Ziffer 6.2 der allgemeinen Versicherungsbedingungen, Stand Mai 2001. Zwar ist bedingungsmäßige Invalidität eingetreten. Die Leistungspflicht der Beklagten ist jedoch nach Ziffer 6.2 Satz 1 der AVB ausgeschlossen. Das versicherte Kind leidet an einer Verhaltensstörung, für die nach Ziff. 6.2. S. 1 der AVB Versicherungsschutz nicht besteht. Die Rückausnahme der Ziff. 6.2. S. 2 AVB ist nicht einschlägig. Denn der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Ursache für die bei dem versicherten Kind aufgetretene ADHS hirnorganisch bedingt ist.

Die Klausel Ziff. 6.2. der AVB ist wirksam in den Vertrag einbezogen worden.

§ 305c Abs. 1 BGB steht dem nicht entgegen. Es handelt sich um keine ungewöhnliche, überraschende Klausel. Bei Unfallversicherungen ist es üblich, psychische Erkrankungen von der Leistungspflicht auszuschließen (std. Rspr., vgl. nur OLG Köln VersR 2011, 201). Die Kinder-Invaliditätszusatzversicherung ist im Kern eine Spielart der Unfallversicherung. Auch bei dieser Zusatzversicherung ist die Klausel daher nicht überraschend.

Die Klausel hält auch einer Inhaltskontrolle stand.

Die streitgegenständliche Klausel nach Ziffer 6.2 der AVB verstößt nicht gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, werden nicht so eingeschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Der Ausschluss von psychischen Erkrankungen dient nicht nur dem Versicherer, sondern auch dem Versicherten (OLG Köln VersR 2011, 201, zit. nach juris, dort Rn. 6). Eine sichere, verlässliche Tarifkalkulation wird ermöglicht. Auch wird die Leistungsüberprüfung erleichtert. Der Anspruchsausschluss bei Neurosen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen sowie bei  Psychosen oder Oligophrenie verstößt mithin nicht gegen § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB.

Die Klausel ist auch mit § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zu vereinbaren. Nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist eine unangemessene Benachteiligung im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist.

Ein konkretisiertes gesetzliches Leitbild für die Kinder-Invaliditäts-zusatzversicherung gibt es nicht. Zu erwägen ist allenfalls, die Unfallversicherung als Leitbild heranzuziehen. Typischerweise wird die Kinder-Invaliditäts-zusatzversicherung mit einer Unfallversicherung kombiniert. Aber auch wenn die Unfallversicherung als Leitbild herangezogen wird, liegt ein Verstoß gegen wesentliche Grundgedanken der gesetzlichen Regelung nicht vor. Bei der Unfallversicherung ist ein Anspruchsausschluss für psychische Erkrankungen möglich und auch üblich. § 191 VVG, der die Abweichung von bestimmten Regeln der Unfallversicherung für unzulässig erklärt, erfasst § 178 Abs. 2 S. 1 VVG, der den Unfall definiert, gerade nicht. Der Versicherer hat also die Möglichkeit, psychische Reaktionen auszuschließen. Dies wird in den AVB typischerweise auch gemacht (vgl. nur Ziffer 5.2.6 der AUB 1999: Anspruchsausschluss für „krankhafte Störungen in Folge psychischer Reaktionen, auch wenn diese durch einen Unfall verursacht wurden“).

Die Wirksamkeit dieser Klauseln für die Unfallversicherung ist anerkannt (BGH VersR 2004, 1039; anders OLG Jena, VersR 2002, 1019 für den Ausschluss physischer Gesundheitsschäden nach psychischer Reaktion).

Die Klausel genügt auch dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB. Nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB liegt eine unangemessene Benachteiligung auch dann vor, wenn die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. Das ist hier aber nicht der Fall.

Der Ausschlussgrund von Ziffer 6.2 Satz 1 ist klar gefasst. Er nennt konkrete Krankheitsbilder. Es ist jedoch geboten, ihn zusammen mit Ziffer 6.2 Satz 2 zu sehen. Danach besteht Versicherungsschutz dann, wenn die Beeinträchtigung durch einen Unfall oder eine Erkrankung mit hirnorganischen Schäden oder durch eine Vergiftung oder Infektion verursacht wurde, die während der Wirksamkeit des Vertrages eingetreten ist. Um den Leistungsumfang bestimmen zu können, muss der Versicherungsnehmer eine Gesamtbetrachtung von Ziffer 6.2 vorzunehmen. Bei der Beurteilung, der Frage, ob eine Regelung dem Transparenzgebot genügt, ist auf einen aufmerksamen und sorgfältigen Teilnehmer im Wirtschaftsverkehr abzustellen (Palandt/Grüneberg, BGB, 70. Aufl. 2011, § 307 Rn. 23).

Der Begriff „hirnorganischer Schaden“ genügt diesen Anforderungen gerade noch. Der Versicherte kann erkennen, dass für einen Leistungsanspruch eine Erkrankung des Gehirns wie ein Schlaganfall, ein Hirntumor oder ein Aneurysma (als Ausgangserkrankung) vorliegen muss, die dann zu einer Neurose oder einer Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung (als Folgeerkrankung) geführt hat. Wenn die Ursache für eine Neurose oder eine Persönlichkeits- und Verhaltensstörung dagegen im sozialen Umfeld zu suchen ist, es sich also um eine exogene Ursache handelt, dann besteht kein Leistungsanspruch.

Keine Rolle für den vorliegenden Fall spielt es, dass der vollständige Ausschluss für angeborene Krankheiten bei der Invaliditäts-Zusatzversicherung nach der Rechtsprechung des BGH wegen eines Verstoßes gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 und 2 BGB unwirksam ist (BGB VersR 2007, 1690, juris Rn. 22). Ziff 6.1 und 6.2 stehen nicht derart in einem Zusammenhang, dass die Unwirksamkeit von Ziff. 6.1 zur Unwirksamkeit von Ziff. 6.2. führt (vgl. § 306 Abs. 1 BGB). Nicht überzeugen kann daher die von der Berufung – wohl mit Blick auf die eben erwähnte BGH-Entscheidung – versuchte Verknüpfung von Ziffer 6.1 und Ziffer 6.2 der AVB. Durchaus denkbar ist eine „angeborene Krankheit“, die zu einer psychischen Störung führt.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine psychische Störung, die unter dem Anspruchsausschluss nach Ziffer 6.2 Satz 1 der AVB fällt. Nach dem heutigen Erkenntnisstand kann ADHS zwar auch durch eine „Erkrankung mit hirnorganischem Schaden“ verursacht werden. Für ADHS werden mögliche Ursachen wie eine Störung des Glukose-Stoffwechsels genannt, die dem Bereich der „hirnorganischen Störung“ zugeordnet werden können. Auch die teilweise festgestellte genetisch bedingte Anomalität der neuronalen Signalverarbeitung im Gehirn kann ein „hirnorganischer Schaden“ sein (vgl. hierzu das Online-Lexikon Wikipedia [http://de.wikipedia.org], Artikel „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“, Abruf 26.09.2011, sowie den Entwurf für eine Überarbeitung der Passage „Ursachen“ in dem Artikel unter http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Julius-m#Entwurf_.2F_.C3.9C Bearbeitung_von_Artikeln). Daneben sind allerdings auch Ursachen denkbar und verbreitet, die aus dem sozialen Umfeld des Kindes entspringen (insbesondere Defizite in der Erziehung).

Von letzterem geht der Senat im vorliegenden Fall aus. Nach dem Bericht der Kinderklinik Weimar vom 26.09.2007 (Bl. 51 ff. d.A.) liegen die Ursachen der bei Marcel aufgetretenen ADHS in multiplen psychosozialen Belastungsfaktoren, einer chronischen Überforderung und massiven erzieherischen Defiziten; für eine fehlerhafte Signalverarbeitung auf Grund einer Stoffwechselstörung finden sich dagegen in der Akte – außer der schlichten Behauptung der Klägerin – keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte.

Die Klägerin hat nach Auffassung des Senats nicht hineichend substantiiert vorgetragen, dass die Erkrankung des versicherten Kindes auf einen „hirnorganischen Schaden“ zurückzuführen ist. Schon das Landgericht hatte mit der Ladung zum Termin vom 18.02.2010 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass – auch nach seiner Auffassung – noch zum Vorliegen einer „eigenständigen Krankheit“ vorzutragen ist.

Die Klägerin hat – auch nach diesem Hinweis – zu diesem Punkt nur vorgetragen, ADHS sei Folge einer genetischen Disposition des versicherten Kindes (Bl. 60 d.A.). Dieser Vortrag genügt dem Senat nicht. Eine „genetische Disposition“ bedeutet lediglich, dass eine genetisch bedingte Anfälligkeit für die Ausbildung von Krankheiten besteht. Eine bloße Anfälligkeit stellt aber noch keine „Erkrankung mit hirnorganischen Schäden“ im Sinne von Satz 2 der Ziffer 6.2 AVB dar.

Soweit die Klägerin weiter vorgetragen hat, ein Sturz des Versicherten gegen einen Heizkörper am 29.09.2001 komme zumindest mitursächlich für die Erkrankung in Betracht (Klageschrift vom 19.05.2009, S. 4), genügt auch dieser Sachvortrag nicht für die Anwendung der Rückausnahme des Satzes 2 der Ziffer 6.2. AVB. Das behauptete Ereignis ist von der Beklagten zulässig mit Nichtwissen bestritten worden. Zutreffend hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass sich in den vorgelegten Arztberichten keinerlei Hinweis auf eine solche äußere Ursache findet. Die Klägerin hätte anschließend ihren Vortrag weiter und unter Beweisantritt substantiieren müssen. Dies ist nicht geschehen. Der Beweisantritt Zeugnis NN (Bl. 4 der Klageschrift) stellt keinen zulässigen Beweisantritt dar.

III.

Bleibt die Berufung mithin in der Sache erfolglos, fallen der Klägerin die Kosten dieser Instanz zur Last (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung einer Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 3 ZPO, §§ 47 Abs. 1, 63 Abs. 2 GKG.

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