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Berufsunfähigkeitsversicherung – leidensbedingte Reduzierung der Berufstätigkeit

OLG Frankfurt – Az.: 7 U 113/20 – Urteil vom 18.11.2022

Die Berufung der Beklagten gegen das am 04.06.2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Gießen wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das angefochtene und das vorliegende Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

I.

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche auf bedingungsgemäße Leistungen aus drei Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen geltend.

Die 1961 geborene Klägerin unterhält bei der Beklagten seit dem 01.07.1989 zu Versicherungsnummer … eine kapitalbildende Lebensversicherung nebst Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die im Falle bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vierteljährliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.533,88 € sowie eine vierteljährliche Zusatzrente aus Überschussbeteiligung in Höhe von 907,84 € zusagt.

Ferner unterhält die Klägerin bei der Beklagten einen weiteren Vertrag über eine Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung mit der Nummer …, die im Falle bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vierteljährliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 3.067,75 € sowie eine vierteljährliche Zusatzrente aus Überschussbeteiligung in Höhe von 970,69 € vorsieht.

Unter der Versicherungsnummer … unterhält die Klägerin einen dritten Vertrag über eine Lebensversicherung nebst Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die im Falle bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vierteljährliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 16.479,33 € sowie eine vierteljährliche Zusatzrente aus Überschussbeteiligung in Höhe von 6.295,83 € zusagt.

Den Verträgen liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die kapitalbildende Lebensversicherung sowie die Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BBZ) zugrunde. Nach § 1 Abs. 1 BBZ erbringt die Beklagte die vereinbarten Leistungen, wenn die versicherte Person während der Dauer der Zusatzversicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig wird.

Die Klägerin ist seit 1993 als niedergelassene Fachärztin für Gynäkologie in einer Gemeinschaftspraxis tätig, in der sowohl sie als auch ihr Ehemann – ebenfalls Gynäkologe – zunächst eine Vollzeittätigkeit ausübten. Zum 01.01.2013 veranlasste die Klägerin die Umwandlung einer Hälfte ihres Kassensitzes in einen Angestelltensitz, auf dem ihr Ehemann, der seinen Kassensitz veräußert hatte, tätig wurde. Die Klägerin arbeitete fortan nur noch 15 bis 20 Stunden in der Woche. Nachdem ihr Ehemann aus Altersgründen ausschied, verkaufte die Klägerin ihren Sitz zum 01.10.2015. Seither arbeitete sie nur noch wenige Stunden in der Woche in der Versorgung von Privatpatienten.

Im September 2015 beantragte die Klägerin wegen orthopädischer und psychischer Beschwerden bei der Beklagten Leistungen aus den Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherungen. In dem Antrag gab sie an, an vier Tagen in der Woche zehn bis zwölf Stunden täglich gearbeitet zu haben, und legte ihre Praxistätigkeit näher dar. Die Beklagte stellte die Inhalte der Einzeltätigkeit unstreitig.

Die Klägerin sucht am 02.10.2015 A auf, der eine leichte depressive Episode diagnostizierte und eine Psychotherapie empfahl. Die Klägerin begab sich in Behandlung von Frau B, die die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, stellte.

Die Beklagte trat in die Leistungsprüfung ein und holte ein neuropsychiatrisches Gutachten von C ein, der zu dem Ergebnis gelangte, es liege eine leichte bis mittelgradige depressive Episode vor. Die Klägerin sei zu 25 % in ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt und könne den Praxistätigkeiten noch in einem Umfang von 15 Wochenstunden nachgehen, so dass sie ihren Beruf, eine Wochenarbeitszeit von 20 Stunden zugrunde gelegt, zu 75 % ausführen könne.

Darüber hinaus holte die Beklagte ein orthopädisches Gutachten von D ein, der zu dem Ergebnis gelangte, auf orthopädischem Fachgebiet lägen keine funktionellen Störungen vor, die die Berufsausübung beeinträchtigten. Die Beschwerden, über die die Klägerin klage, seien aus orthopädischer Sicht nicht objektivierbar. Einen Verdacht auf Simulation oder Aggravation verneinte er.

Die Beklagte lehnte daraufhin die Erbringung von Leistungen ab, da die Berufsausübung weder aus orthopädischen noch aus psychischen Gründen eingeschränkt sei, wobei die Beklagte eine Tätigkeit im Umfang von 20 Wochenstunden zugrunde legte.

Die Klägerin hat behauptet, sie sei wegen Wirbelsäulenbeschwerden, Beschwerden des Iliosakralgelenks, einer Kniegelenksarthrose rechts, einer Fingergelenksarthrose sowie Depressionen zu mindestens 50 % berufsunfähig. Sie leide seit 1995 unter ständigen orthopädischen Beschwerden, nämlich Bandscheibenvorfällen an der Hals- und an der Lendenwirbelsäule sowie Wirbelblockierungen und muskulären Dysbalancen. Da die Schmerzen im weiteren Verlauf ständig zugenommen hätten, habe sie ihre Arbeitszeit reduzieren müssen. Abzustellen sei auf ihre Tätigkeit in gesunden Tagen, nämlich einer Tätigkeit in Vollzeit mit 40 bis 48 Stunden in der Woche.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, da die Klägerin schon seit 2013 nur noch ca. 20 Stunden in der Woche gearbeitet habe, sei auf diese Arbeitszeit bei der Beurteilung der Berufsfähigkeit abzustellen. Der – vollständige – Verkauf des Kassensitzes zum 01.10.2015 sei nicht leidensbedingt erfolgt, sondern weil ihr Ehemann aus Altersgründen ausgeschieden sei und die Praxistätigkeit keinen Gewinn mehr erbracht habe.

Das Landgericht Gießen hat die Klägerin informatorisch angehört und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Ehemannes der Klägerin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf den Inhalt der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 05.03.2018.

Das Landgericht Gießen hat weiter Beweis erhoben gemäß Beschluss vom 05.03.2018 durch Einholung von schriftlichen Sachverständigengutachten. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf:

  • das orthopädisch-traumatologische Gutachten von E vom 31.08.2018,
  • das fachneurologische Gutachten von F vom 18.07.2019,
  • das psychiatrisch-psychosomatisch-psychotherapeutische Gutachten von G vom 21.10.2019 sowie
  • dessen Erläuterung in der mündlichen Verhandlung am 07.05.2020.

Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht Gießen hat der Klage mit Urteil vom 04.06.2020, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe die Klägerin ihre Arbeitszeit im Jahr 2013 leidensbedingt reduziert. Bei der Prüfung, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vorliege, sei daher eine Vollzeittätigkeit von 40 bis 48 Stunden zugrunde zu legen. Nach Überzeugung der Kammer sei die Klägerin berufsunfähig, wobei die Ursache hierfür nicht primär in einem körperlichen Leiden bestehe. Der psychiatrische Sachverständige G habe zwar nur eine chronische Verstimmung (Dysthymie) diagnostiziert, die nicht den Schweregrad einer leichten bis mittelgradigen depressiven Episode erfülle. Zusätzlich liege jedoch eine somatoforme Schmerzstörung vor. Anzeichen für eine Simulation bestünden nicht, vielmehr habe er solche für eine Dissimulation gefunden, die psychodynamisch zu erklären sei. Soweit das Ergebnis der von ihm veranlassten Testpsychologie seine Diagnose nur zum Teil stütze, sei dies entweder auf Missverständnisse oder – was er für naheliegender halte – auf ein „Herunterspielen“ der Probleme seitens der Klägerin zurückzuführen. Der vom Sachverständigen festgestellte Zustand habe mit großer Wahrscheinlichkeit schon 2015 vorgelegen, wobei der Grad der Arbeitsfähigkeit bei einer Halbtagstätigkeit über 50 % und bei einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden deutlich weniger als 50 % in ihrem Beruf als Gynäkologin betragen habe.

Gegen das ihr am 05.06.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 03.07.2020 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 07.09.2020 am letzten Tag der Frist begründet. Die Beklagte macht zur Begründung der Berufung geltend, das landgerichtliche Urteil beruhe auf erheblichen Rechts- und Verfahrensfehlern, insbesondere auf gravierenden Fehlern in der Beweiswürdigung.

Die Beklagte hält an ihrer Auffassung fest, dass für die Frage bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit nicht auf eine Vollzeittätigkeit, sondern auf eine Tätigkeit im Umfang von 15 bis 20 Stunden pro Woche abzustellen sei. Wenn zwischen dem Beginn erster Beschwerden und der tatsächlich behaupteten und vollzogenen leidensbedingten Einschränkung der Berufstätigkeit ein so langer Zeitraum wie hier liege, seien Ausnahmen von den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gerechtfertigt. Darüber hinaus sei zu fordern, dass die Reduzierung jedenfalls ausschließlich leidensbedingt erfolgt sei. Den ihr insoweit obliegenden Nachweis habe die Klägerin nicht erbracht. Die Angaben der Klägerin und ihres Ehemannes widersprächen sich. Ständige Rückenschmerzen seien vom orthopädischen Sachverständigen nicht festgestellt worden. Die Angabe, dass sie in den Jahren 2012 bis 2015 77-mal wegen Schmerzen an Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sowie am Iliosakralgelenk bei dem Orthopäden H in Behandlung gewesen sei, werde bestritten; entsprechende Belege fehlten. Zu beanstanden sei auch, dass die Kammer nicht eine Reduzierung der Arbeitszeit aus familiären Gründen angenommen habe. Über die Kleinkindphase hinaus habe es nach den eigenen Angaben der Klägerin Probleme mit dem Sohn gegeben, der besonderer Betreuung bedurft habe. Völlig unbeachtet habe die Kammer auch gelassen, dass sich die Gemeinschaftspraxis spätestens ab 2010 wegen geänderter Kostenstruktur nicht mehr rentiert habe. Wie der Ehemann der Kläger bekundet habe, habe man deshalb und weil seine Frau nicht mehr so gekonnt habe, angefangen zu reduzieren.

In medizinischer Hinsicht seien die Widersprüche im Gutachten von G nicht ausgeräumt worden. Der Orthopäde habe bei Annahme einer Vollzeittätigkeit allenfalls eine Beeinträchtigung von bis zu 20 % als gegeben erachtet, der neurologische eine solche von 25 %, wobei noch zu klären sei, inwiefern diese auf altersentsprechenden degenerativen Veränderungen beruhten. Die Annahme des Sachverständigen G, die Klägerin sei bei unterstellter 40-Stunden-Woche deutlich weniger als 50 % arbeitsfähig in ihrem Beruf, sei spekulativ und beruhe auf Unterstellungen, die für eine richterliche Überzeugungsbildung nicht geeignet seien. Dass die Arbeitszeitreduzierung auch oder gar ausschließlich leidensbedingt erfolgt sei, habe er nicht überzeugend darlegen können. Das Ergebnis der psychologischen Testung spreche gegen die Annahme einer somatoformen Störung. Jedenfalls liege keine Entscheidungsreife vor, da der Sachverständige die Frage, ob durch Einlegen von Pausen die Klägerin in der Lage sei, zu mehr als 50 % ihre Tätigkeit auszuüben, nicht beantwortet habe. Der Sachverständige habe sich darauf zurückzugezogen zu sagen, dies sei schwierig für ihn, und damit nicht abschließend zu beurteilen.

Die Beklagte beantragt, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Gießen vom 04.06.2020, Az. 5 O 370/17, die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags das angefochtene Urteil. Das landgerichtliche Urteil beruhe weder auf fehlerhafter Tatsachenfeststellung noch auf Rechtsfehlern. Die mit Blick auf die Reduzierung der Arbeitszeit zitierte Rechtsprechung betreffe gänzlich andere Fallgestaltungen. Die Besuche bei H seien nicht nur im Gutachten des Sachverständigen G, sondern auch in ihren Schriftsätzen dargelegt worden. Die Ausführungen der Beklagten seien nicht geeignet, die Feststellung des Landgerichts in Zweifel zu ziehen, dass die Arbeitszeit im Jahr 2013 allein leidensbedingt reduziert worden sei. Das Landgericht habe die tragenden Gründe für die Annahme einer deutlich über 50 % liegenden Berufsunfähigkeit in Bezug auf eine Vollzeittätigkeit seitens des Sachverständigen G überzeugend gewürdigt. Nachdem der Sachverständige umfangreich in erster Instanz angehört worden sei und die Beklagte keine Einwände mehr erhoben habe, könne sie in zweiter Instanz mit Einwänden nicht mehr gehört werden. Der Sachverständige habe auch zu dem Hinweis, dass die Klägerin Pausen einlegen könne, überzeugend Stellung genommen. Er habe darauf verwiesen, dass die Klägerin in der Exploration trotz stündlicher Pausen nach drei bis vier Stunden deutlich erschöpft gewesen sei.

Der Senat hat gemäß Beschluss vom 08.12.2021 den Sachverständigen G ergänzend angehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 19.10.2022 Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen Bezug genommen auf den Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die zur Gerichtsakte gereicht worden sind.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung der Beklagten ist zulässig, bleibt aber in der Sache ohne Erfolg. Es liegt kein Berufungsgrund im Sinne von § 513 ZPO vor, da die Entscheidung des Landgerichts weder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht noch die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung in der Sache rechtfertigen.

Das Landgericht hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verurteilt, an die Klägerin bedingungsgemäße Leistungen aus den drei Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen zu zahlen.

Die Klägerin ist seit September 2015 bedingungsgemäß berufsunfähig.

Nach § 1 Abs. 1 BBZ erbringt die Beklagte die vereinbarten Leistungen, wenn die versicherte Person während der Dauer der Zusatzversicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig wird. Vollständige Berufsunfähigkeit liegt nach § 2 Abs. 1 AVB vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist, ihren Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht. Teilweise Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die in Absatz 1 genannten Voraussetzungen nur in einem bestimmten Grad voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen erfüllt sind (§ 2 Abs. 2 BBZ). Sofern die versicherte Person sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls vollständig oder teilweise außerstande gewesen ist, ihren Beruf auszuüben gilt dieser Zustand nach § 2 Abs. 3 BBZ von Beginn an als vollständige oder teilweise Berufsunfähigkeit.

Mit dem „zuletzt ausgeübten Beruf“ im Sinne der Bedingungen, welcher für die Bemessung der Berufsunfähigkeit maßgeblich ist, ist die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Berufstätigkeit gemeint. Danach setzt Berufsunfähigkeit voraus, dass der Versicherte seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge der in den Bedingungen genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ganz oder teilweise nicht mehr ausüben kann (BGH, Beschluss vom 16.01.2019 – IV ZR 182/17 – zit. n. Juris).

Vorliegend steht die Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeit der Klägerin als niedergelassene Gynäkologin, so wie sie von ihr im Leistungsantrag beschrieben worden ist, grundsätzlich nicht im Streit. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist auf eine Berufsausübung im Umfang von 40 bis 48 Stunden pro Woche, nicht auf eine solche von 15 bis 20 Stunden pro Woche abzustellen, da die Klägerin ihre Berufstätigkeit ab 2013 leidensbedingt deutlich reduziert hat.

Die Auffassung der Beklagten, dass bei progredient verlaufenden Krankheiten und Beschwerden jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend – zwischen dem Auftreten erster Beschwerden und der tatsächlich behaupteten und vollzogenen leidensbedingten Einschränkung ein derart langer Zeitraum liege, ausnahmsweise auf die reduzierte Tätigkeit abzustellen sei, geht fehl.

Der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeit stellt kein punktuelles Ereignis dar, ein schlagartiger Leistungsabfall ist nicht die Regel. Dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens altersbedingt sowie aufgrund von Erkrankungen und Verletzungen Beeinträchtigungen erleiden kann, die sich auf seine berufliche Leistungsfähigkeit auswirken, hat nicht zur Folge, dass sich der bedingungsgemäß festgelegte Grad von Berufsunfähigkeit, der erst Anspruch auf die zugesagten Leistungen gibt, an einem fortlaufend absinkenden Leistungsniveau des Versicherten als Vergleichsmaßstab orientiert. Damit wäre die Berufsunfähigkeitsversicherung entwertet. In den Fällen eines langsam fortschreitenden Leidensprozesses oder Kräfteverfalls würde häufig der Versicherungsfall nicht eintreten, obwohl die Beeinträchtigung des Versicherten, gemessen an seiner Leistungsfähigkeit in gesunden Tagen, 50% längst erreicht oder gar überschritten hat. Da der Versicherungsfall bedingungsgemäß erst mit dem Erreichen eines bestimmten Grades von Berufsunfähigkeit eintritt, ist die Heranziehung eines Vergleichszustandes für die Ermittlung des maßgeblichen Grades unerlässlich. Dieser Vergleichszustand kann grundsätzlich nur einheitlich gefunden werden und nicht davon abhängen, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit sich langsam fortschreitend entwickelt hat oder zeitgleich mit einem plötzlichen Ereignis eingetreten ist. Maßgebend ist demnach grundsätzlich die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie in noch gesunden Tagen ausgestaltet war, d.h. solange die Leistungsfähigkeit des Versicherten noch nicht beeinträchtigt war (BGH, Urteil vom 22.09.1993 – IV ZR 203/92 – zit. n. Juris).

Eine leidensbedingte Einschränkung der beruflichen Tätigkeit begründet gerade den Versicherungsfall, gegen den sich die versicherte Person mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung nach deren erkennbarem Zweck absichern will. Dass der Versicherungsschutz für ihren Beruf in gesunden Tagen einer zeitlichen Grenze unterliegen könnte, ist für die versicherte Person bei verständiger Würdigung der Bedingungen nicht erkennbar; eine solche einschränkende Regelung ist in den hier maßgeblichen Bedingungen nicht enthalten (BGH, Urteil vom 14.12.2016 – IV ZR 527/15 – NJW 2017, S. 1620).

Danach hat eine krankheits- bzw. leidensbedingte Verkürzung der Arbeitszeit außer Betracht zu bleiben. Soweit die Beklagte geltend macht, dass auch für die bloße Arbeitszeitreduzierung der Nachweis einer ausschließlich leidensbedingten Reduzierung erforderlich sei, überzeugt dies nicht. Ein Berufswechsel bringt objektiv zu beurteilende Vor- und Nachteile mit sich. Im günstigsten Fall kann ein aufgetretenes Leiden lediglich äußerer Ablass für einen Berufswechsel sein, der zum Zeitpunkt des Wechsels objektiv betrachtet in Bezug auf Einkommen, Lebensstellung usw. nur Vorteile mit sich brachte. Darüber hinaus ist das Arbeitsplatzrisiko nicht versichert. Diese Gesichtspunkte mögen es rechtfertigen, in Bezug auf den Nachweis eines leidensbedingten Berufswechsels besondere Anforderungen zu stellen. Demgegenüber ist die Reduzierung der Berufstätigkeit in der Regel mit einem Einkommens- und auch einem gewissen Ansehensverlust in Bezug auf die berufliche Stellung verbunden. Allein die Vermutung der Beklagten, dass die Reduzierung der Arbeitskraft im Jahr 2013 nicht nur leidensbedingt geschah, sondern der Klägerin auch deshalb gelegen gekommen sei, weil ihr Ehemann altersbedingt seinen Kassensitz aufgegeben hat und sich beide den Kassensitz der Klägerin geteilt haben, so dass die Reduzierung der Arbeitszeit in den gemeinsamen Lebensplan gepasst haben könnte, ist nicht geeignet, die Beweiswürdigung des Landgerichts in Frage zu stellen.

Es trifft zwar zu, dass der Ehemann der Klägerin seine Kassensitze – zunächst seinen eigenen im Jahr 2011, dann den halben Sitz im Jahr 2015, den er von der Klägerin erworben hatte – aus Altersgründen veräußert hat, weil er weniger arbeiten wollte. Darüber hinaus hat er bekundet, dass seine Ehefrau seit Jahren Wirbelsäulen- und Knieprobleme und bis 2010 in Vollzeit gearbeitet habe, teilweise seit zehn oder zwölf Jahren aber immer mal eine Entlastungsassistentin für seine Frau eingestellt gewesen sei. Dann hätten sie anfangen müssen zu reduzieren. Wie er weiter bekundet hat, hätten sie 50 % der Kosten tragen müssen, was sie nicht mehr hätten erarbeiten können. Deshalb und auch weil seine Frau nicht mehr „konnte“, hätten sie angefangen zu reduzieren. Diese Aussage steht im Einklang mit den Angaben der Klägerin, die bekundet hat, bis 1994 unproblematisch in Vollzeit gearbeitet zu haben. Sie habe bis 2013 versucht, weiter in Vollzeit zu arbeiten. Das sei aber nicht immer gegangen. 2013 habe sie dann den halben Kassensitz verkauft, was vorher gesetzlich nicht zulässig gewesen sei.

Diese Angaben tragen in der Gesamtschau die Feststellungen des Landgerichts, dass die Klägerin zunehmend leidensbedingten Einschränkungen in der Berufsausübung unterlegen sei und deshalb ihre Arbeitszeit reduziert hat.

Soweit die Klägerin als Beleg für eine leidensbedingte Reduzierung anführt, dass sie von 2012 bis 2015 exakt 77-mal wegen Schmerzen an der Wirbelsäule und dem Iliosakralgelenk bei ihrem Orthopäden gewesen sei, kann dies offenbleiben. Sowohl aus dem Privatgutachten des Orthopäden D als auch aus dem Gutachten von E ergeben sich eine Vielzahl von MRT- und Röntgenbefunden, insbesondere auch aus den Jahren 2010 und 2011, die zwar keine hochgradig fortgeschrittenen degenerativen Veränderungen und auch keine korrespondierenden höhergradigen funktionellen Beeinträchtigungen belegen. Wie E ausführt, sind aber das Auftreten von lokalen muskulären Verspannungen im Bereich der Hals- und der Brustwirbelsäule sowie von Wirbelblockierungen aufgrund der erfolgten Spondylodese C5/6 und insbesondere auch Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule auf dem Boden vorbestehender degenerativer Veränderungen und skoliotischer Fehlhaltung denkbar. Eine lokale Schmerzsymptomatik im Bereich des rechten Kniegelenks sei unter Berücksichtigung der Voroperationen nachvollziehbar. Zusätzlich könne es im Bereich der Kreuz-Darmbeingelenke zu Irritationen kommen. Die Beschwerden seien in gewissem Umfang plausibel. Im Ergebnis nimmt er auf seinem Fachgebiet zwar nur eine Einschränkung der Berufsausübung von 20 % bei einer Vollzeittätigkeit an, wobei er aber auch ausführt, dass unter Berücksichtigung der Röntgenaufnahmen und anderer bildgebender Befunde aus der Vergangenheit keine retrospektiv konstruierbare Verschlechterung des Krankheitsbildes eingetreten sei. Das von ihm festgestellte Krankheitsbild besteht danach schon länger und belegt die leidensbedingten Einschränkungen der Klägerin in der Vergangenheit.

Dass sie nicht aus familiären Gründen zur Betreuung des Sohnes die Arbeitszeit reduziert hat, hat das Landgericht im Ergebnis ebenfalls zutreffend festgestellt. Die Versorgung des Säuglings hat die Klägerin sich mit ihrem Mann und einer Praxishelferin geteilt, weshalb sie habe weiterarbeiten können. Soweit die Klägerin gegenüber C geäußert hat, dass es schulische Probleme mit ihrem Sohn gegeben habe, der versucht habe, sein Fachabitur zu machen, letztlich aber an Mathematik gescheitert sei, ergibt sich hieraus kein nachvollziehbarer Grund für eine Reduzierung der Arbeitszeit. Unabhängig davon, dass sie sich Sorgen gemacht und viele Diskussionen mit ihrem Sohn geführt habe, war eindeutig die zunehmende Schmerzsymptomatik ausschlaggebend für die Arbeitszeitreduzierung. Dass sie ihren volljährigen Sohn halbtags beaufsichtigte, worauf die Behauptung der Beklagten abzielen dürfte, erscheint lebensfremd.

Auch das von der Beklagten angeführte Kostenargument überzeugt nicht. Die Aussage des Ehemannes der Klägerin, dass er und seine Ehefrau 50 % der Kosten zu tragen hätten und sie dies nicht hätten erarbeiten können, ist vor dem Hintergrund der nur noch eingeschränkten Belastbarkeit der Klägerin zu sehen, die infolgedessen weniger Einnahmen generiert hat.

Danach ist bei der Frage, ob die Klägerin bedingungsgemäß berufsunfähig ist, auf die Vollzeittätigkeit mit einem Umfang von 40 bis 48 Stunden auszugehen. Aus dem von der Beklagten vorgelegten Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Gießen am 04.05.2022 folgt nichts, was gegen diese Feststellung spricht.

Auf der Grundlage der ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin seit September 2015 zu mindestens 50 % außerstande gewesen ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben.

Zwar hat der orthopädische Sachverständige E bei Zugrundelegung einer Vollzeittätigkeit nur eine Einschränkung der Berufsunfähigkeit von allenfalls 20 % bejaht. Die von der Klägerin beklagten Beschwerden hat er indes als grundsätzlich plausibel bezeichnet, wenn auch nicht in dem geschilderten erheblichen Ausmaß, wobei er das subjektive Empfinden der Klägerin nicht angezweifelt hat.

Der neurologische Sachverständige F ist bei einer unterstellten Arbeitszeit von 24 bis 26 Stunden pro Woche zu einer Einschränkung der Berufsfähigkeit von 25 % ab November 2015 gelangt, da nach seinen Feststellungen nur leichte qualitative Funktionseinschränkungen bestünden. Er hat aus neurologischer Sicht eine schmerzhafte Einschränkung der Bewegung der Halswirbelsäule mit ausstrahlenden Schmerzen in die Schultern und Arme sowie in den Hinterkopf und ein sensibles Defizit an der rechten Hand festgestellt. Zusätzlich bestehen nach seinen Feststellungen belastungsabhängige Lumboischialgien aufgrund degenerativer Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit vom Rücken in die Beine ausstrahlenden Schmerzen. Darauf, ob die Degeneration altersentsprechend ist oder über das altersentsprechende Maß hinausgeht, kommt es in der Berufsunfähigkeitsversicherung entgegen der Ansicht der Beklagten nicht an.

Unabhängig davon hat G in seinem psychiatrisch-psychosomatischen Gutachten überzeugend dargelegt, dass die Klägerin unter einer chronischen depressiven Verstimmung (Dysthymie) sowie einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung leidet und seit September 2015 bei unterstellter Vollzeittätigkeit deutlich weniger als 50 % in der Lage war, ihren Beruf als niedergelassene Frauenärztin auszuüben.

Der Sachverständige hat im Einzelnen auf Grundlage seiner ausführlichen Anamnese, des von ihm erhobenen psychischen Befundes sowie einer testpsychologischen Untersuchung dargelegt, dass bei der Klägerin eine depressive Erkrankung in Form einer Dysthymia vorliegt, da die Kriterien einer rezidivierenden leichten oder mittelgradigen depressiven Störung nicht erfüllt würden. Bei der Klägerin liege eine lange Leidensgeschichte vor, die biografisch weit zurückreiche. Drei Psychotherapien hätten keinen durchgreifenden Erfolg erbracht. Für die Klägerin sei es sehr wichtig gewesen, ihrer Tätigkeit als Ärztin nachzugehen, die sie als ihre Lebensaufgabe begriffen und die sie weniger belastend empfunden habe als andere Konfliktbereiche. Die Reduzierung ihrer Arbeitszeit sei insofern Ausdruck eines hohen Leidensdrucks. Die Angaben der Klägerin seien in sich konsistent und stimmten mit den erhobenen Befunden überein. Alle Untersucher gingen davon aus, dass keine Simulation vorliege. Durchgängig seien eine depressive Störung und Hinweise auf eine Somatisierung festgestellt worden. Die Stimmungslage der Klägerin in der Exploration sei subdepressiv gewesen. Bei der Exploration habe sie deutlich dissimuliert, was psychodynamisch zu erklären sei. Sie nehme ihre Schwächen nicht wahr. Zu ihrem Selbstbild gehöre es vielmehr, aktiv zu sein und sich fast kontraphobisch immer wieder Belastungen auszusetzen und sich zu überfordern.

Die von der Klägerin beklagten Beschwerden ließen sich – wie im orthopädischen Sachverständigengutachten festgestellt – nicht hinreichend durch einen physiologischen Prozess erklären. Wie der Sachverständige G aber weiter nachvollziehbar darlegt, ist davon auszugehen, dass der Schmerz in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychischen Belastungen auftritt. Biografisch lasse sich eine mehrjährige Schmerzerkrankung feststellen, die somatische und psychosomatische Ursachen habe.

Insgesamt hat der Sachverständige die Belastbarkeit der Klägerin auf 3 bis 3,5 Stunden täglich in der Ausübung ihrer gynäkologischen Tätigkeit beschränkt gesehen. Dies hat er nachvollziehbar aus seinen Beobachtungen während der Untersuchung vor Ort hergeleitet, die mehr als vier Stunden gedauert hat. Nach viereinhalb Stunden habe die Klägerin auch bei sichtbarer Willensanstrengung nicht mehr weiter mitarbeiten können, obwohl ihr stündlich Pausen von zehn Minuten zugebilligt worden seien. Dies spricht auch gegen die Möglichkeit einer Umorganisation ihrer Tätigkeit dahin, dass mehr Pausen eingelegt würden, die – wie sich aus der Tätigkeit einer Frauenärztin ergibt – auch nicht immer einzuplanen und einzuhalten sind. Zwar hat der Sachverständige zunächst ausgeführt, für ihn sei es schwierig gewesen zu beurteilen, ob die Einlegung von Pausen zu einem Tätigkeitsumfang führen könne, der bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließe. Er hat dann aber überzeugend darauf hingewiesen, dass die Realität einer gynäkologischen Praxis eine andere als die einer Explorationssituation sei. Es handele sich um komplexe Anforderungen, die eine hohe Multitasking-Fähigkeit voraussetzten. Er hat nachvollziehbar darauf verwiesen, dass immer wieder Situationen auftreten können, die man nicht einplanen könne und auf die man sofort reagieren müsse. Die Behandlung von Patienten lässt schlicht kein starres Zeitmanagement mit feststehenden Pausen zu.

Die Angriffe der Beklagten gegen das Gutachten des Sachverständigen G sind nicht überzeugend.

Soweit der Sachverständige bei seiner Anhörung erklärt hat, er würde dazu neigen, von einer leidensbedingten Reduzierung der Arbeitszeit auszugehen, hat er mit dieser Formulierung keine Unsicherheit bezüglich dieser Feststellung zum Ausdruck gebracht, sondern vielmehr sein Ergebnis einer leidensbedingten Reduzierung ganz konkret vor dem Hintergrund der Persönlichkeitsstruktur der Klägerin erklärt. Sodann heißt es: „Von daher würde ich, wie schon gesagt, die Reduzierung … als leidensbedingt einschätzen“. Auch der Hinweis des Sachverständigen auf den Verkauf des Einfamilienhauses in Bestlage und den Erwerb einer Eigentumswohnung mit Aufzug, was für seine Einschätzung der leidensbedingten Reduzierung spreche, ist durchaus berechtigt. Es mag sein, dass Menschen auch schon vorsorglich solche Schritte unternehmen, noch bevor sie gesundheitlich beeinträchtigt sind. Trotzdem ist der Hinweis in der konkreten Situation geeignet, die Einschätzung zu stützen, zumal die Klägerin gegenüber dem Privatgutachter C geäußert hat, der Verkauf sei erfolgt, weil sie die Gartenarbeit nicht mehr habe leisten können. Dies stützt die Annahme, dass der Verkauf vor dem Hintergrund gesundheitlicher Beschwerden erfolgt ist.

Soweit die Beklagte darauf verweist, dass der Sachverständige G in seinem Gutachten selbst ausgeführt habe, dass die durchgeführten psychologischen Tests – insbesondere das Screening für somatoforme Störungen – seine Diagnose nur teilweise stützten, weil nur eines von vier Einschlusskriterien erfüllt sei, trifft dies zwar zu. Dies stellt aber seine Feststellungen letztlich nicht in Frage. Dass die Klägerin glaubhaft über Schmerzen klagt und dies nur teilweise auf somatische Ursachen zurückgeführt werden könne, haben auch die anderen Sachverständigen festgestellt. Der Sachverständige hat insofern bei der Erläuterung seines Gutachtens vor dem Landgericht zwar eingeräumt, dass bei verschiedenen Tests Einschlusskriterien für eine Somatisierungsstörung nicht oder nur wenig vorhanden gewesen seien. Er hat jedoch überzeugend auf die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin verwiesen, welche die Aussagekraft des Testergebnisses in Frage stelle. So habe die Klägerin bei der Grafik Nr. 9 bei drei Fragen nur einmal ja angekreuzt, obwohl alle drei Fragen nach dem Ergebnis seiner Anamnese hätten bejaht werden müssen. Ähnlich sei die Grafik Nr. 10 zu beurteilen. Dass er insoweit seiner psychiatrischen Exploration den Vorrang vor den Testergebnissen eingeräumt hat, ist nicht zu beanstanden.

Seine Feststellungen hat der Sachverständigen G bei seiner durch den Senat ergänzend durchgeführten Anhörung nochmals nachvollziehbar erläutert. Er hat nochmals betont, dass er die Klägerin sehr ausführlich untersucht habe, mit einer genauen Testpsychologie und zahlreichen Testbatterien. Sie habe auf ihn einen sehr glaubwürdigen Eindruck gemacht mit nur einer Einschränkung dahin, dass es eine deutliche Dissimulationstendenz gegeben habe. Sie habe nur ein sehr eingeschränktes Verständnis für ihre Krankheit. Erforderlich wäre ein somatopsychoziales Krankheitsverständnis, das allerdings bei der Klägerin nicht sehr ausgeprägt vorhanden sei. Dies führe dazu, dass sie seelische Beschwerden auf körperliche Beschwerden zurückführe, wie auch bereits I, der sie 2003 behandelt habe, angeführt habe.

Insbesondere den Zeitpunkt, ab wann die Klägerin berufsunfähig gewesen ist, nämlich September 2015, hat der Sachverständige im Rahmen der mündlichen Erläuterung nochmals überzeugend erklärt. Es hätten sich im Grunde zwei Krankheitsbilder ineinander verschränkt. Es erscheine plausibel, dass in dem Moment, in dem die Klägerin ihre Tränen nicht mehr habe beherrschen und sie sich nicht mehr habe kontrollieren können, obwohl sie eine sehr kontrollierte Frau gewesen sei, sie also quasi innerlich entglitten sei, sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr berufsfähig gewesen sei. Diese Annahme wird gestützt durch den Hinweis des Sachverständigen, dass die Untersuchung bei ihm schonender als und nicht so belastend ist wie der Praxisalltag – eine ohne weiteres nachvollziehbare Erklärung. Weiter hat er den Zeitpunkt September 2015 schlüssig unter Hinweis auf den zeitlichen Verlauf erklärt. Bei Schmerzpatienten sei es durchaus typisch, dass diese manchmal an einen Punkt gelangten, an dem die Symptome zunähmen, ohne dass man das an einem bestimmten Anlass festmachen könne. Das Fass komme dann einfach zum Überlaufen. Das sei hier im September 2015 der Fall gewesen. Es habe immer wieder Hilferufe der Klägerin gegeben, um deutlich zu machen, dass die seelischen Beschwerden so stark seien, dass sie sich in physischen Beschwerden gezeigt hätten. Ein Indiz sei unter anderem die Ineffizienz der Behandlung bei H, die im Grunde nichts gebracht habe. Diese chronische Entwicklung habe sich quasi zugespitzt und sei darin gemündet, dass die Klägerin es nicht mehr geschafft habe, ihre psychischen Beschwerden zu kontrollieren, wie sie es vorher geschafft habe.

Der Sachverständige hat auch nachvollziehbar erklärt, aus welchen Gründe eine neuropsychologische Zusatzbegutachtung im vorliegenden Falle nicht erforderlich sei. Solche Verfahren seien zum Nachweis kognitiver Störungen und zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit nützlich. Hier gehe es aber um affektive, nicht um kognitive Bereiche. Es gehe bei der Klägerin um Stressoren, die sie innerlich in einen Zustand versetzten, der ihr Schmerzen bereite. Einen solchen Mechanismus könne man mit solchen Testverfahren nicht aufdecken. Andere Testmöglichkeiten für die affektive Belastbarkeit seien ihm nicht bekannt. Es handele sich hier um ein typisches Krankheitsgeschehen mit wechselnden Lokalisationen, das geradezu typisch für eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sei. Dies mache es besonders schwierig, im Arbeitsalltag zu funktionieren und sich darauf einzustellen, weil eben die Schmerzen immer an unterschiedlichen Stellen des Körpers aufträten.

Der Senat legt seiner Entscheidung diese fundierten Feststellungen des Sachverständigen zugrunde. Der Sachverständige hat sämtliche vorliegenden Befunde eingehend ausgewertet und ausführlich dargestellt, auf welcher Grundlage er zu seiner Beurteilung gelangt ist, dies in einer für den Senat ohne weiteres nachvollziehbaren und kompetenten Art und Weise. Einwände gegen seine Feststellungen wurden letztlich auch von den Parteien nicht mehr erhoben. Insbesondere hat der Sachverständige sich auch mit den Befunden von Behandlern und anderen Gutachtern befasst und nachvollziehbar ausgeführt, es bestehe kein Widerspruch zu deren Feststellungen. Bei diesen habe die depressive Symptomatik im Vordergrund gestanden, ohne dass sie das Gesamtbild der somatoformen Erkrankung in den Blick genommen hätten.

Danach hat das Landgericht Gießen die Beklagte zu Recht zur Erbringung von bedingungsgemäßen Leistungen aus den streitgegenständlichen Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen seit September 2015 bzw. November 2015 verurteilt. Ihre Einwände gegen die ausgeurteilte Höhe hat die Beklagte in der Berufung nicht weiter substantiiert.

Da die Beklagte mit ihrer Berufung unterlegen ist, hat sie gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung zu tragen. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision gegen das Urteil war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2 ZPO).

 

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