Für einen selbstständigen Zahnarzt stand die Frage nach dem Beginn der Leistungspflicht seiner Berufsunfähigkeitsversicherung im Raum, da seine fortschreitenden Schulterprobleme nur schwer eindeutig datierbar waren. Obwohl eine Berufsunfähigkeit schließlich festgestellt wurde, musste der Versicherer die Anwaltskosten nicht übernehmen – eine unerwartete rechtliche Pointe.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Wie ein unscharfes Foto den Beginn einer Berufsunfähigkeit beweisen kann
- Darf ein Gericht die Berufsunfähigkeit für einen späteren Zeitpunkt feststellen als ursprünglich behauptet?
- Handelte es sich um dieselbe Krankheit oder einen neuen Versicherungsfall?
- Hätte der Zahnarzt seine Praxis nicht einfach umorganisieren können?
- Warum muss die Versicherung die Rente zahlen, aber nicht die Anwaltskosten?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Welche Rolle spielt der Prognosezeitraum bei der Feststellung meiner Berufsunfähigkeit?
- Wer trägt die Beweislast, wenn meine Berufsunfähigkeit angezweifelt wird?
- Was tun, wenn meine BU-Versicherung die Leistung zunächst ablehnt?
- Übernimmt meine Rechtsschutzversicherung die Kosten bei einem BU-Streit?
- Wann sollte ich meiner BU-Versicherung eine mögliche Berufsunfähigkeit melden?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil 11 U 124/24 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Celle
- Datum: 09.01.2025
- Aktenzeichen: 11 U 124/24
- Verfahren: Berufungsverfahren
- Rechtsbereiche: Versicherungsrecht, Prozessrecht
- Das Problem: Ein Zahnarzt forderte Leistungen von seiner Berufsunfähigkeitsversicherung, weil er sich seit April 2019 berufsunfähig sah. Die Versicherung lehnte dies ab und stritt über den genauen Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit.
- Die Rechtsfrage: Kann ein Gericht den Beginn einer Berufsunfähigkeit auch zu einem späteren Zeitpunkt feststellen, selbst wenn der Versicherte einen früheren Zeitpunkt behauptet hat?
- Die Antwort: Ja. Das Gericht stellte fest, dass die Versicherung Leistungen ab Januar 2023 zahlen muss. Es betonte, dass der Anspruch auf Berufsunfähigkeit auch für einen späteren Zeitpunkt geprüft werden muss, selbst wenn ein früherer behauptet wurde.
- Die Bedeutung: Für Versicherte bedeutet dies, dass der genaue Beginn der Berufsunfähigkeit nicht auf den Tag genau bewiesen werden muss. Die Versicherung muss auch einen späteren Zeitpunkt prüfen, wenn die Ursache gleich geblieben ist.
Der Fall vor Gericht
Wie ein unscharfes Foto den Beginn einer Berufsunfähigkeit beweisen kann
Die Berufsunfähigkeit eines selbstständigen Zahnarztes begann nicht mit einem lauten Knall. Sie schlich sich leise in seinen Praxisalltag. Als er im April 2019 seine Arbeit niederlegen musste, war der Grund klar – eine kaputte Schulter.

Doch der exakte Beweis für diesen Moment glich einem unscharfen Foto aus der Vergangenheit. Die Versicherung hielt sich an diese Unschärfe und verweigerte die Zahlung. Ein Gericht musste später entscheiden, ob ein klares Foto von einem späteren Zeitpunkt ausreicht, um den gesamten Film zu entwickeln.
Darf ein Gericht die Berufsunfähigkeit für einen späteren Zeitpunkt feststellen als ursprünglich behauptet?
Ja, das darf es. Und genau hier lag der Kern des Streits. Der Zahnarzt hatte seiner Versicherung gemeldet, er sei seit April 2019 berufsunfähig. Die Versicherung prüfte diesen Stichtag und lehnte ab. Im Gerichtsverfahren kam ein Gutachter zu einem differenzierten Ergebnis: Für April 2019 könne er die Berufsunfähigkeit „weder beweisen noch ausschließen“. Es fehlten einfach die nötigen medizinischen Dokumente aus dieser Zeit. Für den Januar 2023 konnte er sie aber klar bestätigen.
Die Versicherung sah darin einen strategischen Vorteil. Ihr Argument: Der Zahnarzt hat Leistungen für April 2019 eingeklagt, nicht für Januar 2023. Ein späterer Beginn sei ein komplett neuer Versicherungsfall. Dieser sei nie gemeldet und geprüft worden. Folglich könne er auch nicht Gegenstand des laufenden Prozesses sein.
Das Oberlandesgericht Celle durchkreuzte diese Logik. Die Richter stellten klar, dass das sogenannte Stichtagsprinzip anders funktioniert. Es dient vor allem dazu, den zuletzt ausgeübten Beruf zu definieren – in diesem Fall den des selbstständigen Zahnarztes. Es friert aber nicht die medizinische Bewertung auf einen einzigen Tag ein. Klagt ein Versicherter auf eine dauerhafte Leistung wegen einer fortschreitenden Erkrankung, muss das Gericht den gesamten Zeitraum prüfen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob der Beweis exakt am Wunschdatum gelingt. Die Frage ist, ob und ab wann die Krankheit die Berufsunfähigkeit auslöste.
Handelte es sich um dieselbe Krankheit oder einen neuen Versicherungsfall?
Der Fall stand und fiel mit der Unterscheidung zwischen einer Verschlechterung und einer neuen Erkrankung. Hätte der Zahnarzt 2019 eine kaputte Schulter gemeldet und wäre 2023 wegen einer psychischen Erkrankung ausgefallen, hätte die Versicherung Recht gehabt. Das wäre ein neuer, eigenständiger Fall.
Hier lagen die Dinge anders. Die orthopädischen Probleme des Zahnarztes waren dieselben. Der Gutachter bestätigte, dass die krankhaften Veränderungen an seiner Schulter schon im Frühjahr 2019 vorhanden waren und ihm damals Beschwerden machten. Das Problem war rein beweisrechtlicher Natur. Die Existenz der Krankheit 2019 war unstrittig, nur ihre genauen Auswirkungen auf den Beruf ließen sich rückblickend nicht mehr exakt quantifizieren.
Das Gericht sah hier eine kontinuierliche Entwicklung. Es war kein neues Krankheitsbild aufgetaucht. Die ursprünglich gemeldete Erkrankung hatte sich lediglich so weit verschlimmert, dass sie ab Januar 2023 zweifelsfrei zur Berufsunfähigkeit führte. Im Klartext bedeutet das: Der Prozess, der zur Berufsunfähigkeit führte, hatte nachweislich schon 2019 begonnen. Das Gericht konnte den Anspruch daher ab dem Zeitpunkt zusprechen, ab dem der Beweis lückenlos gelang.
Hätte der Zahnarzt seine Praxis nicht einfach umorganisieren können?
Eine Versicherung kann die Zahlung verweigern, wenn ein Selbstständiger seinen Betrieb so umorganisieren kann, dass er trotz seiner Leiden weiterarbeiten kann. Denkbar wäre, dass der Zahnarzt nur noch verwaltende Aufgaben übernimmt und die Behandlungen delegiert. Diese Möglichkeit muss der Versicherte widerlegen.
Das war hier ein leichter Punkt für den Zahnarzt. Zeugenaussagen seiner früheren Angestellten zeichneten das Bild einer klassischen Einzelpraxis. Der Mann war ein „Einzelkämpfer“, der seine Praxis als Fulltimejob im Alleingang führte. Bei solchen Strukturen greift eine Regelvermutung der Gerichte: Eine Umorganisation ist typischerweise nicht zumutbar. Wer soll die Arbeit machen, wenn der Inhaber selbst ausfällt?
Die Versicherung brachte nur pauschale Vermutungen vor, der Zahnarzt habe seine Praxis vielleicht aus ganz anderen Gründen – etwa Hygienemängeln – geschlossen. Solche unbewiesenen Spekulationen reichten dem Gericht nicht aus. Es stützte sich auf die Fakten: Der Zahnarzt hatte seine kassenärztliche Zulassung Ende 2020 zurückgegeben und seitdem nicht mehr gearbeitet. Das war schlüssig dargelegt und bewiesen.
Warum muss die Versicherung die Rente zahlen, aber nicht die Anwaltskosten?
Hier fand die Berufung der Versicherung ihren einzigen erfolgreichen Ansatzpunkt. Der Zahnarzt forderte auch die Erstattung seiner außergerichtlichen Anwaltskosten. Ein solcher Anspruch auf Schadensersatz setzt voraus, dass die Versicherung mit ihrer Leistung „in Verzug“ war, also zu Unrecht nicht gezahlt hat (§§ 280, 286 BGB).
Das Gericht folgte der Argumentation der Versicherung. Zum Zeitpunkt der ursprünglichen Ablehnung war die Berufsunfähigkeit für April 2019 tatsächlich nicht sicher nachweisbar. Das hatte der gerichtlich bestellte Gutachter selbst bestätigt. Die Versicherung hatte also aus damaliger Sicht einen nachvollziehbaren Grund, die Leistung zu verweigern. Sie befand sich nicht in Verzug.
Ohne Verzug gibt es keinen Anspruch auf Ersatz des Verzugsschadens. Die Anwaltskosten, die vor dem Prozess entstanden, musste der Zahnarzt daher selbst tragen. Ein kleiner Sieg für die Versicherung – der an der grundsätzlichen Pflicht zur Rentenzahlung ab Januar 2023 nichts änderte.
Die Urteilslogik
Ein Gericht bewertet die Berufsunfähigkeit nicht starr nach dem erstmalig behaupteten Datum, sondern verfolgt die tatsächliche Entwicklung einer Krankheit.
- Flexible Leistungsfeststellung: Gerichte legen den Beginn der Berufsunfähigkeit flexibel fest und berücksichtigen dabei die medizinische Entwicklung einer Erkrankung über den ursprünglich gemeldeten Zeitpunkt hinaus.
- Kontinuität des Versicherungsfalls: Eine fortschreitende Verschlechterung derselben Erkrankung bildet einen einheitlichen Versicherungsfall und gilt nicht als neue Ursache für Berufsunfähigkeit.
- Anspruch auf Anwaltskosten: Der Versicherer ersetzt vorgerichtliche Anwaltskosten nur, wenn er die Leistung ursprünglich zu Unrecht verweigerte und sich dadurch im Verzug befand.
Gerichte legen bei der Leistungsprüfung den Fokus auf die materielle Wahrheit und nicht auf formale Stichtage, um den Schutz des Versicherten zu gewährleisten.
Benötigen Sie Hilfe?
Hat Ihre Berufsunfähigkeitsversicherung den Leistungsbeginn abgelehnt? Kontaktieren Sie uns für eine unverbindliche Ersteinschätzung Ihres Falls.
Experten Kommentar
Oft ist der genaue Start einer Berufsunfähigkeit nicht auf den Tag genau zu bestimmen, gerade wenn sich eine Krankheit langsam entwickelt. Das Gericht hat hier klargestellt, dass es bei der Prüfung weniger auf einen starren Stichtag ankommt, sondern auf die durchgängige Entwicklung der Erkrankung. Für Versicherte ist das eine echte Erleichterung: Wenn die Berufsunfähigkeit später eindeutig belegt werden kann, bleibt der Anspruch bestehen, solange die Ursache dieselbe ist. Diese Entscheidung bedeutet, dass Versicherer den gesamten Krankheitsverlauf betrachten müssen und sich nicht einfach auf anfänglich unklare Beweise zurückziehen können.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Welche Rolle spielt der Prognosezeitraum bei der Feststellung meiner Berufsunfähigkeit?
Der Prognosezeitraum für den Beginn Ihrer Berufsunfähigkeit ist oft flexibler, als viele Versicherte annehmen. Gerichte sind keineswegs an das ursprünglich gemeldete Datum gebunden. Sie können den Leistungsbeginn auch zu einem späteren Zeitpunkt feststellen, wenn Ihre Krankheit dann nachweislich so weit fortgeschritten ist, dass sie Ihre berufliche Tätigkeit unmöglich macht. Das gibt Ihnen eine wichtige Perspektive.
Juristen nennen das Stichtagsprinzip. Doch dieses Prinzip dient primär dazu, den zuletzt ausgeübten Beruf genau zu definieren. Es friert jedoch die medizinische Bewertung Ihrer Situation nicht auf einen einzigen Tag ein. Gerade bei fortschreitenden Erkrankungen wäre eine solche starre Haltung schlicht unfair. Deshalb müssen Gerichte den gesamten Krankheitsverlauf sowie dessen Auswirkungen auf Ihre Fähigkeit, den Beruf auszuüben, genau prüfen.
Für Sie bedeutet das: Die entscheidende Frage ist nicht, ob Sie für ein Wunschdatum lückenlose Beweise liefern können. Vielmehr geht es darum, ab wann Ihre Krankheit die Berufsunfähigkeit tatsächlich auslöste und dies dann auch bewiesen werden kann. Selbst wenn dieser Zeitpunkt später liegt als zunächst von Ihnen angenommen oder gemeldet, ist der Anspruch nicht verloren. Der Fokus liegt auf der fortlaufenden Entwicklung Ihrer Beschwerden.
Denken Sie an ein unscharfes Foto: Es mag den Beginn eines Ereignisses zeigen, ist aber nicht präzise. Wenn Sie später ein gestochen scharfes Bild derselben Situation vorlegen können, das die Entwicklung klar belegt, ist das entscheidend. Die Gesamtstory zählt.
Geben Sie nicht auf, nur weil die ersten medizinischen Berichte den genauen Beginn Ihrer Berufsunfähigkeit nicht exakt datieren können. Sammeln Sie stattdessen alle medizinischen Dokumente, Behandlungsberichte und Gutachten. Das schließt auch Unterlagen ein, die weit vor dem von Ihnen behaupteten BU-Beginn liegen oder erst später entstanden sind. Nur so legen Sie den gesamten Krankheitsverlauf lückenlos dar. Dadurch können Sie beweisen, ab wann die Krankheit die Berufsunfähigkeit wirklich auslöste.
Wer trägt die Beweislast, wenn meine Berufsunfähigkeit angezweifelt wird?
Grundsätzlich liegt die Beweislast für Ihre Berufsunfähigkeit bei Ihnen als Versichertem. Sie müssen also nachweisen, dass Sie berufsunfähig sind und ab wann dies der Fall war. Doch keine Sorge: Sie müssen nicht für einen exakten Stichtag lückenlose Beweise liefern. Oft genügt es, den Nachweis über einen fortlaufenden Krankheitsverlauf zu erbringen. Gerichte berücksichtigen dabei die Entwicklung Ihrer Beschwerden.
Als Versicherter müssen Sie Ihre Berufsunfähigkeit und deren Beginn umfassend darlegen. Hierzu zählen medizinische Diagnosen, Befunde und Behandlungsberichte, die den Grad Ihrer Beeinträchtigung belegen. Bei Selbstständigen kommt hinzu, dass sie plausibel erklären müssen, warum eine Umorganisation ihres Betriebs nicht möglich oder zumutbar war. Das ist oft ein wichtiger Punkt.
Die gute Nachricht ist: Ein Gericht konzentriert sich nicht nur auf einen einzigen, womöglich nur lückenhaft dokumentierten Stichtag. Vielmehr wird der gesamte Krankheitsverlauf betrachtet. Wenn sich die Krankheit kontinuierlich verschlechtert hat und erst zu einem späteren Zeitpunkt eindeutig nachweisbar zur Berufsunfähigkeit führte, kann der Anspruch ab diesem späteren Zeitpunkt zugesprochen werden – auch wenn Sie ursprünglich einen früheren Beginn angegeben hatten. Die Versicherung hat aber auch eine Pflicht. Ihre Ablehnungsgründe oder Gegenbehauptungen, wie beispielsweise die Möglichkeit einer Umorganisation, muss sie ebenfalls beweisen. Bloße Spekulationen reichen hier nicht aus.
Denken Sie an ein unscharfes Foto. Vielleicht haben Sie von einem Ereignis aus der Vergangenheit nur ein verschwommenes Bild. Das bedeutet aber nicht, dass das Ereignis nicht stattgefunden hat. Findet sich später ein klarer Beweis, eine scharfe Aufnahme, kann das Gericht den gesamten „Film“ der Krankheitsentwicklung nachvollziehen und den Beginn Ihrer Berufsunfähigkeit festlegen, selbst wenn das erste Bild noch nicht perfekt war.
Geben Sie bei ersten Zweifeln Ihrer Versicherung nicht auf. Sammeln Sie stattdessen alle medizinischen Unterlagen, Behandlungsberichte und gegebenenfalls Arbeitsnachweise oder Zeugenaussagen. Es ist entscheidend, den gesamten Verlauf Ihrer gesundheitlichen Einschränkungen und deren Auswirkungen auf Ihren Beruf lückenlos zu dokumentieren. Konzentrieren Sie sich nicht allein auf einen einzigen Stichtag, sondern legen Sie den gesamten „Film“ Ihrer Erkrankung offen.
Was tun, wenn meine BU-Versicherung die Leistung zunächst ablehnt?
Eine anfängliche Ablehnung Ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung ist keineswegs das Ende des Weges. Oftmals beruhen solche Entscheidungen auf einer strikten Auslegung des Stichtagsprinzips, die Gerichte bei fortschreitenden Erkrankungen lockern. Richter können den Leistungsbeginn auch zu einem späteren Zeitpunkt feststellen, wenn die Krankheit nachweislich fortgeschritten ist. Lassen Sie sich daher nicht entmutigen, denn eine erste Ablehnung ist selten ein Endurteil.
Versicherungen neigen dazu, den Beginn Ihrer Berufsunfähigkeit auf einen exakten Tag fixieren zu wollen. Gelingt der lückenlose Nachweis für diesen spezifischen Stichtag nicht, wird die Leistung schnell abgelehnt. Doch die Rechtsprechung sieht das differenzierter. Bei chronischen oder sich verschlimmernden Leiden beurteilt das Gericht den gesamten Krankheitsverlauf. Wichtig ist, ob es sich um dieselbe, sich kontinuierlich entwickelnde Erkrankung handelt, nicht um einen völlig neuen Fall. Der Anspruch auf Leistungen kann dann ab dem Zeitpunkt zugesprochen werden, ab dem die Berufsunfähigkeit eindeutig bewiesen ist, selbst wenn dieser später liegt als ursprünglich gemeldet. Dieses Vorgehen durchbricht die starre Logik der Versicherer.
Ein passender Vergleich ist ein unscharfes Foto, das mit der Zeit schärfer wird. Ihre Versicherung sieht vielleicht nur ein verschwommenes Bild vom Anfang. Das Gericht hingegen betrachtet den gesamten Fotoapparat: Es kann auch spätere, klarere Aufnahmen nutzen, um den Prozess der Krankheit von Anfang an zu verstehen und den exakten Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit zu bestimmen, ab dem der Beweis überzeugt. Der Start des Prozesses zählt, nicht nur der perfekte Schnappschuss.
Akzeptieren Sie die Ablehnung Ihrer BU-Versicherung nicht vorschnell als endgültig. Kontaktieren Sie stattdessen umgehend einen spezialisierten Anwalt für Versicherungsrecht. Eine unabhängige juristische Expertise ist unerlässlich. Ihr Anwalt kann die Ablehnungsgründe detailliert prüfen und eine Strategie für das weitere Vorgehen entwickeln – gegebenenfalls im gerichtlichen Verfahren. Sammeln Sie in der Zwischenzeit alle medizinischen Unterlagen. Nur so sichern Sie Ihre Ansprüche.
Übernimmt meine Rechtsschutzversicherung die Kosten bei einem BU-Streit?
Ihre Berufsunfähigkeitsversicherung übernimmt außergerichtliche Anwaltskosten lediglich, wenn sie die Leistung von Anfang an ungerechtfertigt verweigert hat und dadurch in Verzug geriet. Oftmals ist dies bei einer anfänglich unklaren Beweislage nicht der Fall, selbst wenn Sie später vor Gericht Recht erhalten. Ob Ihre separate Rechtsschutzversicherung die Kosten trägt, hängt von deren individuellen Vertragsbedingungen ab und wird hier nicht explizit behandelt.
Juristen nennen dieses Prinzip den „Verzug“. Einfach gesagt: Ihre BU-Versicherung muss die Kosten für Ihren Anwalt vor einem Gerichtsverfahren nur übernehmen, wenn sie von Anfang an unrechtmäßig handelte. Hat die Versicherung aber einen nachvollziehbaren Grund, die Leistung zunächst abzulehnen – weil zum Beispiel der genaue Beginn Ihrer Berufsunfähigkeit zum Meldezeitpunkt nicht lückenlos beweisbar war – dann gerät sie nicht in diesen Verzug. Selbst wenn ein Gericht später feststellt, dass Ihnen Leistungen zustehen, bedeutet das nicht automatisch eine ungerechtfertigte Ablehnung von Beginn an. Die Beweislage kann sich im Laufe eines Verfahrens durch neue Gutachten oder detailliertere Unterlagen ändern. Entscheidend bleibt der Blickwinkel zum Zeitpunkt der ersten Ablehnung.
Denken Sie an einen Schiedsrichter beim Fußball. Pfeift er in einer unklaren Situation nicht sofort Elfmeter, weil ihm die Beweise fehlen, kann man ihm später keinen Fehler vorwerfen – selbst wenn die Zeitlupe den klaren Verstoß zeigt. Seine Entscheidung war zum Zeitpunkt der Begutachtung plausibel.
Klären Sie daher unbedingt die Bedingungen Ihrer separaten Rechtsschutzversicherung. Diese ist oft der entscheidende Faktor für die Kostenübernahme bei einem Rechtsstreit um Ihre BU-Leistung. Parallel dazu sollten Sie mit einem spezialisierten Anwalt besprechen, ob in Ihrem speziellen Fall die Voraussetzungen für einen „Verzug“ Ihrer BU-Versicherung vorliegen. Ein Fachanwalt hilft Ihnen, die Chancen realistisch einzuschätzen.
Wann sollte ich meiner BU-Versicherung eine mögliche Berufsunfähigkeit melden?
Melden Sie eine mögliche Berufsunfähigkeit Ihrer Versicherung so früh wie möglich, sobald gesundheitliche Beschwerden Ihre berufliche Tätigkeit ernsthaft beeinträchtigen. Dies gilt auch dann, wenn Sie den genauen Umfang der Beeinträchtigung noch nicht abschließend beweisen können. Eine frühzeitige Meldung hilft entscheidend, den Beginn des Prozesses der Berufsunfähigkeit zu dokumentieren, selbst wenn der volle Beweis erst später erbracht wird.
Juristen nennen das eine flexible Betrachtungsweise. Es ist nicht entscheidend, ob Sie bereits am ersten Tag der Meldung lückenlose medizinische Gutachten vorlegen können. Vielmehr geht es darum, den Anfang der krankhaften Veränderungen und ihrer Beschwerden festzuhalten, die den Weg in die Berufsunfähigkeit ebnen. Bei fortschreitenden Erkrankungen prüfen Gerichte den gesamten Krankheitsverlauf. Sie sind in der Lage, den Anspruch ab dem Zeitpunkt zuzusprechen, ab dem der Beweis lückenlos gelang. Eine rechtzeitige Meldung stärkt Ihre Position, da sie die Kontinuität der Erkrankung und deren Einfluss auf Ihre Arbeit belegt.
Ein passender Vergleich ist ein sich entwickelndes Foto: Selbst wenn der erste Schnappschuss Ihrer Beschwerden noch unscharf ist, belegt er den Start der Entwicklung. Ähnlich verhält es sich mit dem Beginn der Berufsunfähigkeit: Die frühe Meldung ist wie Ihr erstes, vielleicht noch nicht perfektes Bild, das aber für die gesamte Dokumentation Ihres Krankheitsverlaufs unverzichtbar ist.
Dokumentieren Sie ab dem Moment, in dem gesundheitliche Beschwerden Ihre Arbeitsfähigkeit merklich beeinträchtigen, lückenlos. Sammeln Sie alle Arztbesuche, Diagnosen, Behandlungen und notieren Sie die konkreten Auswirkungen auf Ihre beruflichen Aufgaben. Handeln Sie proaktiv; warten Sie nicht auf ein perfektes Gutachten, denn eine späte Meldung kann die Beweisführung erheblich erschweren.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Berufsunfähigkeit
Wenn ein Versicherter seinen zuletzt ausgeübten Beruf wegen Krankheit oder Unfall auf Dauer nicht mehr oder nur noch zu einem Bruchteil ausüben kann, sprechen Juristen von Berufsunfähigkeit. Der Gesetzgeber hat diesen Begriff geschaffen, um Menschen finanziell abzusichern, die unverschuldet ihre Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben können. Eine Berufsunfähigkeitsversicherung soll das wegfallende Einkommen ersetzen und so die Existenz sichern.
Beispiel: Der selbstständige Zahnarzt litt an Schulterproblemen, die seine Berufsunfähigkeit ab Januar 2023 eindeutig begründeten, obwohl die Krankheit bereits 2019 begann.
Beweislast
Die Beweislast beschreibt im Rechtswesen, wer eine bestimmte Tatsache beweisen muss, um im Prozess zu obsiegen. Diese Regelung stellt sicher, dass jede Partei, die Rechte aus einer bestimmten Situation ableitet, die dafür notwendigen Fakten vor Gericht plausibel darlegen und belegen muss. Das fördert eine geordnete Verfahrensführung und vermeidet willkürliche Entscheidungen.
Beispiel: Der Zahnarzt trug die Beweislast für seine Berufsunfähigkeit, musste aber nicht für einen exakten Stichtag lückenlose Nachweise erbringen.
Prognosezeitraum
Als Prognosezeitraum wird die Zeitspanne bezeichnet, für die ein Arzt oder Gutachter voraussagen muss, ob eine Krankheit zu einer dauerhaften Berufsunfähigkeit führen wird. Versicherungen verlangen typischerweise eine Prognose von sechs Monaten. Diese zeitliche Einordnung ermöglicht es, zwischen vorübergehenden Einschränkungen und einer dauerhaften Unfähigkeit zur Berufsausübung zu unterscheiden, um Leistungen nur bei langfristigem Bedarf zu gewähren.
Beispiel: Im Fall des Zahnarztes war der Prognosezeitraum für den Beginn seiner Berufsunfähigkeit nicht starr auf den April 2019 festgelegt, sondern Gerichte konnten den Leistungsbeginn auch flexibel auf einen späteren Zeitpunkt wie Januar 2023 verschieben.
Regelvermutung
Eine Regelvermutung ist eine juristische Annahme, die unter bestimmten Voraussetzungen greift und von der Gegenpartei widerlegt werden muss. Gerichte nutzen solche Vermutungen, um Sachverhalte zu vereinfachen, bei denen bestimmte Konstellationen typischerweise eintreten. Sie dienen der Prozessökonomie und entlasten die Beweispflicht in Fällen, wo die Faktenlage eine klare Tendenz zeigt.
Beispiel: Für den selbstständigen Zahnarzt griff die Regelvermutung, dass eine Umorganisation seiner Einzelpraxis nicht zumutbar war, weil er als „Einzelkämpfer“ agierte und nicht einfach Aufgaben delegieren konnte.
Stichtagsprinzip
Das Stichtagsprinzip bedeutet, dass der zuletzt ausgeübte Beruf eines Versicherten zum Zeitpunkt der Meldung seiner Berufsunfähigkeit maßgeblich für die Prüfung der Leistung ist. Diese Regel dient dazu, den Bezugspunkt der versicherten Tätigkeit klar zu definieren und so Rechtsklarheit zu schaffen. Allerdings friert es die medizinische Bewertung einer fortschreitenden Erkrankung nicht auf einen einzigen Tag ein, sondern erlaubt eine flexible Betrachtung des Krankheitsverlaufs.
Beispiel: Die Versicherung des Zahnarztes berief sich auf das Stichtagsprinzip von April 2019, doch das Oberlandesgericht Celle stellte klar, dass der Krankheitsverlauf bis Januar 2023 betrachtet werden musste, um die Berufsunfähigkeit festzustellen.
Verzug
Ein Schuldner gerät in Verzug, wenn er eine fällige Leistung trotz Mahnung nicht erbringt oder die Mahnung aus bestimmten Gründen entbehrlich ist, und er dafür verantwortlich ist. Das Verzugsrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 280, 286 BGB) dient dazu, den Gläubiger vor Nachteilen durch eine verzögerte Leistung zu schützen. Es begründet einen Anspruch auf Schadensersatz für alle Schäden, die durch die Verspätung entstehen.
Beispiel: Die Versicherung geriet nicht in Verzug, weil sie die Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente zum ursprünglichen Meldezeitpunkt im April 2019 aufgrund der unklaren Beweislage zu Recht verweigerte.
Versicherungsfall
Ein Versicherungsfall ist das im Versicherungsvertrag genau beschriebene Ereignis, bei dessen Eintreten die Versicherung zur Leistung verpflichtet ist. Diese Definition legt den Umfang des Versicherungsschutzes fest und grenzt klar ab, wann eine Leistungspflicht der Versicherung entsteht und wann nicht. Sie sorgt für rechtliche Transparenz und berechenbare Risikodeckung für beide Vertragsparteien.
Beispiel: Die orthopädischen Probleme des Zahnarztes stellten einen einzigen, kontinuierlichen Versicherungsfall dar, auch wenn die Berufsunfähigkeit erst später eindeutig beweisbar war und sich nicht um eine völlig neue Erkrankung handelte.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Celle – Az.: 11 U 124/24 – Beschluss vom 09.01.2025
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