Oberlandesgericht Hamburg – Az.: 14 U 97/16 – Urteil vom 29.06.2018
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg, Zivilkammer 2, vom 05.04.2016, Az. 302 O 282/15, wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die angefochtene Entscheidung ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf € 10.932,11 festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus einem mit ihr geschlossenen Vollkaskoversicherungsvertrag auf Ersatz der Schäden in Anspruch, die ihr durch das Platzen des rechten Vorderreifens an ihrem LKW mit dem amtlichen Kennzeichen … bei einer Fahrt am 27.03.2015 auf der BAB … in Höhe N. entstanden sind.
Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, € 10.932,11 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.10.2015 zu zahlen. Es ist nach Vernehmung des Fahrers K. zu der Überzeugung gelangt, dass das Platzen des Reifens auf das Überfahren eines Holzteils zurückzuführen ist und in der Folge zu den geltend gemachten Fahrzeugschäden geführt hat. Insofern liege ein Unfall im Sinne von Ziffer A.2.3.2. der Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Beklagten vor, für dessen Folgen die Beklagte einzustehen habe.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten Berufung. Sie bestreitet ein von außen auf den Reifen einwirkendes Ereignis und behauptet, es liege ein Betriebsschaden vor, dessen Folgen die Klägerin selber zu tragen habe.
Sie beantragt, das angefochtene Urteil des Landgerichts vom 05.04.2016 (AZ: 302 O 282/15) abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Sie wiederholt und vertieft ihren Vortrag erster Instanz.
Ergänzend wird zum Sachvortrag der Parteien auf die zur Akte gelangten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat zu der Ursache des Reifen- und Fahrzeugschadens Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl. Ing. U. G. und hat den Sachverständigen ergänzend mündlich angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beweisbeschluss vom 28.02.2017, das Sachverständigengutachten vom 19.02.2018 sowie das Sitzungsprotokoll vom 25.05.2018 Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg. Der Senat teilt nach Einholung des Sachverständigengutachtens G. die vom Landgericht vertretene Ansicht, wonach es der Klägerin gelungen ist, einen versicherten Unfall im Sinne von Ziffer A.2.3.2 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AKB) der Beklagten nachzuweisen.
1. Ohne Erfolg wendet sich die Berufung gegen die Würdigung der erstinstanzlich erhobenen Beweise. Das Landgericht ist zu Recht von der Glaubwürdigkeit des Zeugen K. ausgegangen und hat dessen Aussage, der geplatzte Reifen am Fahrzeug der Klägerin sei auf das Überfahren eines Holzteils zurückzuführen, zutreffend für glaubhaft erachtet. Richtig ist zwar der Einwand der Berufung, dass in der Schadensmeldung der Klägerin gegenüber der Beklagten zunächst von dem Überfahren eines Gegenstandes überhaupt noch nicht die Rede war, sondern ein solcher Sachverhalt erstmals am 23.04.2015 vom Versicherungsmakler der Klägerin vorgetragen wurde. Zutreffend ist auch, dass die Klägerin den überfahrenen Gegenstand erstmals im Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 17.12.2015 als Holzkeil bezeichnet hat. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Zeuge K. im Termin vom 15.03.2016 nicht seine tatsächliche Wahrnehmung wiedergegeben, sondern einen erfundenen Sachverhalt geschildert hätte, um seiner Arbeitgeberin zu einer nicht berechtigten Kaskoentschädigung zu verhelfen, haben sich allerdings nicht ergeben. In der Verhandlung vor dem Landgericht hat sich vielmehr herausgestellt, dass der zunächst von der Klägerin abweichend geschilderte „Unfall-Hergang auf Missverständnissen bei der Übermittlung des Geschehens durch den LKW-Fahrer an den instruierten Vertreter der Klägerin, Herrn R., beruhte. Dieser hat bei seiner informatorischen Befragung nämlich erklärt, er sei am 28.03.2015 nach Mitternacht von dem Zeugen K. aus dem Schlaf geklingelt worden. Ungeachtet der ihm in dem Telefonat übermittelten Einzelheiten sei er von einer Leitplankenberührung des LKW ausgegangen, weil er einen solchen Vorfall selbst als Kraftfahrer zuvor erlebt und diesen noch bildlich vor Augen gehabt habe. Auf Grund dieser falschen Vorstellung habe er vermutlich bei der Schadensmeldung den Hergang entsprechend an die Beklagte weitergegeben. Dass der Zeuge K. den Vertretern seiner Arbeitgeberin gegenüber einen anderen Sachverhalt als anlässlich seiner gerichtlichen Zeugenvernehmung geschildert und zuvor auch erlebt hätte, konnte vor diesem Hintergrund jedenfalls nicht festgestellt werden. Nach seiner Bekundung ist er zu einer schriftlichen Schadensmeldung niemals aufgefordert worden. Gegen bewusst unwahre Angaben zugunsten der Klägerin spricht ferner, dass der Zeuge zum Zeitpunkt seiner Vernehmung überhaupt nicht mehr bei der Klägerin beschäftigt war.
Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen ergeben sich auch nicht daraus, dass es über den Vorfall keinen Polizeibericht gibt, obwohl Polizeibeamte gerufen wurden und angeblich auch am Unfallort erschienen sind und dem Zeugen von einem weggeräumten Holzkeil berichtet haben sollen. Da Drittschäden nicht verursacht wurden und die Gefahrensituation beseitigt war, bestand keine Notwendigkeit, einen Ermittlungsvorgang anzulegen. Entgegen der Ansicht der Berufung spricht gegen den Zeugen K. auch nicht, dass er sich das angeblich gefundene Holzstück nachträglich nicht noch einmal angesehen hat. Nach seinen Angaben war er inzwischen ca. 1 Kilometer gefahren. Außerdem musste er nicht davon ausgehen, dass die Details des überfahrenen Gegenstandes für die Schadensabwicklung später von Bedeutung sein würden.
2. Die Unfallschilderung des Zeugen K. ist schließlich nicht deshalb unglaubhaft, weil ein Holzstück der von ihm beschriebenen Art das Platzen des Reifens und die Folgeschäden an dem LKW der Klägerin nicht ausgelöst haben könnte.
Der Sachverständige G. hat in seinem Gutachten vom 19.02.2018 dazu überzeugend ausgeführt, dass Lage und Art der Schäden auf eine Gewalteinwirkung von außen und nicht auf einen Betriebsvorgang schließen ließen. Der auf den ihm zur Verfügung gestellten Bilddateien dokumentierte rechte Vorderreifen des klägerischen LKW weise zwar eine Vorschädigung in Form einer trichterförmigen Verletzung (vgl. Anl. 3 Foto 55 des Gutachtens) auf. Diese sei aber lediglich schadensbegünstigend und nicht schadensursächlich gewesen. Es handele sich um einen Einfahrschaden, der nicht zu einem sofortigen bzw. schlagartigen Luftverlust geführt habe, sondern wegen des langsam entstehenden Unterluftdrucks die Tragfähigkeit des Reifens nach und nach reduziert und die Strukturfestigkeit seines Unterbaus verringert habe. Dieser Schaden sei nicht die Ursache des Reifenplatzers gewesen, sondern habe lediglich zur teilweisen Ablösung des Laufstreifens im mittleren Laufflächenbereich geführt.
Unmittelbare Ursache des Reifenplatzens ist demgegenüber nach den Ausführungen des Sachverständigen G. mit stark überwiegender Wahrscheinlichkeit das Überfahren eines Hindernisses mit einer Länge von 50 Zentimetern und einer Höhe von mehreren Zentimetern gewesen. Von einem solchen Fremdkörper hat der Zeuge K. bei seiner Vernehmung berichtet. Die sich vom Reifenunterbau komplett gelöste Lauffläche sei dabei – so der Sachverständige – mit hoher Wucht gegen die umliegenden Fahrzeug- und Karosserieteile geprallt mit der Folge, dass sämtliche im Bericht des Sachverständigen R. vom 15.04.2015 (Anl. B 1) festgestellten Schäden am Fahrzeug der Klägerin plausibel nachvollziehbar seien, da sie sich in unmittelbarer Nähe des rechten Radkastens bzw. des rechten Vorderrades befunden hätten. Der Sachverständige hat anhand der ihm zur Verfügung gestellten Bilddateien schlüssig erläutert, dass der Reifen die typischen Merkmale eines Anprallschadens im Laufflächenbereich aufweise. So lägen radiale Brüche in der Reifenflanke und Verformungen am Felgenhorn des Reifens (vgl. Anl. 3 Fotos 50, 52, 53 des Gutachtens) vor. Angesichts der vergrößerten Einfederung der Karkasse durch Fahren mit Unterluftdruck sei es auch plausibel, dass es erst nach der Weiterfahrt von ca. 1 km bei der von dem Fahrer geschätzten Geschwindigkeit von etwa 85 km/h zu einer weiteren Schwächung der Strukturfestigkeit des Reifens und sodann zu dessen Aufplatzen gekommen sei.
Dass der durch den Einfahrschaden verursachte schleichende Druckverlust von dem Fahrer des LKW ohne technische Hilfsmittel hätte wahrgenommen werden können, hielt der Sachverständige G. für sehr unwahrscheinlich. Ergänzend hat er auf eine Untersuchung hingewiesen, wonach in einem solchen Fall bei dem LKW-Fahrer ein ähnlicher Eindruck vermittelt werde, als läge eine Querneigung der Fahrbahn vor. Insofern stehen die Feststellungen des Sachverständigengutachtens mit der Aussage des Zeugen K. in Einklang, der bekundet hat, sich vor Fahrtantritt im Rahmen einer Sichtkontrolle der Reifen von deren ordnungsgemäßen Zustand überzeugt zu haben und bei der Fahrt weder durch Geräusche noch Wankbewegungen auf einen etwaigen Druckverlust aufmerksam geworden zu sein.
Dem Beweisergebnis steht zur Überzeugung des Senats nicht entgegen, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen G. das Überfahren eines 3 Zentimeter hohen Holzstückes nicht ausgereicht hätte, um den Vorderreifen des LKW zum Platzen zu bringen. Dies hat er anlässlich seiner ergänzenden Anhörung im Berufungstermin anhand mitgebrachter Holzstücke von 3 und 9 ½ Zentimetern Höhe und eines Reifenteils anschaulich demonstriert. Insoweit ist indessen zu berücksichtigen, dass die in dem Beweisbeschluss des Senats genannte Höhe des überfahrenen Gegenstandes von 3 Zentimetern nicht konkret von dem Zeugen K. beziffert wurde, sondern auf eine doppelte Schätzung zurückzuführen ist und daher mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist. Der LKW-Fahrer kann den überfahrenen Gegenstand, den er als Holzstück wahrgenommen und mit 50 Zentimetern Länge und mehreren Zentimetern Höhe beschrieben hat, aus seinem Führerhaus bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von mehr als 80 km/h nur kurz gesehen haben. Soweit er bei seiner Vernehmung mit einer Handbewegung die geschätzte Höhe demonstrierte, beruht die Bezifferung mit 3 Zentimetern wiederum auf einer – ebenfalls mit Unsicherheiten behafteten – Auswertung dieser Handbewegung durch den Prozessbevollmächtigten der Beklagten in dessen Schriftsatz vom 13.06.2016. Vor diesem Hintergrund geht der Senat davon aus, dass das Holzstück, das der Zeuge K. überfahren hat, tatsächlich eine Höhe von mindestens 8 Zentimetern aufwies, denn andernfalls ließen sich die erwähnten stoßartigen Verformungen im Laufflächenbereich des Reifens, für deren Entstehen keine anderen Hindernisse in Betracht kommen, nach den Ausführungen des Sachverständigen G. nicht erklären.
Das Gutachten des Sachverständigen ist insgesamt überzeugend. Zweifel an der Sachkunde des Gutachters bestehen nicht und sind auch nicht geltend gemacht worden. Soweit sich der Sachverständige unter Ziff. 8 (Seite 18 f.) seines Gutachtens kritisch mit der im Beweisbeschluss des Senats genannten Höhe des Hindernisses auseinandergesetzt hat, rechtfertigt dies nicht den Eindruck der Beklagten, der Sachverständige habe unbedingt zu einem Unfallschaden als Ergebnis seiner Begutachtung kommen wollen und sei möglicherweise befangen. Die Vorgabe im Beweisbeschluss war nämlich auch, der Begutachtung die Sachverhaltsschilderung des Zeugen K. zu Grunde zu legen. Da dieser den überfahrenen Gegenstand lediglich ohne genaue Bezifferung mit „einige Zentimeter hoch“ beschrieben hatte, waren die ergänzenden Ausführungen des Sachverständigen unter Bezugnahme auf den übrigen Akteninhalt geradezu geboten.
Auch mit den übrigen Einwendungen der Beklagten hat sich der Sachverständige G. im Rahmen seiner ergänzenden Anhörung nachvollziehbar und plausibel auseinandergesetzt. So hat er ausgeführt, dass die im vorliegenden Fall dokumentierten Schäden selbst durch ein längeres Fahren mit Unterdruck im rechten Vorderreifen allein nicht zu erklären seien. Der starke radiale Bruch von Flanke und Karkasse wäre dann – ohne zusätzlichen Anprall – nicht aufgetreten. Auf Nachfrage des Beklagtenvertreters, ob nicht der Anstoß auf die Fahrbahn nach allmählichem Druckverlust ausgereicht hätte, um ein entsprechendes Schadensbild zu erzeugen, hat der Sachverständige dies ebenfalls verneint. Es hätte sich in diesem Fall zwar auch die Lauffläche des Rades aufgelöst, aber die Karkasse hätte gehalten. Im Flankenbereich wäre kein radialer Bruch, sondern allenfalls ein solcher in anderer Richtung entstanden. Aus Vergleichsfällen schloss der Sachverständige, dass im Falle eines Anstoßes auf die Fahrbahn auch die Verformung des Rades eine andere gewesen wäre, sie hätte nahezu viereckig ausgesehen. Die Flanke hätte dann zusätzlich deutliche Abriebspuren aufgewiesen, die – wie das Foto 52 der Anlage 3 zum Gutachten zeigt – im vorliegenden Fall fehlten.
Infolgedessen bestätigt das Ergebnis des Sachverständigengutachtens die Feststellungen der ersten Instanz. Die Klägerin hat den Beweis erbracht, dass die geltend gemachten Schäden auf einer plötzlichen von außen auf das Fahrzeug erfolgten mechanischen Gewalteinwirkung beruhen, die nicht typischerweise zum gewöhnlichen Fahrbetrieb gehörte. Für einen schadensursächlichen Betriebsvorgang, etwa Abnutzung bzw. Verschleiß von Fahrzeugteilen oder Bedienungsfehler des Zeugen K., bestehen keine Anhaltspunkte. Damit liegt ein Unfallschaden im Sinne von Ziffer A.2.3.2 der vereinbarten AKB (Anl. K 5) vor.
3. Die Höhe der vom Landgericht zuerkannten Haupt- und Nebenforderungen ist mit der Berufung nicht angegriffen worden und bedarf daher keiner weiteren Erörterung.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Für die Zulassung der Revision besteht keine Veranlassung, § 543 Abs. 2 ZPO.