Ein Sieg für den Existenzschutz: OLG Stuttgart stärkt die Rechte des Versicherten
In einer bemerkenswerten Entscheidung hat das Oberlandesgericht Stuttgart einem Versicherten umfassende Leistungen aus einer Kinder-Existenzschutzversicherung zugesprochen. Der Versicherungsvertrag wurde in Frage gestellt, nachdem der Versicherungsnehmer eine Frage bezüglich stationärer Behandlungen seit der Geburt seines Kindes mit „Nein“ beantwortete. Die Versicherung argumentierte, dass eine solche Erklärung ihre Position in dem Vertrag beeinflusst hätte, was zur Anfechtung des Vertrags und der Verweigerung der Leistungspflicht führte.
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Übersicht
Stärkung der Rechte von Versicherungsnehmern
Das OLG Stuttgart bestätigte die Gültigkeit des Vertrags und wies die Versicherung an, die entsprechenden Leistungen zu erbringen. Es wurde festgestellt, dass der Versicherungsvertrag trotz der Anfechtungen und Rücktrittserklärungen der Versicherung weiterhin gültig ist. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der Transparenz und Fairness in der Beziehung zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherungsnehmern.
Durchsetzung der Vertragspflichten
Das Gericht verurteilte die Beklagte weiterhin dazu, an den Kläger die festgelegten Beträge für die in dem Vertrag festgelegten Zeiträume zu zahlen. Es wurde festgestellt, dass die Versicherungsgesellschaft zur Zahlung von 15.300 Euro und 3.654 Euro für die jeweiligen Zeiträume sowie zur monatlichen Zahlung von 914 Euro an den Versicherten verpflichtet ist. Diese monatliche Zahlung erhöht sich jeweils zum 1. Januar eines jeden Kalenderjahres um 1,5 Prozent.
Auswirkungen auf die Versicherungsbranche
Dieses Urteil könnte weitreichende Folgen für die Versicherungsbranche haben, insbesondere für Anbieter von Existenzschutzversicherungen. Es unterstreicht, dass Versicherungsunternehmen ihren Verpflichtungen gegenüber Versicherungsnehmern nachkommen müssen und dass Unstimmigkeiten in der Vertragsgestaltung oder bei der Angabe von Informationen nicht zwangsläufig zur Ungültigkeit des Vertrags führen.
Dieser Fall zeigt deutlich, dass Versicherungsunternehmen ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Versicherten ernst nehmen müssen und dass es entscheidend ist, die Rechte der Verbraucher zu achten und transparente Vertragsbedingungen zu bieten.
Das vorliegende Urteil
OLG Stuttgart – Az.: 7 U 324/20 – Urteil vom 04.03.2021
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 14.09.2020 – 18 O 109/19 – a b g e ä n d e r t und, wie folgt, n e u g e f a s s t :
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Vertrag … für den Zeitraum vom 01.08.2017 bis zum 31.12.2018 15.300 Euro zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.04.2019 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Vertrag … für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 30.04.2019 3.654 Euro zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 26.04.2019 zu zahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus dem Vertrag … ab dem 01.05.2019 monatlich – im Voraus – 914 Euro zu zahlen, wobei sich dieser Betrag jeweils zum 01.01. eines jeden folgenden Kalenderjahres um jeweils 1,5 Prozent (unter Beachtung der Rundungsregelung in Nr. 10.2 der „Allgemeine[n] Bedingungen für die Existenzschutzversicherung [AB ESV 2016]“) erhöht, dies längstens für die Dauer der Einstufung in die Pflegestufe I, II oder III nach SGB XI (Stand Juli 2015) bzw. in den Pflegegrad 2, 3, 4 oder 5 nach SGB XI (Stand Januar 2017) betreffend die versicherte Person, …, geboren am …, und längstens bis zum Erreichen von dessen 67. Lebensjahres.
4. Es wird festgestellt, dass der Vertrag Nr. … weder durch die Anfechtung der Beklagten vom 21.06.2018 noch durch deren Rücktrittserklärung vom gleichen Tag und auch nicht durch deren weitere Anfechtungserklärung vom 17.12.2018 beendet worden ist, sondern unverändert zu den versicherungsvertraglichen Bedingungen fortbesteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
IV. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Streitwert: 66.954 Euro.
Gründe
I.
Der Kläger begehrt Leistungen aus einer zugunsten seines am … geborenen Sohns als versicherter Person bei der Beklagten genommenen Kinder-Existenzschutzversicherung.
Für den Versicherungsvertrag wurde am 16.08.2016 der Versicherungsschein ausgestellt, als Versicherungsbeginn ist der 13.07.2016, 12 Uhr, festgelegt. Im Antrag vom 12.07.2016 ist die Frage, ob seit der Geburt stationäre Behandlungen stattgefunden hätten, mit „Nein“ beantwortet.
Nach Ziff. 5 der Allgemeinen Bedingungen für die Existenzschutzversicherung (AB ESV 2016) erbringt die Beklagte Versicherungsleistungen nach Ziff. 1.2,
„wenn die versicherte Person auf Grund eines Unfalles oder wegen einer während der Vertragslaufzeit diagnostizierten Krankheit eine Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB XI erhält (Stand: Juli 2015)“.
Unter Ziff. 9 AB ESV 2016 sind Fälle aufgeführt, in denen der Versicherungsschutz ausgeschlossen ist. Dazu ist in Ziff. 9.1 AB ESV 2016 geregelt:
„Für Krankheiten, die zur Erbringung von Leistungen aus dem Organkonzept (Ziffer 3), aufgrund des Verlusts von Grundfähigkeiten (Ziffer 4) oder wegen Pflegebedürftigkeit (Ziffer 5) führen, besteht eine Wartefrist. Die Wartefrist beträgt sechs Monate und beginnt ab dem im Versicherungsschein dokumentierten Vertragsbeginn. … Das bedeutet: Liegt der Zeitpunkt des ersten Auftretens oder der Diagnosestellung dieser Krankheiten innerhalb der Wartefrist, sind diese Krankheiten und die daraus resultierenden Krankheitsfolgen, auch wenn sie nach Ablauf der Wartefrist entstehen, nicht mitversichert.“
Das Kind des Klägers war bei Antragstellung 9 Monate alt. Sein Körpergewicht war von Geburt an deutlich unterdurchschnittlich. Es befand sich vom 14. bis zum 17.12.2015 stationär in einem Klinikum, wohin es mit Verdacht auf eine Sepsis stationär eingewiesen worden war. Dieser Verdacht bestätigte sich nicht, sondern es stellte sich ein Virusinfekt (Parovirus B 19 – Erreger der Ringelröteln) heraus (vgl. dazu den Entlassbericht vom 17.12.2015 – Anlage E 3). Vom 13. bis zum 17.01.2017 wurde das Kind erneut stationär in dasselbe Klinikum eingewiesen (vgl. dazu den Entlassbericht vom 03.02.2017 – Anlage K 5). Später wurde bei ihm eine Mukoviszidose mit Lungen- und Darmmanifestation diagnostiziert (vgl. dazu den Arztbrief über eine ambulante Vorstellung am 10.05.2017 – Anlage K 3). Seit dem 01.08.2017 ist das Kind wegen der Erkrankung an Mukoviszidose laut einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vom 19.10.2017 in den Pflegegrad 2 eingestuft.
Der Kläger hat am 05.01.2018 die Zahlung von Versicherungsleistungen beantragt. Mit Schreiben vom 21.06.2018 (Anlage E 1) erklärte die Beklagte die Anfechtung des Vertrages, hilfsweise den Rücktritt, dies mit der Begründung, dass der Versicherungsnehmer die vor Antragstellung vorliegende Erkrankung infolge eines Infekts durch einen Parovirus B 19 nicht angezeigt habe. Mit Schreiben vom 17.12.2018 (Anlage E 2) erklärte die Beklagte zusätzlich die Anfechtung, weil die stationäre Krankenhausbehandlung in der Zeit vom 14.12.2015 bis zum 17.12.2015 nicht angezeigt worden sei.
Der Kläger hat in erster Instanz geltend gemacht, von dem Infekt mit dem Parovirus B 19 im Jahr 2015 erst durch das erste Anfechtungsschreiben im Juni 2018 erfahren zu haben. Am Tag der Entlassung habe man ihm und seiner Frau lediglich mitgeteilt, es handele sich um einen harmlosen Infekt. Auch hinsichtlich des Krankenhausaufenthalts im Jahr 2015 ist der Kläger der Ansicht, nicht gegen eine Anzeigepflicht verstoßen zu haben. Ihm und seiner Frau sei lediglich mitgeteilt worden, dass das Kind nur zur Beobachtung dort gewesen sei. Dies stelle keine Behandlung im Sinne der Gesundheitsfrage dar. Die diesbezügliche Rücktrittserklärung sei zudem verspätet, da der Rücktritt nicht binnen der Monatsfrist erklärt worden sei. Die Beklagte könne sich überdies nicht auf die Wartefrist nach Ziff. 9.1 AB ESV 2016 berufen. Im maßgeblichen Zeitraum habe es noch keine gesicherte Diagnose für die Erkrankung an Mukoviszidose gegeben. Der Kläger hat in erster Instanz die Zahlung von 15.300 Euro und von 3.654 Euro nebst Zinsen und einer monatlichen Rente i.H.v. 914 Euro ab dem 01.05.2019 – einschließlich bedingungsgemäßer Erhöhungen – begehrt sowie die Feststellung, dass der Vertrag durch die Erklärungen vom 21.06.2018 und vom 17.12.2018 nicht beendet worden sei.
Die Beklagte, die Abweisung der Klage beantragt hat, hat in erster Instanz die Ansicht vertreten, sie habe den Vertrag wegen der Verletzung einer vorvertraglichen Anzeigepflicht wirksam angefochten, zumindest aber sei sie wirksam davon zurückgetreten. Zudem seien Versicherungsleistungen ausgeschlossen, weil die Klausel zur Wartefrist nach Ziff. 9.1. AB ESV 2016 eingreife. Die pflegebegründende Erkrankung an Mukoviszidose sei Anlass für die stationäre Behandlung in der Zeit vom 13.01 bis zum 17.01.2017 gewesen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in erster Instanz wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung und die jeweils gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dazu hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf die geltend gemachten Zahlungen. Es könne offenbleiben, ob die Leistungsansprüche bereits durch die Wartefrist-Klausel ausgeschlossen seien, da der Vertrag jedenfalls infolge wirksamer Anfechtung durch die Beklagte beendet worden sei. Das Verschweigen des Krankenhausaufenthaltes im Jahr 2015 begründe eine arglistige Täuschung i.S. von § 123 BGB.
Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er führt unter anderem aus, das Landgericht meine fehlerhaft, eine arglistige Täuschung annehmen zu können, weil er im Antrag die Frage „Fanden seit Geburt Operationen (auch ambulante) oder stationäre Behandlungen statt?“ mit „Nein“ beantwortet habe und die stationäre Einweisung für 3 Tage zur Abklärung einer vermuteten Sepsis eine anzeigepflichtige Behandlung darstelle. Zum einen könne schon eine „Behandlung“ nicht angenommen werden, zum anderen habe sich das Landgericht nicht mit seiner Einlassung auseinandergesetzt – unabhängig von jeder Schwere einer ärztlichen Maßnahme oder der Dauer eines stationären Aufenthalts – einem grundlegenden Begriffs- und Bedeutungsirrtum unterlegen gewesen zu sein.
Der Kläger beantragt,
1. das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 11.09.2020 – 18 O 109/19 – aufzuheben;
2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn aus dem Vertrag Nr. … … für den Zeitraum vom 01.08.2017 bis 31.12.2018 15.300 Euro zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs zu zahlen;
3. die Beklagte weiter zu verurteilen, an ihn aus dem Vertrag … für den Zeitraum vom 01.01.2019 bis 30.04.2019 3.654 Euro zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs zu zahlen;
4. die Beklagte weiter zu verurteilen, an ihn aus dem Vertrag … ab 01.05.2019 monatlich, monatlich im Voraus, 914 Euro zu zahlen, wobei sich dieser Betrag jeweils zum 01.01. eines jeden folgenden Kalenderjahres um jeweils 1,5 Prozent (unter Beachtung der Rundungsregelung in Nr. 10.2 der „Allgemeine[n] Bedingungen für die Existenzschutzversicherung [AB ESV 2016].“) erhöht, dies längstens für die Dauer der Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB XI (Stand Juli 2015) bzw. Pflegegrad 2, 3, 4 oder 5 nach SGB XI (Stand Januar 2017) betreffend die versicherte Person, …, geboren am …, und längstens bis zum Erreichen von dessen 67. Lebensjahres;
5. festzustellen, dass der Vertrag Nr. … weder durch die Anfechtung der Beklagten vom 21.06.2018 noch durch deren Rücktrittserklärung vom gleichen Tag, sowie auch nicht durch deren weitere Anfechtungserklärung vom 17.12.2018 beendet worden ist, sondern unverändert zu den versicherungsvertraglichen Bedingungen fortbesteht.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des Landgerichts und bringt ergänzend vor. Sie macht unter anderem geltend, das Erstgericht habe sich mit den vorgelegten Unterlagen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt und dabei in dem Verschweigen des Krankenhausaufenthaltes im Zeitraum vom 14.12.2015 bis zum 17.12.2015 eine arglistige Täuschung seitens des Klägers angenommen, so dass sie den Vertrag jedenfalls mit der Erklärung vom 17.12.2018 wirksam habe anfechten können. Der Kläger habe dabei auch in subjektiver Hinsicht arglistig gehandelt. Es sei offensichtlich seine Intention gewesen, einer Nachprüfung des Antrags von ihrer Seite zu entgehen. Die Nichtangabe des stationären Krankenhausaufenthaltes im Jahr 2015 sei im Übrigen kausal geworden. Bei dessen Kenntnis wäre ihrerseits eine Nachfrage erfolgt, was stationär behandelt worden sei; in der Folge wäre eine Vertragsannahme jedenfalls in der zur Deckung gelangten Form nicht erfolgt. Zudem habe sie mit dem Schreiben vom 21.06.2018 auch innerhalb der Monatsfrist wirksam den Rücktritt erklärt, jedenfalls werde die Nichteinhaltung der Rücktrittsfrist bestritten, nachdem die Darlegungs- und Beweislast für das Erlöschen eines Rücktrittrechts auf Seiten des Klägers liege.
Darüber hinaus sei bereits ein Leistungsfall nicht begründet, da jedenfalls die vertraglich vereinbarte Wartefrist nicht eingehalten sei. Unabhängig davon, wann die Diagnose gestellt worden sei, sei zwingend, dass die Krankheit innerhalb der Wartefrist erstmals aufgetreten sei, anderenfalls wäre es nicht zu der stationären Behandlung in der Zeit vom 13.01. bis zum 16.01.2017 gekommen. Mit der Formulierung in Ziff. 9.1 AB ESV 2016 werde hinreichend deutlich, dass der „Zeitpunkt des ersten Auftretens“ einer Krankheit sicherlich nicht mit „dem Zeitpunkt der ersten Diagnosestellung“ gleichzusetzen sei. Andernfalls hätte man diese Alternativen nicht in den Vertragstext aufgenommen, sondern einen Zeitpunkt dergestalt formuliert, in dem eine Diagnosestellung möglich gewesen wäre.
Überdies sei für den Eintritt des Versicherungsfalls auf eine Einstufung in die Pflegestufe I, II oder III nach SGB XI nach dem Stand Juli 2015 abzustellen. Für das Bestehen der Leistungsansprüche sei deshalb entscheidend, ob das Kind des Klägers einen Gesundheitszustand aufweise, der die damals zwischen den Parteien vereinbarten vertraglichen Kriterien von „Pflegestufe I, II oder III nach SGB“ erfülle. Die reformierte Skala der Pflegegrade könne keine Anwendung finden; eine ergänzende Vertragsauslegung, die einen Versicherungsschutz ab dem Pflegegrad 2 annehme, komme nicht in Betracht. Der vormaligen Einstufung in die Pflegestufen habe ein anderes Bewertungssystem zugrunde gelegen, dessen sie sich durch die Inbezugnahme in den AVB bedient habe. Die Kriterien seien andere als nun für die Eingruppierung in die jeweiligen Pflegegrade, sodass eine Übertragbarkeit schlicht nicht gegeben sei.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in zweiter Instanz wird auf die dort gewechselten Schriftsätze (Kläger: 14.12.2020, 12.01.2021, 15.02.2021 und 03.03.2021; Beklagte: 03.02.2021 und 23.02.2021) Bezug genommen.
Vor dem Senat fand am 04.03.2021 eine mündliche Verhandlung statt, in der der Kläger persönlich angehört worden ist. Auf das Protokoll wird Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet, nachdem ihm die mit der zulässigen Klage verfolgten Ansprüche zustehen.
A.
Die Beklagte kann sich nicht auf eine Anfechtung ihrer Vertragserklärung wegen arglistiger Täuschung i.S. von § 123 Abs. 1 BGB oder auf einen – hilfsweise erklärten – Rücktritt nach § 21 VVG – wie im Schreiben vom 21.06.2018 (Anlage E 1) erklärt – berufen, weil der Kläger verschwiegen habe, dass sein Kind bei Antragstellung bereits an einem Infekt durch Parovirus B 19 erkrankt gewesen sei. Das ist auf den entsprechenden Antrag hin (Ziff. 5 – 1. Alt.) festzustellen.
1. Nach dem unstreitigen Tatbestand der angefochtenen Entscheidung ist dem Kläger dieser Infekt bei einer Vorstellung in einer Kinderarztpraxis im Januar 2016 nicht mitgeteilt worden, bei Entlassung seines Kindes aus dem Krankenhaus stand die benannte Infektion nach den vorliegenden Unterlagen noch nicht fest.
Damit ergibt sich keine hinreichende Grundlage für eine Kenntnis und mithin für eine vorsätzliche oder gar arglistige Verletzung einer Aufklärungsobliegenheit nach § 19 Abs. 1 VVG. Anderes hat die Beklagte – auf den diesbezüglichen Hinweis des Senats in der Verfügung vom 16.12.2020 – auch im Rahmen der Berufungserwiderung nicht vorgebracht.
Daher scheidet hier eine Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB aus, ebenso ein Rücktritt, der sich auf eine vorsätzliche Verletzung einer Aufklärungspflicht nach § 19 Abs. 1 VVG stützt.
2. Auch ein auf eine grob fahrlässige Verletzung einer Anzeigepflicht gestützter Rücktritt kommt hier nicht in Betracht.
Es ist nicht einmal im Ansatz ersichtlich, dass dem Kläger vorgeworfen werden könnte, er habe einen Infekt seines Kindes mit dem Parovirus B 19 in grob fahrlässiger Weise nicht mitgeteilt, nachdem ihm und seiner Frau – nach dem unstreitig zugrunde zu legenden Vorbringen – ein solcher Infekt nicht mitgeteilt worden war. Denn dies setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus, der indes nicht erkennbar ist, nachdem ein irgendwie gearteter Anhalt für das Bestehen eines solchen Infekts beim Kläger und dessen Ehefrau gefehlt hat.
B.
Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg auf die im Schreiben vom 17.12.2018 (Anlage E 2) erklärte Anfechtung berufen, die sich auf eine nicht angezeigte stationäre Krankenhausbehandlung in der Zeit vom 14.12.2015 bis zum 17.12.2015 stützt. Das ist auf den hierauf bezogenen Antrag (Ziff. 5 – 2. Alt.) hin festzustellen.
1. Bei Antragstellung hat die Beklagte gefragt: „Fanden seit Geburt Operationen (auch ambulante) oder stationäre Behandlungen statt?“, was vom Kläger verneint wurde.
Der Krankenhausaufenthalt des Kindes des Klägers im Dezember 2015 stellt indes eine „stationäre Behandlung“ dar, die nicht angegeben wurde, so dass die Verletzung einer vorvertraglichen Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 VVG anzunehmen ist.
Angesichts der beim Kind des Klägers vorgenommenen Untersuchungen ist der stationäre Aufenthalt vom 14.12.2015 bis zum 17.12.2015 als „Behandlung“ anzusehen. Während dieser Zeit erfolgten zur Diagnosestellung (vgl. dazu den ärztlichen Entlassbericht vom 17.12.2015 – Anlage E 3) neben einer normalen Aufnahmeuntersuchung Untersuchungen einer Stuhl- und einer Blutkultur, eine Feststellung des Urinstatus, eine Serologie sowie eine Echokardiographie. Auch wenn die Entlassung nur „in die ambulante Betreuung“ geschah und sonst nichts weiter veranlasst worden ist, ist hierin schon eine ärztliche Behandlung zu sehen, da eine umfangreiche Diagnostik nebst darauf basierender ärztlicher Bewertung vorgenommen worden ist.
2. Allerdings geht der Senat nicht von einem arglistigen Verhalten des Klägers im Rahmen der Antragstellung aus, so dass sich die Beklagte nicht auf eine Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB berufen kann.
a) Von einem arglistigen Verhalten ist auszugehen, wenn der Täuschende weiß oder damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass er unzutreffende Angaben macht, und dass dadurch bei dem Empfänger seiner Erklärung eine falsche Vorstellung entsteht und diese ihn zu einer Erklärung veranlasst, die er bei richtiger Kenntnis der Dinge nicht oder nicht so abgegeben haben würde.
Das Tatbestandsmerkmal der Arglist erfasst nicht nur ein Handeln, das von betrügerischer Absicht getragen ist, sondern auch solche Verhaltensweisen, die auf bedingten Vorsatz im Sinne eines „Fürmöglichhaltens“ reduziert sind und mit denen ein moralisches Unwerturteil nicht verbunden sein muss. Auf Arglist als innere Tatsache kann regelmäßig nur auf der Grundlage von Indizien geschlossen werden. Voraussetzung für die Annahme einer arglistigen Täuschung ist somit, dass der Versicherungsnehmer mit wissentlich falschen Angaben von Tatsachen bzw. dem Verschweigen anzeige- und offenbarungspflichtiger Umstände auf die Entschließung des Versicherers, seinen Versicherungsantrag anzunehmen, Einfluss nehmen will und sich bewusst ist, dass der Versicherer möglicherweise seinen Antrag nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen annehmen werde, wenn er wahrheitsgemäße Angaben mache. Arglistig handelt damit nur derjenige, dem bei der Beantwortung der Fragen nach dem Gesundheitszustand auch bewusst ist, dass die Nichterwähnung der nachgefragten Umstände geeignet ist, die Entschließung des Versicherers über die Annahme des Vertragsangebots zu beeinflussen.
b) Dies zugrunde gelegt, kommt nach der vor dem Senat erfolgten ergänzenden Anhörung des Klägers und angesichts von dessen Angaben in erster Instanz die Feststellung einer Arglist nicht in Betracht.
aa) Der Kläger hat vor dem Landgericht angegeben, die Frage bezüglich der Behandlung habe er mit „Nein“ beantwortet, weil ihm und seiner Frau im Krankenhaus an dem Tag der Entlassung erklärt worden sei, dass es sich um einen harmlosen Infekt handeln würde. Ihr Kind sei auch nur wegen des Verdachts einer Sepsis eingeliefert worden. Er habe die Frage bezüglich der stationären Behandlung verneint, weil das Kind nicht zur Behandlung, sondern lediglich zur Beobachtung im Krankenhaus gewesen sei.
bb) Das hat der Kläger im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat bestätigt.
Er gibt an, dass ihr Kind im Bereich der Extremitäten einen rötlichen Ausschlag gehabt habe, weswegen ihn die Kinderärztin in eine Kinderklinik zum Ausschluss einer Sepsis eingewiesen habe. Die Überwachung sei allerdings unauffällig gewesen, eine Sepsis habe nicht festgestellt werden können. Ihnen sei etwas von einem viralen Infekt gesagt worden, der allerdings nicht weiter präzisiert worden sei. Sie hätten ihr Kind nach 3 Tagen der Beobachtung wieder mit nach Hause nehmen können. Weitere Behandlungen, Behandlungstermine oder Kontrolltermine seien nicht vereinbart worden, ihnen sei diesbezüglich nichts geraten worden. Bei der Beantwortung der Antragsfragen sei er hinsichtlich dieser stationären Behandlung der Ansicht gewesen, dass letztlich, da nur eine Beobachtung ohne weitere Konsequenzen stattgefunden habe, eine stationäre Behandlung schon gar nicht vorgelegen habe. Deswegen habe er diesen Aufenthalt nicht angegeben.
cc) Auf dieser Grundlage lässt sich nicht auf eine Arglist schließen.
Zu beachten sind insofern die konkreten Umstände des hier zu beurteilenden Einzelfalls, die insbesondere die Art, Schwere und Zweckrichtung der Falschangaben, den Umfang der verschwiegenen Tatsachen, die Dauer der Störungen, die Auswahl der genannten und nicht genannten Befunde sowie die zeitliche Nähe zur Antragstellung berücksichtigen.
Der Kläger und seine Frau hatten keine Kenntnis von der Diagnose Parovirus B 19. Der schwerwiegende Verdacht einer Sepsis hatte sich nicht bestätigt. In der Nachbetrachtung mussten und konnten beide, denen ein nicht spezifizierter viraler Infekt mitgeteilt worden war, davon ausgehen, dass der – kurz dauernde – Krankenhausaufenthalt letztlich nur ein „falscher Alarm“ gewesen ist. Es war lediglich eine Diagnostik durchgeführt worden, die aus Sicht des Klägers letztlich ohne nachhaltigen Befund geblieben ist und die infolgedessen auch nicht zu einer weiteren ärztlichen Behandlung zur Abklärung einer Diagnose o.ä. geführt hätte. Dabei drängte sich auch nicht auf, dass eine ernsthafte und behandlungsbedürftige Erkrankung des Kindes Hintergrund des Krankenhausaufenthaltes hätte gewesen sein können, nachdem Folgerungen und Konsequenzen hieraus auch nach dem im Anschluss stattgefundenen Kinderarztbesuch nicht zu ziehen waren und lediglich ein „viraler Infekt“ in Rede stand. Daher durfte der Kläger davon ausgehen, dem Krankenhausaufenthalt vom Dezember 2015 komme eine sonderliche Bedeutung nicht zu. Vor diesem Hintergrund kann aus der vom Kläger geschilderten Überlegung, er habe den Aufenthalt deswegen schon gar als anzeigepflichtig angesehen habe, weil es an einer Behandlung gefehlt habe, nach der Bewertung des Senats nicht der Schluss gezogen werden, hieraus ergebe sich ein Hinweis auf eine Intention, die Beklagte zu einem Vertragsschluss zu bewegen, zu dem sie sonst nicht bzw. nicht zu diesen Bedingungen bereit gewesen wäre.
Ein Bezug des Krankenhausaufenthaltes zur später abgeschlossenen Existenzschutzversicherung lag für den Kläger infolgedessen nachvollziehbar nicht auf der Hand, so dass ein bestimmter Zweck oder ein Ziel, der bzw. das mit dem Verschweigen gerade dieses – ohne nachhaltigen Befund gebliebenen – Krankenhausaufenthaltes einhergehen könnte, nicht erkennbar ist. Das wird dadurch gestützt, dass der Kläger bei Antragstellung das schon damals geringe Körpergewicht von 6,4 kg und die geringe Körpergröße von 64 cm angegeben und das Vorsorgeheft in Kopie übermittelt hatte. Eine Abweichung von der „Norm“, die den generellen Gesundheitszustand des Kindes kennzeichnet und nicht nur – wie der verschwiegene, aber folgenlose Krankenhausaufenthalt – eine kurze Episode betrifft, waren daher für die Beklagte ohne weiteres erkennbar.
C.
Dem geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Versicherungsleistung steht nicht der in Ziff. 9.1. AB ESV 2016 bestimmte Leistungsausschluss in Gestalt einer Wartefrist entgegen.
1. Die Wartefrist beträgt nach Ziff. 9.1. AB ESV 2016 6 Monate und beginnt ab dem im Versicherungsschein dokumentierten Vertragsbeginn, mithin ab dem 13.07.2016, 12 Uhr. Sie endete – nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers, der auch der Nennung einer Uhrzeit Bedeutung beimessen wird – am 13.01.2017 um 12 Uhr mittags.
Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht von einem „ersten Auftreten“ oder einer „Diagnosestellung“ hinsichtlich der Mukoviszidose-Erkrankung des Kindes auszugehen. Unstreitig erfolgte die Diagnosestellung nach dem 13.01.2017, sie ergab sich erst in der Folge des Krankenhausaufenthaltes vom 13.01.2017 bis zum 16.01.2017 (vgl. Anlage K 5). Aber auch ein „erstes Auftreten“ bis zum 13.01.2017 ist abzulehnen, ohne dass es insofern einer sachverständigen Begutachtung bedürfte.
a) Die Wartefrist nach Ziff. 9.1. AB ESV 2016 ist in den Versicherungsbedingungen als Risikoausschluss ausgestaltet.
Bei der Auslegung eines solchen Risikoausschlusses, geht das Interesse des Versicherungsnehmers regelmäßig dahin, dass der Versicherungsschutz nicht weiter verkürzt wird, als der erkennbare Zweck der Klausel dies gebietet. Der Anwendungsbereich solcher Risikoausschlüsse darf daher nicht weiter gefasst werden, als es ihr Sinn unter Beachtung des wirtschaftlichen Ziels und der gewählten Ausdrucksweise erfordert. Denn der durchschnittliche Versicherungsnehmer braucht nicht damit zu rechnen, dass er Lücken im Versicherungsschutz hat, ohne dass ihm diese hinreichend verdeutlicht werden. Risikoausschlüsse sind demnach grundsätzlich eng auszulegen (vgl. dazu nur BGH, Beschluss vom 15.09.2010 – IV ZR 113/08 Rn. 6).
b) Dies zugrunde gelegt, wird ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer erkennen, dass die Wahrung der Wartezeit an zwei alternativ genannte Ereignisse anknüpft.
aa) Das erste Ereignis ist mit der „Diagnosestellung“ ein für ihn unmittelbar nachvollziehbarer Zeitpunkt. Eine Diagnosestellung wird in aller Regel dokumentiert bzw. lässt sich aus ärztlichen Unterlagen ableiten. Daher ist es dem Versicherungsnehmer möglich zu bestimmen, ob ein geltend zu machender Versicherungsfall der Wartefrist unterfällt oder nicht.
bb) Demgegenüber ist der Zeitpunkt des „ersten Auftretens“ der Krankheit wesentlich unschärfer gefasst und für den Versicherungsnehmer schwerer nachzuvollziehen. Einen – auch mit Blick auf § 307 BGB – zulässigen Inhalt wird dieser Klausel daher nur beizumessen sein, wenn dieser Zeitpunkt ebenso bestimmt bzw. bestimmbar ist wie derjenige der Diagnosestellung.
Zugleich führt die Gleichsetzung des „ersten Auftretens“ mit der „Diagnosestellung“ dazu, dass ein Versicherungsnehmer erwarten wird, dass es sich hierbei nicht um wesentlich verschiedene Zeitpunkte handelt. Er wird vielmehr annehmen, dass mit beiden Begrifflichkeiten im Wesentlichen vergleichbare Zeitpunkte beschrieben werden sollen. Dann aber liegt für ihn der Schluss nahe, dass mit dem weiteren Merkmal des „ersten Auftretens“ nur Zufälligkeiten des Zeitpunkts der „Diagnosestellung“ entgegnet werden soll. Dies wiederum lässt für ihn – auch mit Blick auf die zuvor beschriebenen Auslegungsgrundsätze – den Schluss zu, dass mit dem „ersten Auftreten“ nur derjenige Zeitpunkt gemeint sein kann, zu dem eine Diagnosestellung erstmals für den – konkret – behandelnden Arzt – nicht aber für einen Sachverständigen, dem vielleicht besondere Kenntnisse zukommen – möglich gewesen ist. Ein weitergehendes Verständnis des Begriffs des „ersten Auftretens“ würde gegebenenfalls nicht nur zu einer weitgehenden zeitlichen Vorverlagerung des Beginns der Wartefrist führen können und sondern zudem erhebliche Unsicherheiten in der Bewertung für den Versicherungsnehmer mit sich bringen. Geringfügige Symptome einer Erkrankung können sich unter Umständen oftmals Jahre vor einer gesicherten Diagnosestellung zeigen, ohne dass dem für behandelnde Ärzte bereits eine Bedeutung beigemessen werden kann, und in der Folge auch erst sehr spät einer spezifischen Erkrankung zugeordnet werden. Dies würde zu Ungewissheiten führen, die mit dem Charakter der hier formulierten Ausschlussklausel nicht in Einklang zu bringen sind.
c) Demnach kommt es für die Beurteilung, ob hier die Wartefrist nach Ziff. 9.1. AB ESV 2016 eingehalten ist, darauf an, zu welchem Zeitpunkt beim Kind des Klägers während des Klinikaufenthalts vom 13.01.2017 bis zum 17.01.2017 eine Diagnosestellung möglich gewesen ist.
Auf der Grundlage der erstinstanzlichen Beweisaufnahme und der vorgelegten ärztlichen Unterlagen ergibt sich insofern Folgendes: Das Kind des Klägers wurde am 13.01.2017 in das Klinikum eingeliefert. Ausweislich der Zeugenvernehmung von … lag an diesem Tag (Freitag, gegen 15.30 Uhr) erst das – im weitesten Sinne unauffällige – Ergebnis der Blutuntersuchung vor. Die Ergebnisse der Stuhluntersuchung sollten demgegenüber normalerweise ein paar Tage benötigt haben, der richtungweisende – erste – Schweißtest ist erst am 16.01.2017 durchgeführt worden.
Daraus ergibt sich, dass eine gesicherte Diagnosestellung am 13.01.2017 – weder um 12 Uhr noch um 24 Uhr – möglich gewesen ist, auch wenn eine früher eingeleitete Diagnostik theoretisch bereits zu diesen Zeitpunkten zu einer entsprechenden Diagnosestellung hätte führen können.
D.
Nach Ziff. 5 AB ESV 2016 erbringt die Beklagte Versicherungsleistungen nach Ziff. 1.2, wenn die versicherte Person aufgrund eines Unfalles oder wegen einer während der Vertragslaufzeit diagnostizierten Krankheit eine Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB XI erhält (Stand: Juli 2015). Diese Bestimmung ist nach Änderungen der diesbezüglichen Bestimmungen des SGB XI dahin zu verstehen, dass die Beklagte bei einer Einstufung in den Pflegegrad 2 bis 5 i.S. von § 15 SGB XI zur Leistung verpflichtet ist. Demnach ist sie hier dem Kläger gegenüber zur Leistung verpflichtet, nachdem dessen Kind vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) der Pflegegrad 2 zuerkannt worden ist.
1. Der Kläger hat den Abschluss des hier zugrundeliegenden Versicherungsvertrags am 12.07.2016 beantragt. Zum damaligen Zeitpunkt war noch eine Einstufung in die Pflegestufen I bis III nach dem SGB XI möglich. Das gilt auch für den Tag der Ausstellung des Versicherungsscheins (16.08.2016). Zum 01.01.2017 wurde die bis dahin geltende gesetzliche Regelung indes geändert. In § 15 SGB XI wurden Pflegegrade (1 bis 5) eingeführt, die in ihren Voraussetzungen und Anforderungen nicht deckungsgleich mit den zuvor bestehenden Pflegestufen (I bis III) sind.
Die Vergabe von Pflegestufen nach früherem Recht erfolgte durch die nach dem SGB XI zuständigen Stellen, das gilt ebenso für die nunmehr anzuwendenden Pflegegrade. Beim Kind des Klägers war vor dem 01.01.2017 eine Einordnung in eine Pflegestufe noch nicht möglich, erstmals erfolgte im Laufe des Jahres 2017 eine solche Einstufung, die ab dem 01.08.2017 vorgenommen wurde. Dabei konnten jedoch nur die Pflegegrade nach der Neufassung des § 15 SGB XI Berücksichtigung finden.
2. Die Regelung in Ziff. 5 AB ESV 2016 soll – nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers – klare Kategorien aufzeigen, wenn sie für die Leistungserbringung an die von externer Stelle vorzunehmende Beurteilung einer Pflegebedürftigkeit abstellt. Dabei werden alle zum damaligen Zeitpunkt bestehenden Pflegestufen umfasst. Der Versicherungsnehmer kann daher den naheliegenden Schluss ziehen, dass die Beklagte für jeden Fall der Pflegebedürftigkeit Versicherungsleistungen erbringen möchte, nachdem sie ersichtlich keine irgendwie geartete Form der Abstufung vorgenommen hat. Das wird unterstrichen durch den Blick in Ziff. 1.1 AB ESV 2016, wo als einer von 4 Leistungsfällen der – allgemein formuliert – „Eintritt der Pflegebedürftigkeit“ definiert ist.
Ausgehend von den nunmehr geltenden gesetzlichen Regelungen des SGB XI ist eine Einstufung in die Pflegestufen I bis III nicht mehr möglich, zugleich wird auch eine von externer Stelle vorzunehmende Beurteilung einer Pflegebedürftigkeit nicht mehr hierzu führen können. Seit dem 01.01.2017 ergibt sich insofern nur die Möglichkeit einer Einordnung nach den Pflegegraden des § 15 SGB XI. Demnach liefe die Vertragsregelung für jeden, bei dem eine Pflegebedürftigkeit nach dem 01.01.2017 eingetreten ist, leer, ein wesentlicher Leistungsfall der hier genommenen Existenzschutzversicherung fiele danach weg, der Vertragszweck wäre gefährdet (§ 307 BGB). Daher ist eine ergänzende Vertragsauslegung geboten, nachdem Leistungspflichten und Ansprüche der Parteien betroffen sind. In einem solchen Fall ist die Ergänzung unverzichtbar (vgl. dazu allgemein BGH, Urteil vom 12.10.2005 – IV ZR 162/03).
Diese Ergänzung hat sich an dem im Vertrag zum Ausdruck kommenden Regelungswillen der Parteien und den beiderseitigen Interessen zu orientieren. Dabei ist zu beachten, dass das allgemeine und generell ausgesprochene Leistungsversprechen der Beklagten sich zunächst auf den „Eintritt der Pflegebedürftigkeit“ bezieht. Dieser Begriff der Pflegebedürftigkeit wird auch in der Neuregelung der §§ 14 f. SGB XI zugrunde gelegt. Bei Pflegebedürftigkeit wird nunmehr ein Pflegegrad vergeben, ebenso wie zuvor Pflegestufen bestimmt worden sind. Dabei hat die Beklagte auch in Ziff. 5 AB ESV 2016 nicht danach differenziert, inwieweit eine Pflegebedürftigkeit besteht. Das führt im Grundsatz dazu, im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung sämtliche Pflegegrade nach § 15 SGB XI als Auslöser einer Leistungspflicht des Versicherers anzusehen, da in den Versicherungsbedingungen eine etwaige Unerheblichkeit einer nur geringeren Pflegebedürftigkeit nicht zum Ausdruck kommt.
Andererseits ist – mit Blick auf die Interessen der Beklagten – zu beachten und zu bedenken, dass dadurch das Leistungsversprechen des Versicherers ausgeweitet würde. Der Pflegegrad 1 ist bereits bei deutlich niederschwelligeren Beeinträchtigungen anzunehmen, als dies bei der vorherigen Pflegestufe I der Fall gewesen ist. Entsprechend sieht § 140 Abs. 2 Satz 3 SGB XI für diejenigen, bei denen vor dem 01.01.2017 die Pflegestufe I bestanden hat, eine Überleitung in den Pflegegrad 2 vor, soweit nicht zusätzlich eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz besteht.
Im Ergebnis führt diese Überlegungen dazu, die Regelung in Ziff. 5 AB ESV 2016 dahin ergänzend auszulegen, dass die Beklagte Versicherungsleistungen erbringt, wenn die versicherte Person wegen einer während der Vertragslaufzeit diagnostizierten Krankheit eine Einstufung in den Pflegegrad 2, 3, 4 oder 5 nach SGB XI erhält (Stand: Januar 2017).
E.
Ausgehend von Vorstehendem kann der Kläger hier Versicherungsleistungen beanspruchen.
Ihm steht daher zunächst ein Anspruch auf Zahlung einer monatlichen Rente i.H.v. 900 Euro ab dem 01.08.2017 zu, zu dem die Einstufung des Kindes des Klägers nach dem Pflegegrad 2 erfolgt ist (vgl. Ziff. 15 AB ESV 2016). Dieser wird bis zum 31.12.2018 geltend gemacht, so dass sich ein Zeitraum von 17 Monaten und damit ein Gesamtbetrag von 15.300 Euro ergibt (Antrag Ziff. 2), der nach §§ 288, 291 BGB ab Rechtshängigkeit – ab dem 26.04.2019 – zu verzinsen ist (entsprechende Anwendung von § 187 BGB bei Zustellung am 25.04.2019).
Für den nachfolgenden Zeitraum von Januar 2019 bis April 2019 (Antrag Ziff. 3) kann der Kläger nach Ziff. 10.2 AB ESV 2016 eine um 1,5 Prozent gesteigerte Rente beanspruchen, mithin 914 Euro pro Monat und im Gesamten 3.656 Euro. Auch dieser Betrag ist nach §§ 288, 291 BGB ab Rechtshängigkeit zu verzinsen.
Darüber hinaus hat der Kläger einen Anspruch auf künftige Rentenzahlungen (Antrag Ziff. 4), dies in Ansehung der vorzunehmenden ergänzenden Vertragsauslegung – mithin für die Dauer der Einstufung nach dem Pflegegrad 2 bis 5 nach SGB XI (Stand: Januar 2017). Der Anspruch besteht – ungeachtet des vereinbarten Versicherungsablaufs am 01.08.2033 – bis längstens zum 67. Lebensjahr.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Die Festsetzung des Gegenstandswerts ergibt sich wie folgt:
– Antrag Ziff. 2: 15.300 Euro;
– Antrag Ziff. 3: 3.654 Euro;
– Antrag Ziff. 4: 40.000 Euro (künftige Rente: (3,5 x 12 x 914 Euro) + Zuschlag, § 9 ZPO;
– Antrag Ziff. 5: 8.000 Euro (20 Prozent von 3,5 x 12 x [914 Euro] + Zuschlag).