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Berufsfähigkeitsprognose auf Grundlage statistischer Werte

OLG Karlsruhe – Az.: 9 U 54/18 – Beschluss vom 06.05.2020

Der Senat erwägt nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 18.07.2018 – N 4 O 47/16 -. Die Parteien erhalten vor einer Entscheidung des Senats Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Gründe

I.

Die Klägerin ist Alleinerbin ihres am 05.08.2015 verstorbenen Ehemannes B. S.. Sie macht für die Zeit ab dem 01.06.2014 bis zum Tod ihres Ehemannes Ansprüche aus zwei Verträgen über eine Berufsunfähigkeitsversicherung gegen die Beklagte geltend.

Der Ehemann der Klägerin hatte bei der Beklagten zwei Lebensversicherungsverträge abgeschlossen, die jeweils neben den Kapitalleistungen bei Tod und bei Vertragsablauf für den Fall der Berufsunfähigkeit eine Rente vorsahen. Die Rente sollte jeweils bei einer Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % gezahlt werden. Außerdem sollte der Versicherungsnehmer im Falle der Berufsunfähigkeit von der Beitragsleistung befreit werden. Die im Versicherungsfall zu zahlende Berufsunfähigkeitsrente sollte sich durch erwirtschaftete Überschussanteile im Laufe der Zeit erhöhen. Zum 01.06.2014 hatte sich auf diese Weise eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 336,37 € (für den Vertrag mit den Endziffern 00) und in Höhe von monatlich 894,59 € (für den Vertrag mit den Endziffern 01) ergeben. Wegen der Einzelheiten der Verträge wird auf die beiden vorgelegten Versicherungsscheine vom 16.10.1996 und vom 25.06.2003 (Anlage K 1 und K 2) verwiesen, die für die bereits früher abgeschlossenen Verträge den Stand zu dem jeweils im Versicherungsschein angegebenen Datum wiedergeben.

Der Ehemann der Klägerin war als selbstständiger Kfz-Meister seit 1992 Inhaber eines Kfz-Reparaturbetriebs, in dem Pkws, Lkws und Arbeitsmaschinen repariert wurden. Die Klägerin führte in diesem Betrieb als Angestellte in Teilzeit Büroarbeiten aus. Der Ehemann der Klägerin arbeitete selbst als Inhaber in der Werkstatt mit.

Im Mai 2014 wurde bei dem Ehemann der Klägerin ein Pankreaskarzinom (Bauchspeicheldrüsenkrebs) diagnostiziert. Es folgte eine Operation mit einer anschließenden längeren Chemotherapie. Der Ehemann der Klägerin hoffte zunächst auf eine Wiederherstellung seiner Gesundheit. Ende Januar 2015 traten Lebermetastasen auf. Die anschließende erneute Chemotherapie konnte die fortschreitende Verschlechterung des Gesundheitszustandes und den Tod des Ehemanns der Klägerin am 05.08.2015 nicht verhindern. Die Klägerin verlangte anschließend Leistungen von der Beklagten aus den beiden Verträgen. Die Beklagte erbrachte lediglich Zahlungen für Dezember 2014 und August 2015, die sie als Kulanzzahlungen bezeichnete. Weitergehende Zahlungen lehnte die Beklagte ab.

Die Klägerin hat vorgetragen, dass ihr Ehemann vor seiner Erkrankung an fünf Tagen in der Woche jeweils etwa 11 Stunden täglich körperliche und handwerkliche Tätigkeit in dem Unternehmen verrichtet habe. Diese Tätigkeiten seien mit erheblichen körperlichen Belastungen verbunden gewesen, welche ihrem Mann nach der Operation ab Juni 2014 zum weit überwiegenden Teil nicht mehr möglich gewesen seien. Neben den 11 Stunden handwerklicher Arbeit habe er etwa 1,5 Stunden pro Tag zusätzlich im kaufmännischen Bereich (Beratung von Kunden, Bürotätigkeiten, Materialeinkauf) gearbeitet. Es habe sich um einen kleinen Betrieb gehandelt, in dem lediglich ein einziger weiterer Mitarbeiter in Vollzeit für die Werkstatt angestellt gewesen sei. Außerdem habe ein Auszubildender zum Werkstattteam gehört. Für die Zeit ab Juni 2014 bis zum Tod ihres Ehemannes hat die Klägerin eine über 50 % liegende Berufsunfähigkeit geltend gemacht. Denn der Ehemann der Klägerin sei wegen der erheblichen körperlichen Anforderungen im Reparaturbetrieb nur noch in sehr geringem Umfang in der Lage gewesen, trotz seiner Beeinträchtigungen weiter mitzuarbeiten. Aufgrund der Diagnose Pankreaskarzinom sei bereits im Juni 2014 davon auszugehen gewesen, dass die Berufsunfähigkeit voraussichtlich auf Dauer bestehen würde. An der Situation des Ehemannes der Klägerin und seinen Einschränkungen in der Berufsausübung habe sich bis zum Tod am 05.08.2015 nichts geändert. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vortrags der Klägerin zur betrieblichen Organisation, zur Konkretisierung der vom Ehemann der Klägerin vor Juni 2014 ausgeübten Tätigkeiten und zu seinen körperlichen Einschränkungen wird auf die erstinstanzlichen Schriftsätze des Klägervertreters, auf die erstinstanzlichen Protokolle zur Anhörung der Klägerin, auf das vom Ehemann der Klägerin vorgelegte Antragsformular vom 28.07.2014 (Anlage K 10) und auf die Zusammenfassung der Klägerin zum Arbeitsalltag ihres verstorbenen Ehemannes (Anlage zum Protokoll vom 04.04.2017) verwiesen.

Die Beklagte ist der Klage mit verschiedenen Einwendungen entgegengetreten. Sie hat den Sachvortrag der Klägerin im Wesentlichen mit Nichtwissen bestritten. Außerdem hat die Beklagte gerügt, der Sachvortrag der Klägerin im Prozess entspreche nicht den Anforderungen, die aus rechtlichen Gründen an die Schlüssigkeit eines Vorbringens bei Ansprüchen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu stellen seien.

Das Landgericht hat die Klägerin zum Arbeitsalltag ihres Ehemannes und zu seinen körperlichen Beeinträchtigungen angehört (vgl. die Protokolle vom 04.04.2017 I, 171 ff., und vom 16.05.2018, I, 355 ff.) und zur Frage der Berufsunfähigkeit ein medizinisches Gutachten des Sachverständigen Dr. S. eingeholt (vgl. das schriftliche Gutachten vom 05.12.2017, I, 265 ff., und die mündliche Erläuterung im Termin vom 16.05.2018, I, 359 ff.).

Mit Urteil vom 18.07.2018 hat das Landgericht überwiegend entsprechend den Anträgen der Klägerin wie folgt entschieden:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 14.7771,52 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 1.230,96 € seit dem 01.06.2014, 01.07.2016, 01.08.2014, 01.09.2014, 01.10.2014, 01.11.2014, 01.02.2015, 01.03.2015, 01.04.2015, 01.05.2015, 01.06.2015, 01.07.2015 zu zahlen.

2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.249,60 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 270,80 € seit dem 01.06.2014, 01.07.2014, 01.08.2014, 01.09.2014, 01.11.2014, 01.02.2015, 01.03.2015, 01.04.2015, 01.05.2015, 01.06.2015, 01.07.2015 zu zahlen.

3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Das Landgericht hat ausgeführt, auf der Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens stehe fest, dass der Ehemann der Klägerin in der Zeit ab dem 01.06.2014 zu mindestens 50 % berufsunfähig im Sinne der vertraglichen Vereinbarungen gewesen sei. Dabei hat das Landgericht die glaubhafte und überzeugende Schilderung der Klägerin zur Organisation des Betriebs und zur Tätigkeit ihres Ehemannes vor dem 01.06.2014 zugrunde gelegt. Aus dem Gutachten des Sachverständigen ergebe sich, dass bereits am 01.06.2014 eine Prognose gestellt werden konnte, wonach der Ehemann der Klägerin voraussichtlich dauerhaft außer Stande gewesen sei, seine Berufstätigkeit zu mindestens 50 % auszuüben. Die Beklagte sei daher verpflichtet, für die Zeit von Juni 2014 bis November 2014 und für die Zeit von Februar 2015 bis Juli 2015 die vereinbarten Rentenleistungen zu erbringen und die vom Versicherungsnehmer gezahlten Beiträge zurückzuerstatten. Für Januar 2015 sei die Klage hingegen abzuweisen, da für diesen Monat keine sichere Feststellung zu den beruflichen Fähigkeiten des Ehemannes der Klägerin möglich gewesen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie hält die Entscheidung des Landgerichts aus rechtlichen und aus tatsächlichen Gründen für fehlerhaft. Das Landgericht habe keine ausreichenden Feststellungen zum versicherten Beruf getroffen. Es sei fehlerhaft, dass sich das Landgericht ausschließlich auf die Darstellungen und Angaben der Klägerin gestützt habe. Es hätte ein von der Klägerseite angebotener Zeuge vernommen werden müssen. Im Berufungsverfahren beruft sich die Beklagte gegenbeweislich zum versicherten Beruf auf diesen Zeugen. Zudem ergebe sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S. keineswegs, dass bereits im Juni 2014 eine ungünstige Prognose (voraussichtlich dauerhafte Einschränkungen) gestellt werden konnte. Das abstrakte medizinische Erfahrungswissen, dass nach der Diagnose eines Pankreaskarzinoms nur ein relativ kleiner Prozentsatz der Patienten mit einer erheblichen Besserung oder Heilung rechnen könne, reiche für eine solche Prognose nicht aus. Aus dem Urteil des Landgerichts ergebe sich zudem nicht, aus welchen Gründen – nach einer Unterbrechung im Januar 2015 – Anfang Februar 2015 eine neue ungünstige Prognose gestellt werden konnte. Die Beklagte weist darauf hin, dass eine sogenannte fingierte Berufsunfähigkeit (jeweils sechs Monate dauerhafte Arbeitsunfähigkeit) nicht zur Begründung der Klageforderung herangezogen werden könne; denn bei einer fingierten Berufsunfähigkeit stehe dem Versicherungsnehmer eine Rente erst nach Ablauf von sechs Monaten zu. Dies habe die Beklagte bei ihren vorgerichtlichen Kulanzzahlungen für Dezember 2014 und August 2015 – die nicht Gegenstand des Prozesses sind – berücksichtigt. Im Übrigen reiche der Sachvortrag der Klägerin zu einer fehlenden Möglichkeit der Umorganisation des Betriebes nicht aus. Daher sei davon auszugehen, dass der Ehemann der Klägerin trotz seiner körperlichen Beeinträchtigungen in der Lage gewesen wäre, den Betrieb so umzuorganisieren, dass er – mit anderen betrieblichen Aufgaben – weiterhin zu mehr als 50 % Arbeitsleistungen habe erbringen können. Zudem sei in den Versicherungsbedingungen eine sogenannte abstrakte Verweisungsklausel vereinbart. Der Ehemann der Klägerin hätte im streitgegenständlichen Zeitraum voraussichtlich als Kfz-Serviceberater in der Dialogannahme eines größeren Autohauses tätig werden können. Einer solchen Tätigkeit hätten die körperlichen Beeinträchtigungen des Ehemannes der Klägerin nicht entgegengestanden. Auch dieser Umstand stehe dem Anspruch der Klägerin entgegen.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung der Beklagten dürfte voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben. Eine Entscheidung des Senats nach mündlicher Verhandlung erscheint auch im Hinblick auf die Gesichtspunkte gemäß § 522 Abs. 2 Nr. 2, 3 und 4 ZPO nicht erforderlich. Zu Recht hat das Landgericht eine Leistungspflicht aus den Verträgen über eine Berufsunfähigkeitszusatzversicherung für ihren verstorbenen Ehemann in der Zeit vom 01.06.2014 bis zum 30.11.2014 und in der Zeit vom 01.02.2015 bis zum 31.07.2015 festgestellt.

Berufsfähigkeitsprognose auf Grundlage statistischer Werte
(Symbolfoto: Von Rostislav_Sedlacek/Shutterstock.com)

1. Der Klägerin stehen aus den beiden Verträgen ihres verstorbenen Ehemannes wegen dessen Berufsunfähigkeit im Zeitraum vom 01.06.2014 bis 31.07.2015 Ansprüche gegen die Beklagte in der vom Landgericht zuerkannten Höhe zu. Die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Beklagten liegen vor. Denn der Versicherungsnehmer der Beklagten war im fraglichen Zeitraum zu mindestens 50 % infolge einer Krankheit voraussichtlich dauernd außer Stande, seinen Beruf auszuüben. Nach den zutreffenden erstinstanzlichen Feststellungen lagen die Voraussetzungen für diese Prognose am 01.06.2014 vor. Die Anspruchsvoraussetzungen bestanden während des gesamten maßgeblichen Zeitraums; am 01.01.2015 hat sich an der weiter bestehenden Berufsunfähigkeit nichts geändert. Der Klägerin stehen mithin Zahlungsansprüche für den vom Landgericht berücksichtigten Zeitraum von insgesamt 12 Monaten zu, nämlich für die Zeit vom 01.06.2014 bis zum 30.11.2014 und für die Zeit vom 01.02.2015 bis zum 31.07.2015.

Die Beklagte hatte in dieser Zeit Monatsrenten zu zahlen in Höhe von 336,37 € (Vertrag mit der Endziffer 00) und in Höhe von 894,59 € (Vertrag mit der Endziffer 01). Dies ergibt einen monatlichen Gesamtbetrag in Höhe von 1.230,96 €. Für 12 Monate stehen der Klägerin daher rückständige Renten in Höhe von 14.771,52 € zu.

Die Beklagte hat nach den vertraglichen Vereinbarungen für beide Verträge auch die während der Berufsunfähigkeit geleisteten Beiträge zurückzuzahlen. Der Ehemann der Klägerin hat für beide Versicherungen monatlich jeweils zusammen 270,80 € gezahlt. Für 12 Monate ergibt sich daraus ein Rückzahlungsanspruch von 3.249,60 €.

Aus beiden Forderungen stehen der Klägerin die vom Landgericht zuerkannten Zinsen zu gemäß §§ 286 Abs. 2 Ziffer 1, 288 Abs. 1 BGB.

2. Der Ehemann der Klägerin war vom 01.06.2014 bis zum 05.08.2015 voraussichtlich zu mindestens 50 % dauernd außer Stande, seinen Beruf auszuüben. Maßgeblich für diese Feststellung ist eine Prognose ex ante zum 01.06.2014.

a) Für die Konkretisierung der Berufstätigkeit hat das Landgericht die Angaben der Klägerin und die Angaben des verstorbenen Ehemannes im Fragebogen vom 28.07.2014 (Anlage K 10) zugrunde gelegt. Aus diesen Angaben ergibt sich, mit welchen Zeitanteilen der Ehemann der Klägerin welche Tätigkeiten mit welchen körperlichen Anforderungen ausgeübt hat. Wegen der Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil und die in Bezug genommenen Angaben der Klägerin verwiesen. Danach steht fest, dass der Ehemann der Klägerin in seinem Betrieb durchschnittlich pro Arbeitstag 11 Stunden verschiedene handwerkliche Tätigkeiten mit bestimmten körperlichen Anforderungen in der Werkstatt oder außerhalb und nur in geringem Umfang (1,5 Stunden) kaufmännische Tätigkeiten im Büro ausgeführt hat.

b) Es ist nicht zu beanstanden, dass sich das Landgericht dabei im Wesentlichen auf die eingehende Darstellung der Klägerin gestützt hat. Die Angaben waren plausibel und passen zur Struktur einer kleinen Kfz-Werkstatt, in der neben dem Betriebsinhaber lediglich ein weiterer Geselle in Vollzeit in der Werkstatt arbeitet. Das Landgericht hatte keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin. Auch aus den Schriftsätzen der Beklagten, welche die Angaben der Klägerin lediglich mit Nichtwissen bestritten hat, ergeben sich keine Gesichtspunkte, die zu Zweifeln führen müssten. Im Betrieb eines Selbstständigen kennt niemand die konkrete Ausgestaltung des Berufs besser als dieser selbst. Es ist in der gerichtlichen Praxis – wenn keine Anhaltspunkte für Zweifel vorliegen – daher nicht ungewöhnlich, dass sich die Gerichte bei der Geltendmachung einer Berufsunfähigkeitsrente für das Berufsbild auf die Angaben des Versicherungsnehmers stützen, zumal es schriftliche Dokumentationen des Berufsbildes in solchen Fällen typischerweise nicht gibt (vgl. zur Praxis in derartigen Fällen beispielsweise OLG Koblenz, VersR 2002, 469; OLG Karlsruhe, Urteil vom 03.04.2008 – 12 U 151/07 -, Rn. 75, zitiert nach Juris.).

Soweit sich die Beklagte zu diesen Feststellungen in der Berufungsinstanz nun erstmals gegenbeweislich auf die Vernehmung des von der Klägerin in ihrer Klageschrift benannten Zeugen K. beruft, ist dieses Beweismittel gemäß § 531 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen, da die dort genannten Voraussetzungen für eine Zulassung nicht ersichtlich sind.

Die Prognose (retrospektiv zum 01.06.2014) einer dauerhaften Einschränkung der Berufsfähigkeit von mindestens 50 % beruht auf dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S.. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten schlüssig und nachvollziehbar die körperlichen Einschränkungen nach der Operation des Ehemannes der Klägerin Ende Mai 2014 geschildert, die eine weitere Mitarbeit bei den Reparaturarbeiten in der Werkstatt überwiegend ausschlossen. Angesichts des nur geringen Umfangs von Bürotätigkeiten, die dem Versicherungsnehmer noch möglich waren, steht damit für die Berufstätigkeit eine Einschränkung von mindestens 50 % fest.

Die Prognose einer voraussichtlich dauerhaften Einschränkung der körperlichen Möglichkeiten des Versicherungsnehmers stand nach dem Gutachten des Sachverständigen aufgrund der Diagnose eines Pankreaskarzinoms für die Zeit nach der Operation Ende Mai 2015 fest. Dies ergibt sich aus der vom Sachverständigen wiedergegebenen Ein-Jahres-Überlebensrate bei einem lokal fortgeschrittenen Pankreaskarzinom von nicht mehr als 20 %. Damit stand bereits am 01.06.2014 fest, dass mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht mit einer Besserung des Zustandes des verstorbenen Ehemannes der Klägerin zu rechnen war. Entscheidend ist, dass zu diesem Zeitpunkt keine medizinischen Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass eine Besserung noch zu erwarten gewesen wäre (vgl. zu dieser Abgrenzung BGH, NJW-RR 2007, 93 ff.).

Der Einwand der Beklagten gegen die Heranziehung einer statistischen Wahrscheinlichkeitsbetrachtung ist unzutreffend. Da es für Krankheitsverläufe und für die Überlebenswahrscheinlichkeit bei einem Pankreaskarzinom nach dem Gutachten des Sachverständigen einen gesicherten Erkenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft gibt, hat die Prognose auf der Grundlage einer solchen Wahrscheinlichkeitsbetrachtung eine deutlich bessere Grundlage als Berufsunfähigkeits-Prognosen in vielen anderen Fällen, in denen solche statistischen Vergleichswerte fehlen. Daher zieht auch der Bundesgerichtshof solche Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen für eine entsprechende Prognose heran, wenn die notwendigen Daten in der medizinischen Wissenschaft vorliegen (vgl. BGH, NJW-RR 2007, 93 ff.). Dass der verstorbene Ehemann zunächst noch für längere Zeit auf eine Wiederherstellung seiner Gesundheit hoffte, ändert an der objektiven Grundlage der Prognose nichts. Jede (für die Feststellung einer Berufsunfähigkeit ausreichende) Prognose ist im Übrigen zwangsläufig mit der Möglichkeit behaftet, dass später eine Besserung des Gesundheitszustandes – oder gar eine Heilung – entgegen der ursprünglichen Prognose eintreten kann. Eine solche – in der Regel nicht auszuschließende – Möglichkeit ändert jedoch nichts an der Richtigkeit der für die Berufsunfähigkeit maßgeblichen Prognose; vielmehr ist es dem Versicherer unbenommen, einen von der ursprünglichen Prognose abweichenden günstigen Krankheitsverlauf zum Anlass für ein späteres Nachprüfungsverfahren zu machen.

c) Die für die Leistungspflicht der Beklagten maßgebliche Berufsunfähigkeit bestand auch nach dem 01.01.2015 fort.

aa) Die Beklagte hat ihre Leistungspflicht für die Zeit ab dem 01.06.2014 nicht anerkannt, obwohl sie dazu gemäß § 173 Abs. 1 VVG verpflichtet war. In Literatur und Rechtsprechung wird vielfach die Auffassung vertreten, dass sich der Versicherer bei einer nachträglichen Veränderung von seiner Leistungspflicht auch bei fehlendem Anerkenntnis nur im Wege des Nachprüfungsverfahrens lösen könne (vgl. Prölss/Lücke, Versicherungsvertragsgesetz, 30. Auflage 2018, § 173 VVG Rn. 13 mit Nachweisen). Für die von der Beklagten geltend gemachte Wiederherstellung der Berufsfähigkeit des Ehemanns der Klägerin zum 01.01.2015 ist ein Nachprüfungsverfahren nicht durchgeführt worden.

Es kann dahinstehen, ob bereits dieser Mangel ausreicht, um die Beklagte zur Weiterzahlung der beiden Renten auch im Jahr 2015 zu verpflichten. Denn von einer weiter bestehenden Berufsunfähigkeit auch im Jahr 2015 ist in jedem Fall – unabhängig von der Frage des Nachprüfungsverfahrens – aus einem anderen rechtlichen Grund auszugehen.

Wenn eine Berufsunfähigkeit mit einer Prognose zum 01.06.2014 festgestellt wird, obliegt die Beweislast für eine mögliche spätere Wiederherstellung der Berufsfähigkeit – auch im Erstprozess – in jedem Fall dem Versicherer (vgl. Prölss/Lücke, a. a. O., § 173 VVG Rn. 14; BGH, RuS 2010, 251 ff.). Diesen Beweis hat die Beklagte nicht geführt. Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S. ergab sich nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen des Landgerichts lediglich, dass für Januar 2015 eine Verminderung der Berufsfähigkeit des verstorbenen Ehemannes der Klägerin nicht sicher festgestellt werden konnte. Das bedeutet, dass der der Beklagten obliegende Beweis einer Wiederherstellung der Berufsfähigkeit zum 01.01.2015 nicht geführt ist. Dass der verstorbene Ehemann der Klägerin im Januar 2015 tatsächlich in gewissem Umfang seine frühere Tätigkeit im Betrieb wieder aufgenommen hat, ändert nichts. Denn es ist nicht bekannt, inwieweit der Versicherungsnehmer der Beklagten im Januar 2015 Arbeitsleistungen erbracht hat, die gesundheitlich unzumutbar waren.

bb) Der Umstand, dass das Landgericht die Klage wegen der Leistungen für Januar 2015 (rechtskräftig) abgewiesen hat, weil es hinsichtlich der Fortgeltung der Berufsunfähigkeit unzutreffend von einer Darlegungs- und Beweislast der Klägerin ausgegangen ist, ändert hieran nichts. Denn die Gründe der Entscheidung für die Teilabweisung der Klage haben keine Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung des Senats für die Leistungspflicht der Beklagten in der Zeit ab dem 01.02.2015.

3. Eine betriebliche Umorganisation, die dem verstorbenen Ehemann der Klägerin einen Tätigkeitsbereich in seinem Unternehmen von mehr als 50 % eröffnet hätte, gab es nicht.

Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Bereich kaufmännischer Tätigkeiten, die der Ehemann der Klägerin trotz seiner Erkrankung noch hätte ausführen können, gering. Er hätte als Betriebsinhaber seinen Tätigkeitsbereich im kaufmännischen Bereich nur dadurch erweitern können, indem er Bürotätigkeiten der mitarbeitenden Klägerin übernommen hätte. Es war für den Versicherungsnehmer der Beklagten von vorneherein nicht zumutbar, die Klägerin als seine Ehefrau – die keine Reparaturarbeiten in der Kfz-Werkstatt leisten konnte – als Mitarbeiterin zu entlassen, nur um selbst deren Bereich übernehmen zu können. Außerdem hätte er dann im Rahmen einer Umorganisation im Hinblick auf seinen eigenen Tätigkeitsumfang in der Werkstatt einen weiteren Kfz-Mechaniker in Vollzeit einstellen müssen. Auch dies war im Hinblick auf die damit verbundenen Zusatzkosten nicht zumutbar; die Kosten eines zusätzlichen Mitarbeiters in Vollzeit wären deutlich höher gewesen, als eventuell ersparte Kosten der mitarbeitenden Klägerin, die lediglich in Teilzeit tätig war.

4. Die Beklagte konnte den Ehemann der Klägerin auch nicht darauf verweisen, dass er trotz seiner körperlichen Beeinträchtigungen anstelle der Tätigkeit als Selbstständiger eine abhängige Tätigkeit als Kfz-Service-Berater in der Dialogannahme eines größeren Autohauses hätte ausüben können.

a) Die Beklagte macht geltend, sie könne sich insoweit auf eine abstrakte Verweisungsklausel berufen, die zwischen den Parteien vereinbart worden sei. Ob eine abstrakte Verweisungsklausel (die in neueren BU-Versicherungen wenig gebräuchlich ist) vereinbart wurde, kann der Senat nicht feststellen. Denn die maßgeblichen Versicherungsbedingungen sind von der Beklagten nicht vorgelegt worden. Aus den vorgelegten Versicherungsscheinen ergibt sich, dass die „Allgemeinen Vereinbarungen und Erläuterungen“ der Beklagten vereinbart waren, die jeweils zu den Zeitpunkten der Versicherungsscheine galten (16.10.1996 bzw. 25.06.2003). Es ist unklar, ob diese vereinbarten Bedingungen mit den als Anlage K 3 und K 4 vorgelegten Bedingungen – die eine abweichende Bezeichnung tragen – inhaltlich identisch sind.

b) Es ist nicht erforderlich, im Berufungsverfahren aufzuklären, welche Bedingungen bei den beiden Verträgen tatsächlich vereinbart wurden. Denn die Beklagte kann sich auf eine abstrakte Verweisung auch dann nicht berufen, wenn tatsächlich eine Klausel vereinbart wurde, die der Formulierung in § 1 Ziffer 1.5.1 der Anlage K 3 entspricht. Eine Verweisung auf eine andere berufliche Tätigkeit käme nur dann in Betracht, wenn dem Ehemann der Klägerin ein solcher Berufswechsel zumutbar gewesen wäre. Für die Frage der Zumutbarkeit ist bei einem Selbstständigen eine Gesamtbetrachtung erforderlich (vgl. Prölss/Lücke, a. a. O., § 172 VVG Rn. 103).

Vorliegend ist bei dieser Gesamtbetrachtung die Besonderheit der Pankreaskarzinom-Diagnose zu berücksichtigen. Der Ehemann der Klägerin hatte sich seit 1992 ein kleines Unternehmen als selbstständiger Kfz-Meister aufgebaut. Nach der Diagnose hatte er zunächst die Hoffnung einer Wiederherstellung seiner Gesundheit, weil er den Betrieb weiterführen wollte. Auch wenn die Chancen für eine solche Wiederherstellung nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S. relativ gering waren, konnte vom Ehemann der Klägerin im Verhältnis zur Beklagten nicht verlangt werden, dass er die – wenn auch geringe – Chance auf eine Weiterführung des von ihm in mehr als 20 Jahren aufgebauten Betriebes aufgab, um als Angestellter in einem größeren Autohaus tätig zu werden. Auch in dem Zeitpunkt, als dem Ehemann der Klägerin das voraussichtlich tödliche Ende seiner Krankheit bewusst wurde, gab es eine solche Verpflichtung nicht. Denn es war für den Ehemann der Klägerin im Verhältnis zur Beklagten nicht zumutbar, seinen Betrieb aufzugeben, nur um bis zu seinem voraussichtlichen Tod noch eine ungewisse Zeit von wenigen Monaten eine abhängige Beschäftigung bei einem Drittunternehmen ausüben zu können.

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