LG Berlin, Az.: 42 O 199/16, Urteil vom 02.12.2016
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 17.256,50 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05.03.2016 sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.100,51 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.03.2016 zu zahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einem Vollkaskoversicherungsvertrag geltend.
Der Kläger ist Eigentümer eines Porsche Panamera mit dem amtlichen Kennzeichen … . Für dieses Fahrzeug besteht bei der Beklagten u.a. eine Vollkaskoversicherung mit einer Selbstbeteiligung von 500 €.
In den zwischen den Parteien vereinbarten Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrtversicherung (Stand: 10/2015, im Folgenden: AKB) heißt es auszugsweise:
„E. 1.1.3 Aufklärungspflicht
Sie müssen alles tun, was zur Aufklärung des Versicherungsfalls und des Umfangs unserer Leistungspflicht erforderlich ist. Sie müssen dabei insbesondere folgende Pflichten beachten:
- Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).
- Sie müssen unsere Fragen zu den Umständen des Schadensereignisses, zum Umfang des Schadens und zu unserer Leistungspflicht wahrheitsgemäß und vollständig beantworten. Wir können verlangen, dass Sie uns in Schriftform antworten.
- Sie müssen uns angeforderte Nachweise vorlegen, soweit es Ihnen billigerweise zugemutet werden kann, diese zu beschaffen.
- Sie müssen unsere für die Aufklärung der Schadens erforderlichen Weisungen befolgen, soweit dies für Sie zumutbar ist.
Sie müssen uns Untersuchungen zu den Umständen des Schadensereignisses und zu unserer Leistungspflicht ermöglichen, soweit es Ihnen zumutbar ist.
E.2.1 Leistungsfreiheit bzw. Leistungskürzung
Verletzen Sie vorsätzlich eine Ihrer in E.1.1 bis E.1.6 geregelten Pflichten, haben Sie keinen Versicherungsschutz. Verletzen Sie Ihre Pflichten grob fahrlässig, sind wir berechtigt, unsere Leistung in einem der Schwere Ihres Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Weisen Sie nach, dass Sie die Pflicht nicht grob fahrlässig verletzt haben, bleibt der Versicherungsschutz bestehen.
E.2.2 Abweichend von E.2.1 sind wir zur Leistung verpflichtet, soweit Sie nachweisen, dass die Pflichtverletzung weder für die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang unserer Leistungspflicht ursächlich war. Dies gilt nicht, wenn Sie die Pflicht arglistig verletzen.“
Am 03.01.2016 befand sich der Kläger mit seinem Fahrzeug auf dem Rückweg von Ulm nach Berlin. Er befuhr die BAB 9 auf dem linken Fahrstreifen. Das Fahrzeug des Klägers streifte die Leitplanke mit der gesamten linken Seite. Es wurde dabei erheblich beschädigt. Die Reparaturkosten betragen 17.756,50 € brutto (Rechnung vom 07.03.2016, Anlage 10 = Bl. 32ff. d.A.). Der Kläger verweilte nicht an der Unfallstelle, sondern steuerte den nächsten Rastplatz an, der sich in einer Entfernung von ca. 5 km befand. Dort begutachtete er die Schäden an seinem Fahrzeug. Am nächsten Tag meldete er den Schaden bei der Beklagten. Im Februar 2016 meldete er den Schaden auch bei der Polizei. Mit Schreiben vom 03.03.2016 erklärte die Beklagte, leistungsfrei zu sein. Der Kläger habe sich nach dem Unfall unerlaubt von der UnfallsteNe entfernt und dadurch die Aufklärung des Sachverhalts gefährdet. Damit habe er vorsätzlich eine Pflicht aus dem Versicherungsvertrag verletzt.
Am 23.03.2016 beauftragte der Kläger seine Prozessbevollmächtigten mit der Wahrnehmung seiner Rechte in dieser Angelegenheit.
Der Kläger meint, die Leistungsablehnung der Beklagten sei unbegründet. Selbst bei einer unterstellten Obliegenheitsverletzung stünde ihm der geltend gemachte Anspruch zu. In Buchst. E.2.1 der AKB, der Sanktionsvereinbarung für die in Buchst. E.1.1 bis 1.6 AKB geregelten Obliegenheiten, fehle es nämlich an einer Regelung mit dem Inhalt des § 28 IV VVG. Die Sanktionsvereinbarung sei daher unwirksam.
Der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 17.256,50 € nebst 5% Zinsen seit dem 05.03.2016 sowie vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 1.100,51 € nebst 5% Zinsen seit dem 23.03.2016 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte ist der Auffassung, sie sei aufgrund der in den AKB enthaltenen wirksamen Sanktionsvereinbarung leistungsfrei. Der Kläger habe die sich aus Buchst. E. 1.1.3 AKB ergebende Aufklärungsobliegenheit in mehrfacher Hinsicht verletzt. Nach dem Unfall habe er seiner Wartepflicht nicht genügt. Insbesondere habe er es verabsäumt, unverzüglich nach dem Unfall an den rechten Fahrbahnrand zu fahren, um die Auffindbarkeit der UnfaNsteNe zu ermöglichen. Gegebenenfalls wäre es erforderlich gewesen, unter Verwendung der jeweils nach bzw. vor der Unfallstelle befindlichen Ausfahrten zurückzufahren. Dadurch, dass er keinerlei verwertbare Angaben zur Unfallörtlichkeit gemacht habe, habe er etwaige Untersuchungen der Beklagten zu den Umständen des Schadensereignisses von vornherein vereitelt. Durch sein Verhalten habe er zudem Feststellungen zu der Frage verhindert, ob er im Unfallzeitpunkt unter Alkoholeinfluss oder sonstiger die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigender Stoffe gestanden habe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
I.
1. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch gemäß Buchst. A.2.2.2, A.2.5.2.1, A.2.5.4 AKB zu.
a) Dass das Fahrzeug des Klägers durch einen Unfall auf der Fahrt von Ulm nach Berlin in der Nähe von Bayreuth auf der BAB 9 beschädigt worden ist und die Reparaturkosten 17.756,50 € brutto betragen (Rechnung vom 07.03.2016, Anlage 10 = Bl. 32ff. d.A.), ist unstreitig. Abzüglich der vereinbarten Selbstbeteiligung in Höhe von 500 € ergibt sich der mit der Klage geltend gemachte Betrag in Höhe von 17.256,50 €.
b) Ob der Kläger versicherungsvertragliche Obliegenheiten aus Buchst. E.1.1.3 AKB verletzt hat, kann dahinstehen, weil einer Leistungsfreiheit der Beklagten jedenfalls die Unwirksamkeit der in Buchst. E.2 AKB enthaltenen Sanktionsregelung entgegensteht.
aa) Die genannte Sanktionsklausel weicht entgegen § 32 Satz 1 VVG zum Nachteil des Versicherungsnehmers von der halbzwingenden Vorschrift des § 28 IV VVG ab. Anders als es § 28 IV VVG vorsieht, fehlt dort nämlich eine Regelung, wonach die Leistungsfreiheit bei Verletzung einer nach Eintritt des Versicherungsfalls bestehenden Auskunfts- oder Aufklärungsobliegenheit voraussetzt, dass der Versicherer den Versicherungsnehmer durch gesonderte Mitteilung in Textform auf diese Rechtsfolge hingewiesen hat. Die Abweichung führt nach § 32 Satz 1 VVG i.V.m. § 307 I 1, II Nr. 1 BGB zur Unwirksamkeit der Sanktionsregelung, weil sie mit dem in § 28 IV VVG enthaltenen wesentlichen Grundgedanken – die Wesentlichkeit ergibt sich aus dem halbzwingenden Charakter des § 28 IV VVG – nicht vereinbar ist (BGH [IV. ZS], NJW 2014, 1813 Rn. 21f. = VersR 2014, 699 Rn. 21f.; im Ergebnis ebenso LG Berlin, Urteil vom 22.06.2016 – 23 O 345/15 – und Marlow, r+s 2015, 591, 592f. sowie ders. in: Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl., § 13 Rnrn. 74, 74d und 152 a.E.). Darauf, ob die Regelung des § 28 IV VVG im vorliegenden Fall relevant ist, kommt es nicht an, weil bei der Prüfung der Wirksamkeit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine generalisierende Betrachtung anzustellen ist (Palandt/Grüneberg, BGB, 75. Aufl., § 307 Rn. 8).
bb) Die durch die Unwirksamkeit der Sanktionsregelung entstandene Vertragslücke kann nicht gemäß § 306 II BGB i.V.m. § 28 II, III, IV VVG geschlossen werden. § 28 II VVG setzt, wie insbesondere der Wortlaut der Vorschrift zeigt („Bestimmt der Vertrag, dass …“), eine wirksame vertragliche Vereinbarung voraus, aus der sich ergibt, dass der Versicherer bei Verletzung einer vom Versicherungsnehmer zu erfüllenden vertraglichen Obliegenheit nicht zur Leistung verpflichtet ist. § 28 VVG enthält – anders als § 81 VVG – kein Leistungskürzungsrecht, sondern beschränkt die bei Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit zulässigen Sanktionen (BT-Drucks. 16/3945, S. 68 l.Sp.). Aufgrund der Unwirksamkeit der hier maßgeblichen Sanktionsklausel fehlt es an der erforderlichen vertraglichen Vereinbarung (s. zum Ganzen etwa BGH a.a.O. Rn. 23 und BGH [IV. ZS], NJW 2012, 217 Rn. 33f. = VersR 2011, 1550 Rn. 33f.; OLG Köln, NJW-RR 2010, 1691, 1693 = VersR 2010, 1592, 1594; OLG Rostock, r+s 2012, 533, 534f.; LG Berlin a.a.O.; Maier, r+s 2013, 14, 15; Wandt, in: Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht, 5. Aufl., 1. Kap. Rn. 569a; ders. in: MünchKomm-VVG, 2. Aufl., § 28 Rn. 214; a.A. – allerdings ohne Auseinandersetzung mit dem entgegenstehenden Wortlaut des § 28 II VVG – BGH [XII. ZS], NJW 2012, 2501 Rn. 24ff. = VersR 2012, 1573 Rn. 24ff.; BGH [XII. ZS], VersR 2013, 197 Rn. 19ff.; OLG Naumburg, Urteil vom 28.03.2014 – 10 U 5/13 – BeckRS 2014, 15043).
cc) Auch für eine ergänzende Vertragsauslegung ist kein Raum.
(1) Voraussetzung für eine ergänzende Vertragsauslegung ist, dass sie nicht zu einer Erweiterung des Vertragsgegenstandes führt, es dem Versicherer gemäß § 306 III BGB ohne ergänzende Vertragsauslegung unzumutbar ist, an dem lückenhaften Vertrag festgehalten zu werden, und der ergänzte Vertrag für den Versicherungsnehmer typischerweise von Interesse ist (BGH, NJW 2012, 217 Rn. 46 = VersR 2011, 1550 Rn. 46).
Eine ergänzende Vertragsauslegung kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil es der Beklagten nicht unzumutbar ist, an dem lückenhaften Vertrag festgehalten zu werden:
Ob eine Unzumutbarkeit vorliegt, ist im Wege der Interessenabwägung zu ermitteln. Zu berücksichtigen ist nicht nur die nachteilige Veränderung der Austauschbedingungen für den Verwender der Allgemeinen Geschäftsbedingung, sondern auch das berechtigte Interesse des anderen Teils an der Aufrechterhaltung des Vertrags. Unzumutbar kann das Festhalten am Vertrag dann sein, wenn infolge der Unwirksamkeit einer Klausel das Vertragsgleichgewicht grundlegend gestört ist. Allerdings genügt nicht schon jeder wirtschaftliche Nachteil des Verwenders, sondern es ist eine einschneidende Störung des Äquivalenzverhältnisses erforderlich (BGH a.a.O. Rn. 51). Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben, wenn der Versicherer aus der Verletzung vertraglicher Obliegenheiten keine Sanktionen mehr herleiten kann. Denn das Gesetz bietet dem Versicherer zahlreiche Auffangregelungen, zu denen die Regelungen über die Gefahrerhöhung gemäß §§ 23ff. VVG, die Bestimmungen über die Herbeiführung des Versicherungsfalls nach § 81 VVG und die Obliegenheiten nach § 82 VVG gehören. Zwar verschiebt sich das Vertragsgleichgewicht ungeachtet dieser Regelungen zu Ungunsten des Versicherers. Sie verhindern aber, dass das Vertragsgleichgewicht grundlegend gestört ist (BGH a.a.O. Rn. 52).
(2) Ob eine ergänzende Vertragsauslegung auch aus anderen Gründen nicht in Betracht kommt, kann dahinstehen.
2. a) Dem Kläger steht zudem der geltend gemachte Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten gemäß §§ 280 I, II, 286 II Nr. 3 BGB zu. Nach einem berechtigten Gegenstandswert in Höhe von 17.256,50 € (s.o.) errechnet sich der Anspruch wie folgt:
Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 VV RVG (1,3) 904,80 €
Kommunikationspauschale gem. Nr. 7002 VV RVG 20 €
Umsatzsteuer gem. Nr. 7008 VV RVG (19%) 175,71 €
Gesamt 1.100,51 €
b) Schließlich hat der Kläger auch einen Anspruch auf die geltend gemachten Verzugszinsen gemäß §§ 286 II Nr. 3, 288 I BGB. Den äußerst unglücklich formulierten Antrag des Klägers, mit dem er „5% Zinsen“ verlangt, legt das Gericht dahin aus, dass er – was der Üblichkeit entspricht – Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz begehrt.
3. Der Beklagten war die in der mündlichen Verhandlung beantragte Erklärungsfrist nicht zu gewähren. Der Kläger hat nämlich mehrfach, zuletzt im Schriftsatz vom 02.11.2016, zutreffend auf die entscheidenden Gesichtspunkte hingewiesen. Auf den genannten Schriftsatz hat die Beklagte auch bereits Stellung genommen.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 709 S. 1 und 2 ZPO.