KG Berlin – Az.: 6 U 197/13 – Beschluss vom 15.07.2014
Gründe
Der Senat weist die Parteien darauf hin, dass nach Vorberatung der Sache eine Verfahrensweise gemäß § 522 Abs. 2 ZPO bereits deshalb nicht in Betracht kommt, weil einerseits zwar Zweifel an der Erfolgsaussicht der Berufung bestehen, andererseits aber nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Berufung offensichtlich (im Sinne von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) keine Aussicht auf Erfolg hat.
Das Landgericht hat die Klage auf Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 18.278,41 EUR gemäß §§ 1 ff VVG in Verbindung mit den vereinbarten AKB 2008 abgewiesen und den Kläger auf die Widerklage als Gesamtschuldner zur Erstattung von 6.176,05 EUR (beschränkt auf 5.000,00 EUR) verurteilt, weil die Beklagte nach E.1.4 der AKB in Verbindung mit § 28 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 VVG wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung des Klägers von der Verpflichtung zur Leistung frei geworden sei.
Dem ist der Kläger mit seiner form- und fristgerecht eingelegten Berufung mit der Begründung entgegengetreten, eine arglistige Verletzung der vertraglich vereinbarten Aufklärungspflicht sei ihm nicht vorzuwerfen.
Nach summarischer Prüfung stellt sich dem Senat die Sach- und Rechtslage wie folgt dar:
Da sowohl das Bestehen eines Haftpflicht- und Kaskoversicherungsvertrages als auch der Eintritt des Versicherungsfalls unstreitig sind, hängt die Erfolgsaussicht der Klage wie auch der Widerklage davon ab, ob die Beklagte wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung des Klägers von ihrer Leistungspflicht frei geworden ist.
Insoweit bestimmt die Vorschrift des § 28 Abs. 3 Satz 2 VVG, dass der Versicherer, abweichend von § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG, für den Fall einer arglistigen Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers nicht zur Leistung verpflichtet ist, unabhängig davon, ob die Verletzung der Obliegenheit für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles oder für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht des Versicherers ursächlich gewesen ist. Diese Voraussetzungen dürften vorliegend erfüllt sein.
Eine arglistige Verletzung der Aufklärungsobliegenheit liegt nach Auffassung des Senats darin begründet, dass sich der Kläger am 29. Januar 2012 gegen 5:30 Uhr vom Ort des Unfalls an der K… straße … entfernte, ohne in irgendeiner Form zur Aufklärung des Hergangs einen Beitrag zu leisten. Insbesondere sah sich der Kläger nicht veranlaßt, die Polizei zu benachrichtigen und an der Unfallstelle auf diese zu warten, oder aber auf den Fahrer einzuwirken, selbiges zu tun, um die erforderlichen Feststellungen nach § 142 StGB zu ermöglichen. Darin liegt ein Verstoß gegen die unter E.1.4 AKB 2008 vereinbarten Obliegenheit des Klägers, “alles zu tun, was der Aufklärung des Schadensereignisses dienen kann … und den Unfallort nicht (zu) verlassen …, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen”.
Eine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit ist vorliegend ungeachtet der Frage gegeben, ob der Kläger durch das Verlassen der Unfallstelle eine strafbare Handlung begangen hat. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich der Kläger entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht der Beihilfe zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort nach §§ 142, 27 StGB strafbar gemacht hat. Denn eine – grundsätzlich mögliche – Beihilfe durch Unterlassen zur Unfallflucht ist mangels einer Garantenstellung des Klägers im vorliegenden Fall zu verneinen. Eine solche Garantenstellung könnte hier allenfalls aus der Haltereigenschaft des Klägers hergeleitet werden. Der Halter eines Kraftfahrzeugs nimmt aber durch Überlassung desselben an eine andere Person ein neutrales Geschäft vor, aus dem grundsätzlich keine Garantenstellung hergeleitet werden kann (vgl. Geppert in Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 142 Rdnr. 190). Anders ist dies etwa, wenn die Person, der das Fahrzeug überlassen wird, selbst ungeeignet ist, das Fahrzeug zu führen. Eine solche Sachlage kann aber vorliegend nicht festgestellt werden, da der Fahrer nach dem Vortrag des Klägers nicht alkoholisiert war und auch keine weiteren Gründe für eine fehlende Fahreignung ersichtlich sind. Auch ist eine Beihilfe durch Unterlassen dann nicht gegeben, wenn sich – wie hier – der Fahrer des Unfallwagens nach dem Unfall zu Fuß vom Unfallort entfernt (vgl. OLG Bremen, Urteil vom 2.10.2007 – 3 U 27/07 -; OLG Stuttgart, NJW 1981, 2369). Denn in solchen Fällen ist es dem Halter nicht zuzumuten, eine “Flucht” des Fahrers (womöglich gewaltsam) verhindern zu müssen, um einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entgehen. Eine generelle Einstandspflicht des Halters für das eigenverantwortliche Fluchtverhalten des Fahrers gibt es nicht (vgl. OLG Stuttgart a.a.O.).
In Betracht kommt allerdings eine täterschaftliche Verwirklichung durch § 142 StGB durch den Kläger, falls er Unfallbeteiligter war. Nach § 142 Abs. 5 StGB ist Unfallbeteiligter jeder, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. Dabei kommt es für eine Unfallbeteiligung nicht darauf an, ob die Person tatsächlich den Unfall verursacht hat, sondern ausschließlich darauf, dass die Person möglicherweise den Unfall verursacht haben könnte; eine Verdachtslage für eine Unfallverursachung ist also hinreichend aber auch notwendig, so dass aus der Haltereigenschaft allein keine Unfallbeteiligung gefolgert werden kann (vgl. Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 142 Rdnr. 21 a). Eine andere Beurteilung kann aber dann geboten sein, wenn weitere Eigenschaften hinzukommen. So hat der Bundesgerichtshof in einer älteren Entscheidung (BGH St 15,1, 4, 5) darauf hingewiesen, dass Unfallbeteiligter im Sinne von § 142 Abs. 5 auch derjenige sein kann, der durch den Umstand, dass er Halter des Kraftfahrzeugs und Ehemann der Mitinsassin ist, in den Verdacht gerät, selbst das Fahrzeug gesteuert oder als Beifahrer seiner Ehefrau deren Fahrweise beeinflußt zu haben. Danach kommt als Täter nach § 142 StGB jeder in Betracht, der, sei es auch zu Unrecht, in den – nicht ganz unbegründeten – Verdacht gerät, den Unfall verursacht oder mitverursacht zu haben (vgl. BGH a.a.O. m. w. N.). Dementsprechend ist auch das Landgericht Berlin in seiner hiermit in Bezug genommenen Entscheidung vom 5. Juli 2012 – 515 Qs 69/12 – davon ausgegangen, dass der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit ein gemäß § 142 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 5 StGB strafbares unerlaubtes Entfernen vom Ort eines Unfalls, bei dem an fremden Sachen offenkundig bedeutender Schaden entstanden ist, begangen hat.
Letztlich mag die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Klägers aber dahinstehen, da eine solche nach Auffassung des Senats keine Voraussetzung für die Annahme einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheit durch den Kläger ist. Denn insofern geht die versicherungsrechtliche Pflicht über die strafrechtlich erheblichen Verhaltenspflichten hinaus. Nach der Vereinbarung unter E.1.4 AKB 2008 war der Kläger nicht nur verpflichtet, “alles zu tun, was der Aufklärung des Schadensereignisses dienen kann”, sondern auch “den Unfallort nicht (zu) verlassen …, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen”. Soweit der Kläger demgegenüber unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urteile vom 15.12.1982 – IV a ZR 33/81 – und vom 1.12.1999 – IV ZR 71/99 -) anführt, dass eine Begrenzung der in den AKB 2008 ausdrücklich vereinbarten Aufklärungspflicht des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherer nur gegeben sei, wenn er sich einerseits ohne Verstoß gegen § 142 StGB von der Unfallstelle entfernen darf und er sich andererseits durch eine Einschaltung der Polizei der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen würde, ist darauf hinzuweisen, dass diese Entscheidungen zu mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbaren Konstellationen ergangen sind, vor allem die dortigen Versicherungsbedingungen (AKB) einen anderen Inhalt als die vorliegend vereinbarten AKB 2008 hatten. Der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. November 2012 – IV ZR 97/11 – lagen zwar ebenfalls die auch vorliegend geltenden AKB 2008 zugrunde, in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte sich der Versicherungsnehmer aber erlaubt vom Unfallort entfernt und zudem behauptet, dem Versicherer den Unfall unverzüglich gemeldet zu haben.
Eine der vorliegenden vergleichbare Konstellation ist – soweit ersichtlich – vom Bundesgerichtshof bislang noch nicht entschieden worden.
In der Literatur wird in der versicherungsvertraglich vereinbarten Obliegenheit des Versicherungsnehmers, “den Unfallort nicht (zu) verlassen…, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen” teils die Statuierung einer eigenständigen versicherungsrechtlichen Wartepflicht unabhängig von einer strafrechtlichen Verpflichtung gesehen, in deren Rahmen der Versicherungsnehmer immer verpflichtet ist, nach Eintritt des Versicherungsfalles an der Unfallstelle zu bleiben bis die Polizei oder der Geschädigte eintreffen und die erforderlichen Feststellungen getroffen wurden (vgl. Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., E.1 AKB 2008 Rdnr. 21; derselbe in VersR 2009, 186), teils wird davon ausgegangen, dass nach wie vor Umfang und Grenzen der versicherungsrechtlichen Aufklärungspflicht durch § 142 StGB vorgezeichnet sind, so dass die versicherungsrechtliche Aufklärungsobliegenheit nur in den Grenzen des § 142 StGB zum Tragen kommt.
Im Hinblick auf diese Problematik könnte der vorliegenden Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne der §§ 522 Abs.- 2 Satz 1 Nr. 1, 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zukommen.
In Anbetracht dessen unterbreitet der Senat den Parteien vor Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung gemäß § 278 ZPO zwecks gütlicher Streitbeilegung, zur Abkürzung des weiteren Verfahrens und zur Vermeidung der mit einer Fortführung des Rechtsstreits verbundenen Unwägbarkeiten und Kosten folgenden Vergleichsvorschlag:
Der Kläger nimmt seine mit Schriftsatz vom 11.12.2012 anhängig gemachte und mit Schriftsatz vom 23. April 2013 geänderte Klage unter Verzicht auf den zugrundeliegenden Anspruch zurück.
Die Beklagte stimmt der Klagerücknahme zu und nimmt ihrerseits die mit Schriftsatz vom 15.03.2013 gegen den Kläger und Widerbeklagten zu 1) eingereichte Widerklage unter Verzicht auf den zugrundeliegenden Anspruch gegenüber dem Kläger zurück.
Der Kläger stimmt der Rücknahme der Widerklage zu.
Von den Kosten der Berufung einschließlich derer des Vergleichs haben der Kläger ¾ und die Beklagte ¼ zu tragen; im Übrigen verleibt es bei der Kostenentscheidung des Landgerichts im Urteil vom 16.10.2013.
Um Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen wird gebeten. Im Falle der Annahme des Vergleichsvorschlags durch beide Parteien könnte nach § 278 Abs. 6 ZPO verfahren werden.