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Erwerbsunfähigkeits-Zusatzversicherung – Gutachten Arbeitsmarkt

Einholung eines ergänzenden Gutachtens zu Arbeitsmarkt

OLG Karlsruhe – Az.: 9 U 152/16 – Urteil vom 13.12.2018

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 20.09.2016 – Me 4 O 368/14 – im Kostenpunkt aufgehoben und im Übrigen wie folgt abgeändert:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 39.325,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 12.12.2014 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger ab dem 01.12.2014 eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.573,12 € während der Dauer der bedingungsgemäßen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen, längstens bis zum 01.09.2022.

3. Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 2.348,94 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.12.2014 zu zahlen.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen trägt die Beklagte.

IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann eine Vollstreckung des Klägers abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des nach dem Urteil vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche aus einer Erwerbsunfähigkeits-Versicherung geltend.

Der am … 1962 geborene Kläger schloss im Jahr 2002 mit der Klägerin einen Lebensversicherungsvertrag ab. Vereinbart war eine monatliche Altersrente ab dem 01.09.2025. Zum Vertrag gehörte eine Erwerbsunfähigkeits-Zusatzversicherung, auf Grund derer der Kläger im Falle einer Erwerbsunfähigkeit eine Rente bis längstens zum 01.09.2022 beziehen sollte. Die Erwerbsunfähigkeits-Rente betrug zunächst 1.113,36 € monatlich. Auf Grund einer Dynamik-Klausel betrug die Rente im Jahr 2012 unstreitig monatlich 1.573,12 € (vgl. die Anlage K 7).

Die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeitsrente sollten sich nach den Bedingungen für die Zusatzversicherung gegen Erwerbsunfähigkeit (Anlage K 1, im Folgenden abgekürzt: BZE) richten. Ziffer 2.1 BZE lautet:

Erwerbsunfähigkeit auf Grund stark eingeschränkter Leistungsfähigkeit

Erwerbsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person in Folge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind,

– voraussichtlich dauernd außer Stande ist, einer Erwerbstätigkeit von mehr zwei Stunden täglich nachzugehen

oder

– sechs Monate ununterbrochen außer Stande gewesen ist, einer Erwerbstätigkeit von mehr als zwei Stunden täglich nachzugehen und dieser Zustand fortdauert. In diesem Fall liegt die Erwerbsunfähigkeit von Anfang an vor, d. h. rückwirkend ab Beginn dieser sechs Monate.

Als Erwerbstätigkeit gelten alle selbstständigen und unselbstständigen Tätigkeiten, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Der zuletzt ausgeübte Beruf, die erworbene Ausbildung und Erfahrung, die bisherige Lebensstellung, insbesondere das bisherige Einkommen, und die jeweilige Arbeitsmarktlage bleiben unberücksichtigt.

Nicht als Erwerbstätigkeit gelten Tätigkeiten, die Behinderte in eigens dafür eingerichteten Werkstätten oder Heimen ausführen.

Der Bescheid eines Sozialversicherungsträgers bewirkt noch keinen Leistungsanspruch.

Der Kläger besitzt eine kaufmännische Ausbildung. Ab dem Jahr 2003 arbeitete er in einer Gießerei, wobei er schwere körperliche Tätigkeiten verrichtete. Am 23.08.2012 erlitt der Kläger bei einem Arbeitsunfall eine Verletzung am linken Oberschenkel sowie an der rechten Schulter. Zu einer weiteren Tätigkeit in der Gießerei war der Kläger seit diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage. Im Zusammenhang mit den ärztlichen Behandlungsmaßnahmen nach dem Arbeitsunfall wurde ein Tumor in der Halswirbelsäule festgestellt, der am 06.11.2012 operiert wurde. An die Operation schloss sich eine Bestrahlungstherapie an.

Der Kläger verlangte vorgerichtlich von der Beklagten, gestützt auf verschiedene Arztberichte, die Zahlung der vereinbarten Erwerbsunfähigkeits-Rente. Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 19.11.2013 (Anlage K 2) eine Leistung ab. Aufgrund der vorliegenden ärztlichen Unterlagen bestehe für den Kläger weiterhin ein positives Leistungsbild für leidensgerechte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von sechs Stunden und mehr.

Mit seiner Klage hat der Kläger Rentenzahlungen in Höhe von monatlich 1.573,12 € für die Zeit ab November 2012 verlangt, sowie vorgerichtliche Kosten in Höhe von 2.348,94 €, jeweils nebst Zinsen. Aufgrund seiner verschiedenen körperlichen Einschränkungen sei er nicht mehr in der Lage, eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt übliche Tätigkeit auszuüben, auch nicht in Form einer Teilzeittätigkeit von mehr als zwei Stunden pro Tag. Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten; die Voraussetzungen einer Erwerbsunfähigkeit im Sinne von Ziffer 2.1 BZE seien nicht gegeben.

Das Landgericht hat drei medizinische Gutachten zum Gesundheitszustand des Klägers, zu seinen dauerhaften Beeinträchtigungen und zu seinem verbliebenen Restleistungsvermögen eingeholt. Wegen der Einzelheiten wird auf die bei den Akten befindlichen Gutachten verwiesen. Mit Urteil vom 20.09.2016 hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Zwar stehe nach den Gutachten fest, dass der Kläger seit November 2012 unter verschiedenen orthopädischen, neurologischen und psychiatrischen Beeinträchtigungen dauerhaft leide. Aus den medizinischen Gutachten ergebe sich jedoch, dass der Kläger nach wie vor bestimmte leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes über zwei Stunden täglich, bis maximal vier Stunden, ausüben könne. Sein Restleistungsvermögen sei nicht auf zwei Stunden (oder weniger) herabgesunken. Zwar seien nach den eingeholten Gutachten verschiedene Voraussetzungen für die in Betracht kommenden leidensgerechten Tätigkeiten zu berücksichtigen. Es sei jedoch davon auszugehen, dass es solche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe. Daher scheide eine Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Versicherungsbedingungen aus.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Er beanstandet zum einen bestimmte Feststellungen in dem erstinstanzlich eingeholten neurologisch/psychiatrischen Gutachten des Sachverständigen Dr. L.. Außerdem habe das Landgericht die Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts verkannt. Soweit die medizinischen Gutachter eine begrenzte Erwerbstätigkeit des Klägers für möglich hielten, handele es sich um eine „labortechnische“ Einschätzung; Arbeitstätigkeiten, die in ihren Anforderungen den von den Gutachtern genannten Einschränkungen des Klägers entsprächen, gebe es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht. Solche Tätigkeiten gebe es allenfalls in eigens dafür eingerichteten Werkstätten oder Heimen für Behinderte.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 20.09.2016 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger aus der im Versicherungsvertrag mit der Nr. L 9.750.260 enthaltenen Erwerbsunfähigkeits-Zusatzversicherung rückständige Versicherungsleistungen für den Zeitraum 01.11.2012 bis einschließlich 30.11.2014 in Höhe von 39.325,50 € nebst Verzugszinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

3. die Beklagte weiter zu verurteilen, an den Kläger ab dem 01.12.2014 eine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.573,12 € während der Dauer der bedingungsgemäßen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen, längstens bis zum 01.09.2012,

4. die Beklagte weiter zu verurteilen, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 2.348,94 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das Urteil des Landgerichts. Sie ergänzt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Für die Frage der Erwerbsunfähigkeit seien die medizinischen Gutachten entscheidend. Da nach der Einschätzung der medizinischen Sachverständigen eine Erwerbstätigkeit des Klägers von mehr als zwei Stunden in Betracht komme, wenn dabei bestimmte gesundheitliche Einschränkungen berücksichtigt werden, liege keine Erwerbsunfähigkeit vor.

Der Senat hat zu den für den Kläger in Betracht kommenden Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Auskunft der Agentur für Arbeit K. und ein mündliches Gutachten der Sachverständigen C. W. eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftliche Auskunft vom 09.08.2018 (II 53, 55) und auf das Protokoll vom 16.10.2018 verwiesen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Die Berufung des Klägers hat – abgesehen von einer geringfügigen rechnerischen Korrektur des Zahlungsantrags – Erfolg. Die Beklagte schuldet dem Kläger eine Erwerbsunfähigkeits-Rente in Höhe von 1.573,12 € für die Zeit ab dem 01.11.2012.

1. Grundlage für den Anspruch des Klägers ist der im Jahr 2002 abgeschlossene Lebensversicherungs-Vertrag, der eine Erwerbsunfähigkeits-Zusatzversicherung enthielt. Die Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers gemäß Ziffer 2.1 BZE liegen ab dem 01.11.2012 vor. Jedenfalls ab November 2012 bestand bei dem Kläger eine Krankheit, bzw. eine Körperverletzung, im Sinne der Versicherungsbedingungen, die eine Erwerbstätigkeit von mehr als zwei Stunden täglich ausschloss. Die seit dem 01.11.2012 bestehenden körperlichen Beeinträchtigungen des Klägers sind dauerhaft. Maßgeblich ist, dass für den Kläger seit November 2012 jedenfalls keine Erwerbstätigkeit in Betracht kommt, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich ist.

Die Parteien haben eine dynamische Erwerbsunfähigkeits-Rente vereinbart, die sich im maßgeblichen Zeitraum unstreitig auf mindestens den vom Kläger geltend gemachten Betrag von 1.573,12 € belief. Für die Zeit von November 2012 bis einschließlich November 2014 (25 Monate) ergibt sich ein Betrag in Höhe von 39.325,00 € (50 Cent weniger als vom Kläger verL.t). Außerdem stehen dem Kläger ab Dezember 2014 mindestens die geltend gemachten monatlichen Raten von 1.573,12 € während der Dauer der bedingungsgemäßen Erwerbsunfähigkeit, längstens bis zum 01.09.2022, zu. Ob und inwieweit dem Kläger wegen der Dynamisierung der Rente im klagegegenständlichen Zeitraum höhere Beträge zustehen (vgl. das Schreiben der Beklagten vom 17.07.2012, Anlage K 7), kann dahinstehen. Denn der Kläger hat lediglich 1.573,12 € monatlich geltend gemacht. Soweit die Ansprüche des Klägers diesen Betrag übersteigen, sind die übersteigenden Teile der Rente nicht Streitgegenstand.

2. Die Körperverletzungen und Krankheiten des Klägers seit November 2012 beruhen zum einen auf seinem schweren Arbeitsunfall im August 2012. Zum anderen ist sein Krankheitszustand Folge der Tumor-Operation im November 2012. Das Landgericht hat zu den krankheitsbedingten Beeinträchtigungen des Klägers und der sich daraus ergebenden Reduzierung seines Leistungsvermögens drei medizinische Sachverständigengutachten eingeholt. Die Ergebnisse dieser Gutachten sind für die Entscheidung des Senats – soweit es um die medizinische Beurteilung und das Restleistungsvermögen des Klägers geht – maßgeblich. Die Feststellungen der drei Sachverständigen sind von der Beklagten nicht angegriffen worden. Soweit der Kläger im Berufungsverfahren die Feststellungen des Sachverständigen Dr. L. angreift, ist dies für die Entscheidung des Senats ohne Bedeutung. Denn die Berufung hat auch dann Erfolg, wenn man die Feststellungen und Schlussfolgerungen dieses Sachverständigen vollständig als richtig unterstellt.

a) Der Sachverständige Prof. Dr. C. hat in seinem orthopädischen Gutachten dauerhafte Veränderungen bei dem Kläger im Bereich der linken Schulter, im Bereich der Halswirbelsäule, im Bereich der Lendenwirbelsäule und im Bereich der Kniegelenke festgestellt. Nach der Begutachtung auf orthopädischem Fachgebiet ergab sich für den Sachverständigen daraus die Schlussfolgerung, dass dem Kläger verschiedene Tätigkeiten nicht zumutbar sind, und zwar auch nicht bei einer reduzierten täglichen Arbeitszeit. Es sind keine Tätigkeiten zumutbar, die ausschließlich oder überwiegend im Stehen oder Gehen zu verrichten sind, keine Tätigkeiten, die mit dem häufigen oder überwiegenden Heben und Tragen von Lasten über fünf Kilogramm verbunden sind, und keine Tätigkeiten, die eine häufige vornübergeneigte Haltung oder sonstige Rumpfzwangshaltungen erfordern. Gleiches gilt für Tätigkeiten, die mit häufigem Treppensteigen oder Klettern auf Leitern und Gerüsten verbunden sind, sowie Tätigkeiten, die eine überwiegende kniende oder hockende Position erfordern. Schließlich scheiden nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C. auch Arbeiten in zugigen oder nasskalten Räumen aus. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kommen für den Kläger – unter orthopädischen Gesichtspunkten – leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen, jedoch überwiegend im Sitzen, in Betracht.

b) Der Neurologe Prof. Dr. We. hat in seinem Gutachten eine Hypästhesie am rechten Oberarm und an der rechten Ellenbeuge festgestellt, außerdem eine leichte Hypästhesie rechts an der Rückseite von Daumen, Klein- und Ringfinger, sowie links an der Innenseite von Daumen, Klein-/Ringfinger, geringer auch am Zeigefinger, sowie unterhalb des Bauchnabels eine linksbetonte leichte Hypästhesie, Hypalgesie und Thermhypästhesie. Die Konzentrationsfähigkeit des Klägers ist nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. We. eingeschränkt. Für den Kläger stehen nach den Angaben des Sachverständigen auf neurologischem Fachgebiet vor allem belastungsabhängige schmerzhafte Missempfindungen, vorwiegend im linken Bein und Gesäß, sowie eine Gangstörung im Vordergrund. Die Beschwerden sind Folge des zervikalen Tumors und dessen Therapie. Hinzu kommt nach dem neurologischen Gutachten eine die neurologische Symptomatik überlagernde depressive Störung. Prof. Dr. We. beschreibt in der Zusammenschau ein schweres chronisches Schmerzsyndrom mit zusätzlicher Anpassungs- und reaktiver depressiver Störung. Prof. Dr. We. hält eine Erwerbstätigkeit des Klägers von mehr als zwei Stunden täglich für möglich, wobei jedoch nur leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen, jedoch überwiegend im Sitzen ausgeübt werden können. Erforderlich sind dabei Arbeitspausen für den Kläger von jeweils 15 Minuten, zumindest alle zwei Stunden.

c) Der Sachverständige Dr. L., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, hat weitere Feststellungen zum Gesundheitszustand des Klägers getroffen. Der Sachverständige beschreibt einen Tinnitus beidseits Typ II und ein Karpaltunnelsyndrom rechts. Er konkretisiert die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. We. zur Depressivität des Klägers. Der Tinnitus lässt Arbeiten im Kundenverkehr und Arbeiten in lauter Umgebung nur eingeschränkt als möglich erachten; derartige Tätigkeiten sind weitgehend zu vermeiden. Die Depressivität lässt Arbeiten überwiegend unter Zeitdruck, unter hoher Verantwortung und mit besonderer Anforderung an das Auffassungsvermögen, bzw. an die Konzentration, weitgehend nicht zu. Auch Arbeiten im Kundenverkehr sind nur begrenzt möglich. Das Hantieren mit schweren Gegenständen, das Halten und Montieren, ist durch das Karpaltunnelsyndrom beeinträchtigt. Ebenso sind feinmotorische Tätigkeiten durch die eingeschränkte Sensibilität in den ersten Fingern nur erschwert möglich. Der Sachverständige schließt leidensgerechte Tätigkeiten des Klägers über zwei Stunden, bis maximal vier Stunden täglich, nicht aus.

3. Die Feststellungen der medizinischen Sachverständigen begründen den Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Erwerbsunfähigkeitsrente. Der Kläger ist im Sinne der Versicherungsbedingungen in seiner Leistungsfähigkeit „stark eingeschränkt“, weil es keine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt übliche Tätigkeit gibt, die der Kläger mit mehr als zwei Stunden täglich, unter Berücksichtigung seines Restleistungsvermögens, ausüben könnte. Entscheidend für diese Beurteilung sind die schriftliche Auskunft der Agentur für Arbeit K. vom 09.08.2018 (II 53, 55) und das mündliche Gutachten der Sachverständigen C. W. (vgl. das Protokoll vom 16.10.2018, II 101 ff.).

Für die Beurteilung der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Tätigkeiten kommt es auf Kenntnisse und Erfahrungen zu der Frage an, welche Tätigkeiten auf dem Arbeitsmarkt angeboten werden, und welche Anforderungen an das erforderliche Leistungsvermögen eines Arbeitnehmers von den Arbeitgebern üblicherweise bei diesen Tätigkeiten gestellt werden. Die Sachverständige C. W. ist Teamleiterin Arbeitgeberservice bei der Agentur für Arbeit K. und kann aus ihrer Erfahrung, sowie aus mitberücksichtigten Erfahrungen ihrer Kollegen, einschätzen, welche Tätigkeiten mit welchen Anforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Sie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das gesundheitliche Restleistungsvermögen des Klägers für die Vermittlung einer üblichen Tätigkeit nicht ausreicht, und zwar auch nicht für eine Teilzeittätigkeit. In Betracht kämen für den Kläger allenfalls Tätigkeiten in eigens dafür eingerichteten Einrichtungen für Behinderte, wie beispielsweise in Einrichtungen der Lebenshilfe e. V..

a) Die Sachverständige hat auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt übliche Tätigkeiten geprüft, die sich am unteren Rand der Anforderungen bewegen. Sie hat erläutert, weshalb selbst diese Tätigkeiten mit besonders geringen Anforderungen für den Kläger nicht in Betracht kommen. Dabei spielt eine Rolle, dass sich aus den medizinischen Sachverständigengutachten nicht nur eine einzige Beeinträchtigung ergibt, sondern dass für die zu überprüfenden Tätigkeiten jeweils mehrere Einschränkungen gelten, die theoretisch von einem Arbeitgeber berücksichtigt werden müssten. Die Sachverständige hat auch darauf hingewiesen, dass sich die Anforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Laufe der Zeit geändert haben. Das bedeutet, dass der Umgang mit Stressbelastungen oder mit Kundenkontakten – die der Kläger nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. L. weitgehend vermeiden müsste – heute sehr viel mehr als früher zum üblichen Anforderungsprofil auch bei ungelernten Tätigkeiten gehört.

Eine Helfertätigkeit in der Produktion kommt für den Kläger wegen seiner orthopädischen Einschränkungen nicht in Betracht. Eine Tätigkeit am Telefon, beispielsweise in einem Call-Center, scheidet nach den Ausführungen der Sachverständigen schon wegen des Tinnitus des Klägers aus. Außerdem sind derartige Tätigkeiten regelmäßig mit erheblichen Stress für die Mitarbeiter verbunden. Auch einfache Bürotätigkeiten erfordern heute die Bedienung der EDV und eine jedenfalls nicht unerhebliche Konzentrationsfähigkeit, die beim Kläger nur eingeschränkt vorhanden ist. Zu einfachen Bürotätigkeiten gehören in der Regel auch Kundenkontakte, die dem Kläger nach den medizinischen Gutachten nur in geringem Umfang zumutbar wären. Eine Tätigkeit als Pförtner oder Museumsaufsicht scheidet aus, weil es sich dabei regelmäßig um Schichtarbeit handelt, so dass die von den medizinischen Gutachten vorgegebene Möglichkeit einer Pause von mindestens 15 Minuten nach jeweils zwei Stunden nicht gewährleistet ist. Ein Pförtner oder ein Mitarbeiter in der Museumsaufsicht arbeitet regelmäßig allein. Schließlich sind auch diese Tätigkeiten heutzutage mit Kundenkontakten verbunden; außerdem sind Kontrollgänge mit einer gewissen Konzentration erforderlich. Eine Hausmeistertätigkeit scheitert an den orthopädischen Einschränkungen des Klägers. Schließlich wird von Hausmeistern heute auch ein Beschwerdemanagement erwartet, so dass Stress hinzu kommt.

b) Die Einschätzungen der medizinischen Gutachter stehen der Beurteilung des Senats nicht entgegen. Bei der Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. We. und Dr. L., wonach der Kläger in der Lage sei, eine Erwerbstätigkeit von mehr als zwei Stunden täglich nachzugehen, handelt es sich um eine abstrakte Beurteilung. In den medizinischen Gutachten befindet sich – entsprechend der medizinischen Fachkompetenz der Sachverständigen – keine Beurteilung, welche konkreten Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für den Kläger in Betracht kommen könnten, und von welchem üblichen Anforderungsprofil für diese Tätigkeit auszugehen wäre.

c) Es ist nicht erheblich, ob bestimmte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von Arbeitgebern als Teilzeittätigkeiten angeboten werden. Die Sachverständige hat zwar zu der Tätigkeit von Pförtnern erklärt, dass es in diesem Bereich heute auf dem Arbeitsmarkt keine Angebote von Teilzeittätigkeiten gebe. Darauf kommt es für die Entscheidung des Senats jedoch nicht an. Entscheidend ist, dass die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers nach dem Gutachten der Sachverständigen – unabhängig von der Frage einer möglichen Teilzeittätigkeit – dem Anforderungsprofil der üblichen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht entsprechen.

d) Die Beklagte weist darauf hin, eine Rente stehe dem Kläger auch deshalb nicht zu, weil er nach 2.1 BZE auch auf eine „selbstständige Tätigkeit“ verwiesen werden könne. Auch dieser Einwand hat keinen Erfolg. Eine „Erwerbstätigkeit“ im Sinne der Versicherungsbedingungen kann nur eine solche Tätigkeit sein, die dem Kläger eine realistische Erwerbschance bietet. Eine solche Tätigkeit ist für den 1962 geborenen Kläger, der nie selbstständig tätig war, nicht ersichtlich, und wird auch von der Beklagten nicht genannt. Der Senat schließt nicht aus, dass der Kläger auf der Grundlage der Feststellungen der medizinischen Gutachten theoretisch „leidensgerecht“ als Schriftsteller oder als Unternehmensberater tätig werden könnte, wenn er diese Tätigkeiten von zu Hause aus ausüben würde. Bei diesen – neu aufzunehmenden – selbstständigen Tätigkeiten würde es sich jedoch nicht um eine Erwerbstätigkeit im Sinne der Versicherungsbedingungen handeln, da eine Chance für eine Erzielung von Einkünften für den Kläger offensichtlich ausscheiden würde.

e) Die Einwendungen der Beklagten im Schriftsatz vom 22.11.2018 gegen das Gutachten der Sachverständigen W. sind nicht begründet.

aa) Es trifft nicht zu, dass die Sachverständige eigene Einschätzungen der gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers vorgenommen hätte. Die Sachverständige hat zum Gesundheitszustand des Klägers und den sich daraus ergebenden Einschränkungen ausschließlich die Vorgaben der drei medizinischen Sachverständigen berücksichtigt.

bb) Es gibt keinen fachlichen Widerspruch zwischen der Einschätzung des allgemeinen Arbeitsmarkts durch die medizinischen Sachverständigen und der Sachverständigen W.. Die medizinischen Sachverständigen haben entsprechend ihrem Auftrag und ihrer Fachkompetenz die Möglichkeiten und Grenzen einer „leidensgerechten“ Tätigkeit des Klägers dargestellt. Soweit die medizinischen Sachverständigen eine Erwerbstätigkeit des Klägers in eingeschränktem Umfang für möglich gehalten haben, haben sie lediglich Schlussfolgerungen gezogen aufgrund einer von ihnen als möglich erachteten Annahme, dass es entsprechende leidensgerechte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gebe.

Feststellungen zum allgemeinen Arbeitsmarkt haben die medizinischen Sachverständigen nicht getroffen, und konnten sie im Rahmen ihrer medizinischen Fachkompetenz auch nicht treffen.

Diese Feststellungen fallen allein in den Kompetenzbereich der Sachverständigen W., die die erforderliche Erfahrung und Fachkunde auf dem Arbeitsmarkt besitzt. In der Agentur für Arbeit ist bekannt, wie die üblichen Stellenbeschreibungen für die in Betracht kommenden Tätigkeiten (wie zum Beispiel Mitarbeiter in einen Call-Center oder Hausmeister) aussehen. In der Agentur für Arbeit ist vor allem bekannt, welches Anforderungsprofil Arbeitgeber bei der Suche nach Mitarbeitern vorgeben. Und in der Agentur für Arbeit ist zudem bekannt, worauf die Sachverständige W. hingewiesen hat, wie sich die üblichen Anforderungen von Arbeitgebern an das Leistungsvermögen – oder an das Restleistungsvermögen – ihrer Mitarbeiter im Laufe der Zeit verändert haben.

cc) Einer Tätigkeit des Klägers in einem Call-Center steht nach den gutachterlichen Ausführungen der Sachverständigen nicht nur sein Tinnitus entgegen, sondern auch die besondere Stressbelastung bei derartigen Tätigkeiten. Dass der Gesundheitszustand des Klägers Arbeiten überwiegend unter Zeitdruck weitgehend nicht zulässt, beruht auf dem Gutachten des Sachverständigen Dr. L..

dd) Die Hinweise der Beklagten auf Teilzeittätigkeiten in Stellenanzeigen sind schon deshalb unbehelflich, weil nicht ersichtlich ist, bei welchen von der Beklagten angegebenen Stellen die von der Sachverständigen W. berücksichtigten Anforderungen keine Rolle spielen sollen.

ee) Die von der Beklagten geforderte „individuelle Begutachtung des Klägers“ haben die medizinischen Sachverständigen vorgenommen. Auf dieser Basis hat die Sachverständige W. ihr Gutachten erstattet. Für eine zusätzliche „individuelle Begutachtung“ des Klägers durch einen Mitarbeiter der Agentur für Arbeit gibt es im Hinblick auf die Regelung in den Versicherungsbedingungen – entgegen der Auffassung der Beklagten – keinen Anlass. Dass die Agentur für Arbeit in H. auf eine ähnliche außergerichtliche Anfrage der Beklagten keine eindeutige Antwort geben konnte oder wollte (vgl. die Anlage BB 3), steht dem nicht entgegen.

ff) Für das von der Beklagten beantragte ergänzende arbeitsmedizinische Gutachten gibt es keinen Anlass. Die Einschätzung des gesundheitlichen Restleistungsvermögens des Klägers ist bereits durch die erstinstanzlich eingeholten medizinischen Gutachten geklärt. Für die Frage, welche in Betracht kommenden selbstständigen oder unselbstständigen Tätigkeiten mit welchen Anforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind, besitzt ein Arbeitsmediziner keine Kenntnisse oder Erfahrung, die über die Kompetenz der Agentur für Arbeit hinausgehen würde.

gg) Es ist hervorzuheben, dass die Beklagte weder bei ihren Fragen an die Sachverständige im Termin vom 16.10.2018 (vgl. dazu die vorbereitende Verfügung des Einzelrichters vom 24.09.2018) noch im Schriftsatz vom 22.11.2018 eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt übliche konkrete Erwerbstätigkeit genannt hat, welche der Kläger nach ihrer Meinung mit den von den medizinischen Sachverständigen angegebenen Einschränkungen „leidensgerecht“ ausüben könnte.

4. Die geltend gemachten Zinsen stehen dem Kläger gemäß § 291 BGB zu.

5. Der Kläger kann von der Beklagten Erstattung der vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 2.348,94 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.12.2014 gemäß §§ 286 Abs. 1, Abs. 2 Ziffer 3, 280 Abs. 1, Abs. 2, 291 BGB verL.en. Die Beklagte ist durch die Leistungsablehnung im Schreiben vom 19.11.2013 (Anlage K 2) in Verzug geraten. Die Berechnung der Anwaltsgebühren in der Rechnung der Prozessbevollmächtigten vom 30.09.2014 (Anlage K 8) ist nicht zu beanstanden.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 711 ZPO.

7. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Bei der Frage, welche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Tätigkeiten bei dem Restleistungsvermögen des Klägers in Betracht kommen könnten, handelt es sich um eine Tatsachenfrage, die auf Grund der Umstände des Einzelfalles zu beantworten ist. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 543 Abs. 2 Ziffer 1 ZPO.

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