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Ansprüche bei coronabedingter Schließung

LG Hannover – Az.: 2 O 164/20 – Urteil vom 19.04.2021

1. Die Klage ist hinsichtlich des Klagantrags zu Ziff. 1 der Klagschrift dem Grunde nach gerechtfertigt.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte den der Klägerin aus der erneuten Schließung des versicherten Betriebes ab dem 2. November 2020 entstandenen Schaden nach den Bedingungen des mit der Beklagten geschlossenen Betriebsschließungsvertrages (Versicherungsschein-Nr. SV 6010535-88016) zu ersetzen hat.

3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagte auf Leistungen aus einer Betriebsschließungsversicherung in Anspruch.

Die Klägerin unterhält bei der Beklagten für das von ihr betriebene „…..“ in Hameln eine „Geschäftsversicherung“ mit einer Versicherungssumme von 50.000,- €, welche eine Betriebsschließungsversicherung mit einer Versicherungssumme von 100.000,- € einschließt; diese unterliegt dem Bedingungswerk „Bedingungen für die Betriebsschließungs-Pauschalversicherung Gewerbe (BBSG 19)“ der Beklagten (Anlage K 2 der Klagschrift; im Anlagensonderheft; im Folgenden: BVB), welches u. a. folgende Regelungen vor sieht:

„1. Gegenstand der Versicherung

Ist der versicherte Betrieb von behördlichen Anordnungen (siehe Ziffer 3) aufgrund des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektions-krankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) betroffen, ersetzt der Versicherer den dadurch entstehenden Schaden.

Die Versicherung umfasst Schäden und Kosten infolge behördlicher Anordnungen zu Schließung, Desinfektion und Tätigkeitsverboten (siehe Ziffer 3.1.), Schäden und Kosten infolge behördlicher Anordnungen zu Vorräten und Waren (siehe Ziffer 3.2.) sowie behördlich angeordnete Ermittlungs- und Beobachtungsmaßnahmen (siehe Ziffer 3.3.).

3. Versicherte Gefahren und Schaden

3.1 Behördliche Anordnungen zu Schließung, Desinfektion und Tätigkeitsverboten

Der Versicherer leistet bis zu den in Ziffer 9 genannten Entschädigungsgrenzen Entschädigung, wenn die zuständige Behörde aufgrund des Infektionsschutzgesetzes beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger (siehe Ziffer 3.4)

3.1.1 den versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte zur Verhinderung der Verbreitung von meldepflichtigen Krankheiten oder Krankheitserregern beim Menschen nach Ziffer 3.4 ganz oder teilweise schließt; Tätigkeitsverbote gegen sämtliche Betriebsangehörige eines Betriebs oder einer Betriebsstätte werden einer Betriebsschließung gleichgestellt (Schließung); ein behördlich angeordnetes Verkaufsverbot von Speiseeis gilt für Eisdielen und Eiscafés auch als Betriebsschließung.

3.1.2 die Desinfektion der Betriebsräume und –einrichtung des versicherten Betriebs ganz oder in Teilen anordnet oder schriftlich empfiehlt, weil anzunehmen ist, dass der Betrieb mit meldepflichtigen Krankheitserregern nach Ziffer 3.4 behaftet ist (Desinfektion);

3.1.3 in dem versicherten Betrieb beschäftigten Personen ihre berufliche Tätigkeit

(1) wegen Infektionen mit meldepflichtigen Krankheitserregern,

(2) wegen Erkrankung an meldepflichtigen Krankheiten,

(3) wegen entsprechenden Ansteckungs- oder Krankheitsverdachts oder

(4) als Ausscheider von meldepflichtigen Erregern untersagt (Tätigkeitsverbote).

3.4 Meldepflichte Krankheiten und Krankheitserreger

Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind die im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger, ausgenommen sind jedoch humane spongiforme Enzephalopathien nach § 6 (1) 1. d) IfSG.

8.1 Entschädigungsberechnung Schließung

Der Versicherer ersetzt im Falle einer Schließung nach Ziff. 3.1.1 den entgehenden Gewinn aus dem Umsatz (…) sowie die fortlaufenden Kosten bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Schließung wieder aufgehoben wird, höchstens bis zum Ablauf der vereinbarten Haftzeit.

Kosten werden nur ersetzt, sofern ihr Weiteraufwand rechtlich notwendig oder wirtschaftlich begründet ist und soweit sie ohne die Störung des Betriebsauflaufes erwirtschaftet worden wären.

Soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, beginnt die Haftzeit zum Zeitpunkt der erstmaligen Schließung und endet 30 Tage später.

9. Entschädigungsgrenzen, Selbstbeteiligung

9.1. Allgemein

Der Versicherer leistet Entschädigung je Versicherungsfall höchstens bis zu den Entschädigungsgrenzen, die in diesen Bedingungen vorgesehen oder zusätzlich vereinbart sind.

9.2 Entschädigungsgrenzen

Soweit nichts anderes vereinbart ist, ist die Entschädigung auf folgende Beträge begrenzt:

Für Schäden infolge Schließung nach Ziffer 3.1.1 und Ziffer 8.1 bis zu 1/12 der vereinbarten Versicherungssumme; (…)

12. Öffentlich-rechtliches Entschädigungsrecht

Ein Anspruch auf Entschädigung besteht insoweit nicht, als Schadensersatz auf Grund öffentlich-rechtlichen Entschädigungsrechts beansprucht werden kann (z. B. nach den Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes …). Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, unverzüglich entsprechende Anträge zu stellen.“

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Versicherungsschein vom 2. Juli 2019 (Anlage K 1 der Klagschrift; im Anlagensonderheft Kläger) und die BVB Bezug genommen.

Mit Allgemeinverfügung vom 18. März 2020 (Anlage K 4 der Klagschrift; im Anlagensonderheft) untersagte der Landkreis Hameln-Pyrmont

„Betreibern von Beherbergungsstätten und vergleichbaren Angeboten, Hotels (…), Personen zu touristischen Zwecken zu beherbergen, und zwar bis zum 18. April 2020.“

Die Klägerin macht geltend, sie habe, da sie nur zu einem geringen Anteil von weniger als 10 % der Übernachtungen Geschäftsleute untergebracht habe ihren Betrieb in der betroffenen Zeit nicht fortgesetzt. Die Klägerin macht geltend, sie habe in den von der Allgemeinverfügung betroffenen 14 Tagen im März 2020 einen negativen Gewinn von 2.225,95 € erwirtschaftet, während sie in dem Vergleichszeitraum März 2019 einen Gewinn in Höhe von 1.973,43 € erwirtschaftet habe. Den ihr entstandenen Schaden für diese Zeit beziffert die Klägerin auf 4.199,38 €.

An den verbleibenden betroffenen 16 Tagen im April 2020 habe sie einen aktiven Gewinn in Höhe von 2.550,43 € erwirtschaftet, während sie im Vergleichszeitraum April 2019 einen Gewinn in Höhe von 1.274,50 € erwirtschaftet habe. Den entgangenen Gewinn beziffert die Klägerin entsprechend auf 3.824,93 €

Die Klägerin bezieht sich dazu auf die von ihr als Anlagen K 5 bis K 8 zu den Akten gereichten betriebswirtschaftlichen Auswertungen ihres Steuerberaters. Die Klägerin macht ferner geltend, zu erstatten seien ferner die ihr entstandenen Kosten.

Erneut untersagte die Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 (Anlage K 17 der Klagschrift) mit Wirkung zum 2. November 2020 Hotelbetrieben die Hotelbeherbung von Touristen.

Die Klägerin beruft sich überdies auf interne Einschätzungen der Beklagten zur Abdeckung des durch „Corona“-bedingte Betriebsschließungen. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 4/6 der Klagschrift sowie die von ihr in Bezug genommene auf Seite 5 der Klagschrift wiedergegebene interne Äußerung der Beklagten vom 16. März 2020 Bezug genommen. Die Klägerin macht ferner geltend, die Beklagte habe die Betriebsschließungsversicherung gerade auch unter Hinweis auf die besonderen Gefahren von Betriebsschließungen gemäß Infektionsschutzgesetz vertrieben.

Die Klägerin behauptet, sie habe ihren Hotelbetrieb auf Grund der sog. Niedersächsischen Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020 (Anlage K 17 der Klagschrift) erneut vom 2. November 2020 schließen müssen; insoweit wird wegen der Einzelheiten auf den Klägerschriftsatz vom 9. März 2021 (Bl. 133ff der Akte) Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen,

1. an sie 8.333,33 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16. April 2020 zu zahlen,

2. sie von den Kosten des vorprozessualen Tätigwerdens ihrer Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.084,70 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22. September 2020 freizustellen.

Mit Schriftsatz vom 9. März 2021 (Bl. 133ff der Akte) hat die Klägerin die Klage erweitert; sie beantragt weiter,

3. festzustellen, dass die Beklagte den der Klägerin aus der erneuten Schließung des versicherten Betriebes ab dem 2. November 2020 entstandenen Schaden nach den Bedingungen des mit der Beklagten geschlossenen Betriebsschließungsvertrages (Versicherungsschein-Nr. SV 6010535-88016) zu ersetzen hat.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, der Anteil der nicht touristischen Gäste habe im Jahr 2019 50 % betragen (Seite 2 der Klagerwiderung).

Die Beklagte macht unter Bezugnahme auf den Jahresabschluss der Klägerin für das Jahr 2017 geltend, der Betrieb habe nicht kostendeckend geführt werden können.

Die Beklagte ist der Ansicht, die redaktionelle Gestaltung von Ziffer 3.4 BVB verstehe ein „normaler Versicherungsnehmer, erst recht aber nicht ein gewerblich tätiger Unternehmer, auf dessen Horizont es ankomme – als eine dynamische Klausel, welche auch solche Infektionskrankheiten erfasse, welche im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch nicht in dem Katalog des Bundesinfektionsschutzgesetzes aufgeführt waren. Unbeschadet dessen widerspräche es den Wesen einer Versicherung, bei der sich die Prämie und das Risiko im Gleichgewicht gegenüberstünden, wenn nach Vertragsschluss entstehende Risiken versichert wären.

Die Beklagte ist der Ansicht, die Allgemeinverfügungen der Ordnungsbehörden seien aus öffentlich-rechtlichen Gründen unwirksam gewesen, sodass es überhaupt an dem Eintritt eines versicherten Risikos fehle. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 12 ff. der Klagerwiderung Bezug genommen. Unabhängig davon könne eine Allgemeinverfügung keine betriebsbezogene Schließung darstellen. Insoweit wird auf Seite 17 der Klagerwiderung Bezug genommen.

Die Beklagte ist ferner der Ansicht, vom Vertrag seien allein solche Betriebsschließungen erfasst, die auf Krankheiten und Krankheitserreger, die am Versicherungsort auftreten, gegründet sein. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 20 der Klagerwiderung Bezug genommen.

Die Beklagte ist überdies der Ansicht, gerade die von ihr verwendeten wärmenden Aussagen gäben klar zu verstehen, dass lediglich betriebsbezogene Betriebsschließungen aus (Einzel-) betriebsbezogenen Infektionsgründen abgedeckt seien. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 22 der Klagerwiderung Bezug genommen.

Die Beklagte macht geltend, es habe unabhängig davon keine Betriebsschließung, sondern lediglich eine Betriebseinschränkung vorgelegen, und es sei der Klägerin nicht untersagt worden weiterhin in ihrem Gewerbe tätig zu werden, namentlich habe sie einen Außer-Haus-Verkauf und Lieferungen und zudem eben die Aufnahme von Geschäftsreisen betreiben können.

Die Beklagte bestreitet mit Nichtwissen, dass die Klägerin ihren Betrieb in dem betroffenen Zeitraum geschlossen habe. Dass die Beklagte ihren Betrieb nicht vollständig geschlossen habe ergebe sich im Übrigen auch aus den von ihr selbst vorgetragenen Einnahmen. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 24 der Klagerwiderung Bezug genommen. Die Beklagte ist insoweit der Ansicht, nur eine vollständige Schließung des Betriebes stelle eine bedingungsgemäße Betriebsschließung dar. Insoweit gebe auch § 7 BVB deutlich zum Ausdruck, dass ein „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ vereinbart sei.

Die Beklagte beruft sich schließlich auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 27 der Klagerwiderung Bezug genommen. Die Beklagte tritt schließlich der Berechnung der Klagforderung entgegen. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 30 ff. der Klagerwiderung Bezug genommen. Die Beklagte ist der Ansicht, die Klägerin müsse insoweit in jenem Umfang Tatsachen vortragen, wie dies auch derjenige tun müsse, der entgangenen Gewinn nach Maßgabe von § 252 BGB geltend macht. Die Beklagte macht insoweit geltend, dass aufgrund der Covid-19-Pandemie die Klägerin auch ohne Betriebsschließung keine Erträge hätte erwirtschaften können (Seite 33 der Klagerwiderung). Die Beklagte macht insoweit geltend, das Hotel habe bereits am 15. März 2020 leer gestanden (Seite 34 der Klagerwiderung).

Die Beklagte meint die Klägerin habe im Übrigen gegen ihre Schadensminderungsobliegenheiten verstoßen. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf Seite 36 der Klagerwiderung Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die wechselseitigen Schriftsätze sowie deren vorgetragenen Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.

Dem Kläger stehen gegen die Beklagte Ansprüche aus der bei dieser bestehenden Betriebsschließungsversicherung zu.

1.

Die Region Hameln-Bad Pyrmont ordnete als dafür zuständige Behörde mit Allgemeinverfügung vom 17. März 2020 aufgrund des IfSG infolge eines Auftretens meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger, worunter COVID-19 und SARS-CoV-2 fallen, durch Allgemeinverfügung die Schließung der von der Klägerin betriebenen gastronomischen Einrichtung. Mit Wirkung zum 2. November 2020 untersagte die entsprechende Verordnung des Landes Niedersachsen vom 30. Oktober 2020 (Anlage K 17 des Klägerschriftsatzes vom 9. März 2021; im as). Diese Maßnahmen unterfallen 1.1 a) der BL-AlHG-1607.

Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer kann aus dem Wortlaut der Allgemeinen Versicherungsbedingungen nicht entnehmen, dass die von der Beklagten geltend gemachte Differenzierung zwischen Einzel- und Allgemeinverfügung stattfindet; an keiner Stelle ist eine Beschränkung auf behördliche Einzelfallmaßnahmen erkennbar (Fortmann, VersR 2020, 1073, 1080). Ziff. 1 und 3 BVB bezeichnen ohne nähere Klarstellung eine „Behördliche Anordnung“ als tatbestandliche Voraussetzung eines Entschädigungsanspruchs. Das mag einengend dahin zu verstehen sein, dass es eines Handelns der Exekutive bedarf – das Erfordernis einer besonderen Beschaffenheit dieses behördlichen Handelns lässt sich daraus aber nicht ableiten.

2.

Die Versicherung beschränkt sich auch nicht auf Schließungen wegen betriebsinterner Gründe (sog. „intrinsischen Gefahren“), und zwar schlicht deshalb, weil die BVB keine dahin lautende Aussage enthalten. Es mag sein, dass die Beklagte die Versicherung mit der Vorstellung eines „Leitbildes“ anbot, dass der Versicherungsnehmer vor betriebsbezogenen Schließungen geschützt wird, dies mag ihr gar so selbstverständlich erschienen sein, dass sie keinen Anlass für eine tatbestandliche Erwähnung sah und es mag auch sein, dass der durchschnittliche Versicherungsnehmer lediglich eine derartige Absicherung erwartet, ohne bei Lektüre der BVB „daran zu denken“, auch gegen Allgemeinverfügungen geschützt zu sein – allein der Versicherungsschutz bestimmt sich nicht nach dem Erwartungshorizont des Versicherungsnehmer, sondern nach seinem Textverständnis.

Den von der Beklagten (mit Schriftsatz vom 6. April 2021) zu diesem Punkt in Bezug genommenen Hinweis des OLG Schleswig vom 1. April 2021 und die dort verwendete Figur der „endogenen“ Gefahr als (offenbar ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal einer Einstandspflicht nimmt die Kammer zur Kenntnis; eine weitergehende Auseinandersetzung ist ihr nicht möglich, da das OLG Schleswig folgerichtig von einer Begründung absieht und den Parteien anrät, das Verfahren bis zu einer BGH-Entscheidung zurückzustellen. Aus Sicht der Kammer gilt hingegen schlicht: Die in Rede stehenden Aussagen der Bedingungen mögen auf eine „intrinsche“ oder „endogene“ Gefahr gemünzt sein, sie legen das aber tatbestandlich nicht nieder. Ob Versicherungsbedingungen überhaupt nach ihrer „ratio“ oder teleologisch ausgelegt werden können, mag zweifelhaft sein, eine einengende Auslegung, welche sprachlich-tatbestandliche Gefahren unter dem Blickwinkel des Bedingungsgeistes ausschließt, erscheint der Kammer jedoch nicht statthaft.

3.

Die Beklagte kann auch nicht ernstlich geltend machen, die Erstreckung des versicherten Risikos auf eine Betriebsschließung wegen des Covid-19-Virus müsse schon daran scheitern, weil sie zu einer Schieflage zwischen Prämienberechnung und Risikoumfang führe. Es ist – natürlich! – nicht Sache der Vertragsauslegung durch eine entsprechende Bestimmung des versicherten Risikos Sorge dafür zu tragen, dass das entsprechende Prämienaufkommen zureicht. Unklarheiten, redaktionelle Unschärfen und pauschale Risikobeschreibungen, welche nicht absehbare Risikoerweiterungen sprachlich umfassen, gehen auch dann zu Lasten der Versicherung, wenn dies dazu führt, dass die sich daraus ergebenden Entschädigungszahlungen über das Prämienaufkommen hinausreichen – wie eben gleichermaßen und von der Beklagten kaum ernstlich in Frage gestellt umgekehrt gilt, dass das versicherte Risiko nicht zu Gunsten des Versicherungsnehmers auf „eigentlich“ nach dem Wortlaut der Beschreibung nicht erfasste Risiken erstreckt wird, wenn die Versicherung andernfalls eine zu der Prämienzahlung im Ungleichgewicht stehende geringe Risikoabdeckung aufwiese.

4.

Die betroffenen Allgemeinverfügungen bzw. Verordnungen stellen Betriebsschließungen im Sinne von 1.1 lit. a) BVB dar, da sie der Klägerin untersagten, ihren Betrieb in einer bestimmten Gestalt – bezogen auf eine bestimmte Art von Übernachtungen – zu betreiben. Dies bewirkte bei der Klägerin nicht etwa nur eine sogenannte faktische Schließung, sondern eine unmittelbare.

5.

Dass die Klägerin – in welchem Umfang auch immer – ungeachtet der betroffenen Verfügung und Verordnung ihren Hotelbetrieb als solchen nicht in der Weise schließen durfte, dass sie grundsätzlich keine Gäste mehr beherbergen durfte, steht der Annahme eines Versicherungsfalls nicht entgegen. Die Kammer vermag den maßgeblichen Bedingungen nicht zu entnehmen, dass eine Betriebsschließung nur bei einer vollständigen, und nicht bereits auch bei einer Teilschließung – und zwar nicht bezogen auf einen räumlich oder organisatorisch abtrennbaren Teil, sondern auf einen Teil des Leistungsangebots – vorliegt. Die Kammer vermag der Regelung zu § 7 BVB kein „Alles-oder-Nichts-Prinzip“ zu entnehmen. Die Grundaussage zu Ziff. 1 stellt nicht einmal das Erfordernis einer Schließung – sie spricht denkbar weit gefasst davon, dass der versicherte Betrieb von einer Anordnung „betroffen“ ist; überdies sieht die Regelung zu Ziff. 3. 1. 1. Versicherungsschutz ausdrücklich für den Fall vor, dass der Betrieb „teilweise schließt“; schließlich wird man aus dem zu Ziffer 8.1 BVB verwendeten Begriff der „Störung des Betriebsablaufs“ entnehmen können, dass von einer Schließung durchaus auch bei (Teil-)Fortbetrieb die Rede sein kann. Die Figur der Teilschließung bezieht sich auch nicht etwa nur auf die Schließung organisatorischer Einheiten – beispielsweise der Küche -, und zwar schlicht deshalb, weil die Regelung eine derartige Beschränkung nicht ausspricht. Ob und ggf. wie sich die Beschränkung des Geschäftsbetriebs hinsichtlich des Leistungsspektrums greif- und berechenbar auswirkt, ist keine Frage des Grundes, sondern der Höhe.

6.

Ob die Allgemeinverfügung rechtswidrig war oder nicht, ist für die Frage des Versicherungsschutzes ohne Belang – die BVB beschränken diesen in ihrem Wortlaut nicht auf die Folgen rechtmäßigen Behördenhandelns.

7.

Die Teilschließungen auf Grund der März-Verfügung wie auch der Oktober-Verordnung unterfallen dem von der Beklagten zugesagten Versicherungsschutz. Dies ergibt sich im Wege der Auslegung, welche nach dem Maßstab eines verständigen, aufmerksam lesenden Versicherungsnehmers vorzunehmen ist. Danach gilt:

8.

Die Regelung zu Ziff. 1 S. 1 BVB vermittelt dem Leser für sich allein betrachtet zunächst den Eindruck, versichert sei jedwede Betriebsbeeinträchtigung auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes, denn der dort aufgezeigte Grundtatbestand für die Einstandspflicht ist allgemein gefasst und nennt als tatbestandliche Voraussetzung überhaupt nur, dass das betroffene behördliche Handeln seine Grundlage im IfSG findet. Der Leser wird an dieser Stelle keinen Anlass haben, die Frage zu stellen, ob es eine objektive Eingrenzung des Versicherungsschutzes für bestimmte Krankheiten gibt. Die betroffene Aussage enthält keinen ausdrücklichen Vorbehalt wie er beispielsweise in dem der Entscheidung des Landgerichts Stuttgart vom 30. September 2020 (16 O 305/20) zu Grunde liegenden Bedingungswerk geäußert wird:

„Sofern sich nicht aus den folgenden Bestimmungen etwas anderes ergibt, leistet der Versicherer (…) Entschädigung (…) für den Fall, dass die zuständige Behörde (…)“ (a. a.O.; zitiert nach Juris, dort Rz. 3).

Es fehlt aber überdies auch ein – in zahlreichen Bedingungswerken verwendeten – Bezug oder Verweis auf „nachstehende Regelungen“. Diese „Linie“ setzt sich in dem folgenden Satz 2 zu Ziff. 1 fort: Dort geht es um die „Schäden und Kosten“ einerseits und eine Beschreibung des Behördenhandelns, wobei Anordnungen („Schließung, Desinfektion …“) und Maßnahmen unterschieden werden. Die Regelung enthält drei Verweise auf das Nachstehende, aber keinen Verweis auf eine nähere Qualifizierung (bzw. Einschränkung) für den medizinischen Hintergrund des Behördenhandelns. Der Leser kann weiterhin davon ausgehen, dass es für den Versicherungsschutz nicht auf das Vorliegen b e s t i m m t e r Krankheiten und Erreger ankommt. Die in Satz 2 in Bezug genommene Regelung zu Ziff. 3.1 verweist dann erst ihrerseits auf die Regelung zu Ziff. 3.4, und erst diese enthält die im Mittelpunkt einer Vielzahl gerichtlicher Entscheidungen zu vergleichbaren Bedingungswerken stehende Wendung

„die im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger“.

In Ermangelung einer anderweitigen Klarstellung geht die Kammer mit der von der Beklagten angeführten Entscheidung des LG Berlin vom 24. Februar 2021 (23 O 187/20) von einer dynamischen Verweisung aus. „Namentlich genannt“ waren im Zeitpunkt des Versicherungsfalls das Coronavirus oder Sars Cov-2 nicht.

9.

Für die Oktober-Verordnung ist das Merkmal „namentlich genannt“ gegeben, denn die entsprechende Erweiterung der Kataloge in §§ 6 und 7 InfSchG durch das Artikel 1 des Gesetzes vom 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018) wurde zum 23. Mai 2020 wirksam. Für die März-Verordnung gilt das entsprechend noch nicht.

10.

Bei einer Gesamtschau der Regelung ergibt sich jedoch nach Auffassung der Kammer das Bild, dass der verständige Versicherungsnehmer auch bei der ihm abzuverlangenden sorgfältigen Durchsicht der Bedingungen durchaus auch für die März-Verordnung zu dem Eindruck gelangen darf, dass Versicherungsschutz besteht. Die Kammer verweist dazu zunächst auf die vorstehende Erörterung des Bedingungswerks. Danach ist festzustellen, dass die gesamte Regelung zu Ziff. 1 zu dem „Gegenstand der Versicherung“ einen weitreichenden Versicherungsschutz losgelöst von bestimmten Krankheiten und deren Erregern verheißt. Die Regelung zu Ziff. 3.1.1 nimmt nur zaghaft und nur im Hinblick auf die Zielsetzung der Behörde („zur Verhinderung der Verbreitung … schließt“) auf Ziff. 3 und 4 Bezug, ohne klarzustellen, dass nur bei Vorliegen entsprechender b e s t i m m -t e r Epidemien Versicherungsschutz wegen darauf bezogener Maßnahmen bestehen soll. Die Aussage zu Ziff. 3. 4 definiert dann zwar den Begriff „meldepflichtiger Krankheiten und Erreger im Sinne dieser Bedingungen“ einengend. Doch ungeachtet des Vorausweises in Ziff. 3. 1. 1. („nach Ziff. 3. 4“) kann dem verständigen und bemühten Leser angesichts des zuvor durchgängig weit gefassten Gesamtbildes entgehen, dass eine in räumlicher Entfernung stehende eher beiläufig – „nach Ziff. 3.4“ nährt beim gewöhnlichen Lesefluss nicht die Erwartung, dass ein allgemein verständlicher Begriff nachmals einen bedingungsspezifischen engeren Sinn erhalten soll – in Bezug genommene Bestimmung derjenige Ort ist, an welchem „das Entscheidende“ steht, an dem „Klarheit geschaffen“ wird. Anders als bei einer Vielzahl anderer Bedingungswerke sieht die Regelung von einer enumerativen Erwähnung der betroffenen Krankheiten und Erreger ab. Wird der Leser mit einer derartigen Auflistung „konfrontiert“, wird er zu erwarten haben, dass nur die – eben auch in den Bedingungen durch Abdruck aufgegriffenen – „namentlich genannten“ Krankheiten und Erreger erfasst sein sollen.

Anders als das LG Berlin und das LG Lübeck (VersR 2021, 375, 376), welche ein gleich bzw. ähnlich lautendes Klauselwerk zu beurteilen hatten, entnimmt die Kammer der Gesamtregelung keine zureichende Klarstellung dafür, dass nur die im IfSG unter ausdrücklicher Benennung aufgeführten Krankheiten und Erreger erfasst sein sollen, und die breite Rechtsprechung (auch der Kammer; s. im Übrigen nur zuletzt OLG Stuttgart VersR 2021, 445fff) zu Bedingungswerken mit Listen lässt sich nach Auffassung der Kammer auf das hier in Rede stehende Bedingungswerk eben nicht übertragen.

11.

Das Versicherungsverhältnis der Parteien verlor infolge der – hier angenommenen Eintrittspflicht der Beklagten für die betroffene Betriebsbeschränkung im Zusammenhang mit der „Corona“-Epidemie entgegen der Auffassung der Beklagten nicht seine Geschäftsgrundlage. Versicherungsverträge beziehen sich auf künftige Risiken, deren einzelfallbezogene Verwirklichung gerade nicht absehbar ist. Es ist das prägende Merkmal des Versicherungsvertrages, dass nicht die wechselseitigen Leistungen des Versicherungsnehmers und des Versicherers bzw. einer zusammengefasst betrachteten Gemeinschaft und einem Versicherer einander gegenüberstehen, sondern die Prämienzahlungen und die Absicherung vor einem Risiko, dessen Verwirklichung eben begriffsnotwendig ungewiss ist. Wenn der Versicherer mit der von ihm vorgenommenen redaktionellen Umschreibung des Risikos – sei es gezielt, sei es aus Nachlässigkeit – tatsächliche Abläufe bzw. nicht in Betracht gezogene Verwirklichungsvarianten einschließt kann er kaum ernstlich geltend machen, damit sei die Grundlage der Risikoübernahme entfallen.

 

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